Veröffentlicht: 21.05.2022. Rubrik: Nachdenkliches
Plötzlich Urenkel
Es klingelt. Die Klinik hat ihn gebracht, so wie wir es abgesprochen hatten. Ich wusste ja was kommt, ohne abschätzen zu können, was es mit mir machen würde. Heute ist mein Geburtstag.
Ich werde 62 Jahre alt.
40 Jahre des Wartens haben mich geprägt.
Von verzweifelter Hoffnung hin zu hoffnungslosen Zweifeln. Damals wünschte ich mir nichts sehnlicher als das, was gleich passieren wird. Ich habe mit Mutter geweint. Mutter ist nun längst nicht mehr da, was die Situation nicht leichter macht. Wir stehen innen im Haus, mein Sohn rechts und mein Enkel links von mir. Die Tür ist frisch gestrichen, ich möchte, dass alles perfekt ist.
Damals liebten wir uns. Schraubten an Autos. Schauten Filme. Fuhren Ski. Waren eins.
Haben uns lange nicht gesehen, weil sie dich tot machten. Niemand betreute uns, wie auch über so lange Zeit? 2045 hatten sie es aus der Versuchsphase in die Realität zugelassen. Gegen den Krebs, der bis dahin unbesiegbar erschien. Medizinische Maßnahmen, ohne Einbeziehung psychologischer Relevanz.
Vor 4 Jahren fingen sie langsam an, euch zurückzuführen, was sofort erhebliche Probleme mit sich brachte.
"Hey Papp, wie ist er wirklich?" fragt mein Sohn. "Also so wirklich, ohne sentimentale Note."
"Er ist..." ich stocke, weil meine Erinnerung verblasst ist. "Er ist in Ordnung. Nein, er ist toll."
Ich öffne die Tür, Schweißperlen auf der Stirn. Ich habe mein Gedächtnis noch, ihm konnten sie es nicht bewahren.
Der Mann, der davor steht ist 45 Jahre alt, genau so alt, wie zu dem Zeitpunkt, als sie ihn eingefroren hatten. Bevor man seinen Krebs heilen konnte.
"Hey Papa", ich breche weinend zusammen. Mein Sohn springt ein. "Hey, wie geht es? Mein Vater, dem durch die Einfrierphase sein Gedächtnis genommen wurde, antwortet:" Es geht mir gut, ich soll mich hier melden." Er zeigt den Zettel, den meine Mutter vor 40 Jahren unterschrieben hat.
" Ja, das ist schon richtig, komm doch rein"
"Wer seid ihr denn?" aus seinem Mund reicht, um auch meinen Sohn emotional ausser Gefecht zu setzen.
Mein 11 jähriger Enkel rettet den Moment. "Hey Urgroßvater", sagt er zu dem Mann, der jünger ist als sein Großvater und kaum älter als sein Vater". "Komm erstmal rein, ich bin dein Urenkel. Die zwei hier müssen sich noch ein wenig an die neue Situation gewöhnen."
