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1xhab ich gern gelesen
geschrieben 2022 von Georg von Andechs.
Veröffentlicht: 12.10.2023. Rubrik: Grusel und Horror


Das letzte Klassentreffen

Das letzte Klassentreffen


Als meine Tochter heute Morgen durch die Tür kam, ahnte ich sofort, dass sie etwas auf dem Herzen hatte. Es war unverkennbar, denn sie trat fast eine halbe Minute lang nervös von einem Bein aufs andere, bevor sie mit der Sprache herausrückte.
„Papa, ich habe da mal eine Frage an dich. Ich weiß nicht, ob du sie mir beantworten kannst, aber…“ Sie zögerte.
„Na, ganz so schlimm kann es ja wohl nicht sein“, entgegnete ich gut gelaunt. „Es sei denn, du willst mir sagen, dass du das Studium schmeißt und nach Südamerika auswandern wirst.“
„Ach Quatsch“, meinte Rebecca. „Es ist nur… wir haben in der nächsten Woche unser Klassentreffen. Es sind jetzt genau 5 Jahre seit dem Abitur vergangen, und unser damaliger Kurssprecher hat uns alle kontaktiert und zu einem Treffen eingeladen.“
„Ist doch toll“, meinte ich. „Ich finde es prima, wenn die alten Verbindungen nicht so ganz abreißen. Ich habe zu meinen ehemaligen Mitschülern überhaupt keinen Kontakt mehr, und das ist nicht nur schade, sondern ein regelrechter Horror.“
„Ich halte das auch für eine gute Idee, aber… na ja, die Fragen, die wir alle dazu beantworten sollen, finde ich schon ein bisschen komisch. TC will von uns wissen, wer unsere Eltern und unsere Großeltern waren, was sie gemacht haben, wo sie herkommen und so weiter. Also ich finde, dass diese Neugierde doch ein bisschen weit geht.“
„Dem stimme ich absolut zu“, antwortete ich langsam. „Normalerweise würde man bei einem Klassentreffen ja fragen, was der andere in der Zwischenzeit gemacht hat, was er studiert beziehungsweise welchen Beruf er ergriffen hat oder so etwas, anstatt in der Familiengeschichte der anderen herumzukramen. Wer ist dieser TC überhaupt? Ich kann mich nicht erinnern, ihn jemals persönlich getroffen zu haben.“
„Nein, kannst du auch nicht. Er kam erst in den letzten 2 Jahren in unserer Schule, hat sich aber durch Charme und Charisma sehr schnell beliebt gemacht und wurde auch bald zum Kurssprecher unseres Leistungskurses Geschichte gewählt. Du hast weder ihn noch seine Eltern jemals kennengelernt, weil ich zu diesem Zeitpunkt bereits 18 war und ich keinen Elternvertreter mehr brauchte.“
„Naja, du hast dich damals in erster Linie darüber gefreut, dass du niemanden mehr brauchtest, der dir deine Entschuldigungen für die Fehlstunden unterschreiben musste“, grinste ich. „Wo stammte dieser Bursche eigentlich her? Hat er irgendetwas über seine Vergangenheit erzählt?“
„Wenn ich so darüber nachdenke, waren seine Angaben eigentlich ziemlich vage. Er hat nur berichtet, dass sein Vater beim US-Militär gewesen sei, was zu häufigen Versetzungen an verschiedene Standorte in der ganzen Welt geführt hätte. In der Schule war er echt top, obwohl er absolut nicht der Typ des Strebers war. Er war sehr sportlich, besonders in den Leichtathletikdisziplinen und hatte eine unglaubliche Ausdauer. Zudem sah er auf eine wilde Art ziemlich gut aus. Allerdings hat irgendetwas mich davon abgehalten, mich näher mit ihm zu beschäftigen.“
„Das war vielleicht gar nicht mal schlecht. Vielleicht ist dir dadurch eine unangenehme Erfahrung erspart geblieben. Wenn ich dabei an meine eigenen Klassentreffen denke, die wir durchgeführt haben… na, die waren eher gruselig. Bei dem letzten dieser Treffen hat der damalige Organisator sehr ähnliche Fragen gestellt. Das Treffen ist auch nachher richtig eskaliert, so das an eine Wiederholung nicht einmal mehr zu denken gewesen ist. Das ist aber schon etliche Jahre her.“
„Erzähl doch mal Papa! Wann war das denn? Gab es mich da schon? Jetzt lass dich doch nicht so bitten! Ich bin total neugierig!“ Rebecca hatte sich auf die Couch geworfen und die Beine übereinander geschlagen. Es sah nicht so aus, als ob sie gewillt sei, irgendwelche Ausflüchte von mir hinzunehmen und zu gehen, bevor sie die ganze Geschichte gehört hatte. Ich seufzte also ergeben, schloss die Augen und zwang meinen Geist fast zwanzig Jahre zurück.

***

„Du hast einen Brief in der Post“, rief mir Karin von der Tür aus zu. Sie stand im Flur und hatte einen Packen Briefe in der Hand, den sie routiniert durchging und Werbung behände von Rechnungen trennte.
„Was Wichtiges?“ rief ich zurück, da ich gerade dabei war, die neue Soundbar unseres Fernsehers zu installieren und gerade keine Hand frei hatte. Sie antwortete nicht, sondern kam zu mir und wedelte mit einem Briefumschlag, dessen Anblick mich erstaunt die Augenbrauen hochziehen ließ. Das Kuvert war exakt quadratisch und von einem derart dunklen Lila, dass es fast schwarz wirkte. Das einzig Helle auf diesem Briefumschlag waren die offensichtlich mit einem weißen Stift geschriebenen Adresseinträge und der Absender auf der Rückseite, der mich sofort grinsen ließ.
„Ach ich weiß schon was das ist!“, rief ich aus. „Das Schreiben stammt von meinem ehemaligen Klassenkameraden Johnny, und wahrscheinlich ist es die Einladung zu unserem nächsten Klassentreffen. Ist schon lange her seit unserem letzten Meeting, und es ist einiges passiert seitdem. Ich bin mal gespannt, wie viele überhaupt noch kommen können.“
Karin nickte, während ich den Brief aufriss. „Stimmt, du hattest mir erzählt, dass es einige von euch ziemlich übel erwischt hat. Ich glaube, 4 oder 5 sind bei ganz merkwürdigen Unfällen ums Leben gekommen, habe ich recht?“
„Ja, leider“ antwortete ich, während ich die Karte aus dem Umschlag zog und feststellte, dass ich mit meiner Vermutung richtig gelegen hatte. Johnny lud mich zu einem Treffen ein, welches genau eine Woche später um 22:00 Uhr beginnen sollte. Ich schüttelte den Kopf. Manche Menschen ändern sich nie, dachte ich eingedenk der Karte und des merkwürdigen Termins, zog mein Handy hervor, googlete den Begriff Vollmond und schüttelte den Kopf. Natürlich! Es war ja unvermeidbar, dass wir uns an einem anderen als einem Vollmondabend versammeln sollten. Allein schon die Farbe der Karte und meine Kenntnis über Johnny und seine besten Kumpels in unserer Klasse hatten mir gesagt, dass es nicht anders sein konnte.
Karin schnaubte, als sie auf die Karte deutete. „Geschmack hat der Bursche wohl überhaupt keinen, was? Der Wisch sieht eher wie eine Einladung zu einer Beerdigung aus.“
Ich lachte nur und winkte ab. „Johnny ist schon in unserer Schulzeit Begründer der Grunge-Bewegung gewesen. Er hat dort einen Club ins Leben gerufen, der sich ‚Freunde der Unterwelt‘ nannte. Sie liefen die ganze Zeit über nur in schwarzen Klamotten durch die Gegend und trafen sich nachts auf Friedhöfen, aber keine Sorge: schwarze Messen gefeiert haben sie nicht. Das war damals nur ein harmloser Spleen, und nach dem Abitur hat ausgerechnet Johnny angefangen, Medizin zu studieren. Soweit ich weiß, ist er auch nicht Pathologe geworden, sondern Kardiologe.“
„Na da bin ich ja beruhigt“, schnappte Karin. „Was ist denn das für ein Zettel, der da in der Einladungskarte steckt?“
Ich hatte das beiliegende Blatt noch nicht bemerkt und sah jetzt darauf. In einer gestochen klaren Handschrift wurde ich dazu aufgefordert, bis zum Wochenende einen zumindest 3 Generationen umfassenden Stammbaum zu fertigen und zu übersenden, und zwar per Post an eine Postfachadresse.
„Komisch“, murmelte ich und schüttelte den Kopf. Da Johnny aber für ziemlich skurrile Ideen bekannt war, ging ich davon aus, dass er für diesen Abend eines seiner zur Legende gewordenen Spiele vorbereiten wollte und er diese Personendaten dafür brauchte.
Ich hatte mich noch nie mit einem Stammbaum und dessen Erstellung beschäftigt, und nachdem ich mich eine Stunde beschäftigt war, entschloss ich mich, meine Kenntnis über meine Familie erst einmal im Fließtext aufzuschreiben. ich notierte also, dass ich, Thomas von Andechs der Sohn des Brokers Ralf von Andechs und seiner Frau Jenny wäre, welche den Mädchennamen van der Graaf gehabt hätte. Weitere Informationen über sie und Ihre Familie lägen wir nicht vor, da sie bereits bei meiner Geburt gestorben sei. Als meine Mutter hätte ich daher die zweite Frau meines Vaters betrachtet, welche er eine Woche nach meinem dritten Geburtstag geheiratet habe. Von ihr und ihren Eltern so wie meinen Großeltern väterlicherseits konnte ich die Geburtstage und (soweit sie bereits verstorben waren) die Todesdaten angeben. Urplötzlich fiel mir die Erstellung eines grafischen Stammbaums danach wesentlich leichter, und ich begann zu zeichnen, wobei ich das unwichtige Detail meiner biologischen Mutter einfach wegließ.
Ich muss schon sagen, dass ich dem Wiedersehen mit den anderen ziemlich gespannt entgegensah. Da es unter freiem Himmel stattfinden sollte, kleidete ich mich entsprechend und traf einige weitere Vorbereitungen, um mich vor den zu befürchtenden Überraschungen zu wappnen. Schließlich kannte ich Johnnys abstrusen Sinn für Humor.
Auf dem Weg zu unserem Treffen, das in einem kleinen Ort im Hunsrück stattfinden sollte, hielt ich an einer Raststätte und entdeckte dort einen meiner ehemaligen Mitschüler, der ebenso wie ich mit Vornamen Thomas hieß (man nannte uns zu Schulzeiten nur T1 und T2) und genau wie ich einen Kaffee trinken wollte. Wir setzten uns also zusammen an einen Tisch und prosteten uns mit den Tassen zu.
„Hast du das von Frank und Theresa gehört?“, fragte er mich und ich nickte. Natürlich hatte ich das. Die beiden waren unsere Mitschüler und auch Mitglieder des Clubs Freunde der Unterwelt gewesen, aber vor rund einem halben Jahr bei einer Alpentour mit ihrem Auto von der Straße abgekommen und fast 200 Meter tief in eine Schlucht gestürzt. Das was von ihnen übrig geblieben war, hatte nach dem Bericht des ortsansässigen Leichenbeschauers ausgesehen wie eine große Portion Hackfleisch. Die Aufbahrung hatte bei geschlossenen Särgen stattfinden müssen, um der Trauergemeinde diesen Anblick zu ersparen.
„Na klar“, antwortete ich. „Ich bin ja bei der Beisetzung gewesen und habe dort Johnny getroffen, der wohl auch die Todesanzeigen gelesen hatte. Ist das nicht merkwürdig? Mit den beiden sind jetzt fünf unserer ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschüler tot, und alle waren Mitglieder von Johnny‘s Club.“
„Ja, es gibt schon merkwürdige Zufälle“, murmelte Thomas. „Ist aber genauso ein Zufall wie die Tatsache, dass wir beide den gleichen Vornamen haben.“
„Das liegt doch wohl eher daran, dass der Vorname Thomas in unserem Geburtsjahr ganz weit oben in der Liste der populärsten Vornamen stand,“ entgegnete ich. „Wusstest du übrigens, das Johnny bei allen Beerdigungen anwesend war?“
Mein Namensvetter zuckte nur mit den Schultern. „Finde ich nicht überraschend", versetzte er knapp. „Soweit ich weiß, ist die Verbindung zwischen den Klubmitgliedern nie abgerissen, und dann ist es ja nur natürlich, wenn der Vorsitzende an den Beerdigungen der Mitglieder teilnimmt.“
Ich rollte die Augen und nippte an meinem Kaffee. Frank und Theresa waren die letzten gewesen, die das Zeitliche gesegnet hatten. Als ersten hatte es vor drei Jahren Edmund Herzog erwischt, der beim Bergwandern in eine Schlucht gestürzt war und erst Wochen später gefunden wurde. Tatjana Hendrix starb knapp neun Monate später, als sie meinte, die Tiere im Zoo seien Sklaven und müssten unbedingt befreit werden. Das Leopardengehege zu öffnen, erwies sich allerdings als suboptimale Idee. Norman Wessels machte es dagegen gleich richtig und stellte sich einem ICE in den Weg. Ich war gerade im Dienst gewesen und durfte mich am Aufsammeln seiner Einzelteile beteiligen. Eine wenig appetitliche Aufgabe, wie man sich unschwer vorstellen kann.
Wir tranken aus und fuhren gemächlich weiter, und kurz vor unserem Endpunkt führte mich mein Navi von einer Landstraße in einem matschigen Waldweg, dessen Einfahrt ich ohne die technische Hilfe garantiert übersehen hätte. Wieder einmal bedankte ich mich für die Idee, mir einen geländegängigen SUV zuzulegen. Unser Ziel entpuppte sich als eine große Waldhütte im Blockhausstil, um die bereits mehrere PKW und ein größerer Van geparkt standen. Etwas abseits loderte ein Feuer innerhalb einer gemauerten Feuerstelle, um welche insgesamt 14 Baumscheiben mit Sitzpolstern drapiert waren. Ich stieß T1 an und wies auf den Sitzkreis.
„Die Anzahl der Teilnehmer am heutigen Abend kann ich ziemlich genau benennen“, sagte ich lakonisch. Thomas schnaubte nur. „Dafür muss man aber nicht Sherlock Holmes sein, du Superermittler!“
Natürlich, mein Namensvetter musste einfach darüber herziehen, dass ich nach dem Abitur zwar ein Studium begonnen, dies aber abgebrochen hatte und zur Polizei gegangen war. Für mich war es das Richtige gewesen, egal was andere davon hielten. Nicht nur dass der Beruf gut bezahlt wurde; er gab mir zudem auch die Möglichkeit, weitere Ermittlungen in anderer, persönlicher Sache durchzuführen.
Als ich die Tür des Blockhauses öffnete, ertönte ein vielstimmiges Hallo der um einen langgestreckten Eichentisch Sitzenden. Es waren insgesamt 11 Personen, von denen ich die meisten auf den ersten Blick wiedererkannte. Eine Überraschung war für mich der Mann am Kopfende der Tafel, der sich bei unserem Eintreten erhob und mit ausgebreiteten Armen auf uns zukam. Er war grösser als ich ihn in Erinnerung hatte und auch um einiges breiter, was sich allerdings nicht auf seinen Bauchumfang, sondern seine Schultern und die Oberarme bezog.
„T1 und T2 erscheinen gemeinsam, ich lache mich kaputt“ rief er mit dröhnender Stimme und umarmte uns in einer Art, dass ich glaubte, in die Pranken eines Bären geraten zu sein. Ich lächelte ein wenig gequält und bewegte vorsichtig die Schultern, um zu testen, ob er sie mir nicht versehentlich ausgerenkt hätte.
„Wie ich feststellen muss, hast du nicht nur deine anatomischen Kenntnisse perfektioniert, sondern auch sehr viel Zeit in einem Fitnessstudio verbracht“, ließ sich mein Namensvetter Thomas Gonther vernehmen, dem es offensichtlich genauso gegangen war wie mir. Johnny (denn er war es, der uns begrüßt hatte) warf den Kopf in den Nacken und lachte lauthals.
„Meine Berufskollegen spielen meistens Golf. Ich mache es lieber wie die alten Römer, die damals schon ‚Mens Sana in corpore Sano‘ sagten. Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper, das ist meine Devise. Aber jetzt kommt erst einmal herein, setzt euch und esst etwas mit uns, bevor ihr euer Zimmer bezieht. Ich habe euch in Nummer 5 untergebracht. Du weißt doch – Nummer 5 lebt.“ Er grinste uns an und wies zwei freie Stühle direkt links von ihm, auf denen wir umgehend Platz nahmen.
Auf dem Tisch standen mehrere Schüsseln mit Nudeln und Gulasch, und der Appetit, mit dem unsere Tischgenossen das Essen in sich hinein schaufelten, war ein deutliches Indiz, dass es ihnen zu schmecken schien. Johnny, der wie in alten Zeiten in eine schwarze Jeans, ein schwarzes Hemd und schwarze knöchelhohe Stiefeletten gekleidet war, hob überrascht die Augenbrauen, als ich mir lediglich Nudeln auf den Teller häufte und das Gulasch einfach ignorierte.
„Habe gerade meine vegetarische Phase“ murmelte ich kauend, während ich die linke Hand auf den Oberschenkel presste. „Übrigens: wer von den Angemeldeten fehlt eigentlich?“
„Wie kommst du darauf, dass jemand fehlt?“, fragte Johnny mit gerunzelter Stirn. Ich zuckte nur mit den Achseln. „Mag ja sein, dass ich nicht studiert habe, aber ich kann zählen. Draußen um das Feuer sind 14 Plätze eingerichtet, aber wir sind nur 13. Ich bin ja nicht abergläubisch, aber…“
„Du hast nach wie vor ein gutes Beobachtungsvermögen“, erwiderte Johnny gedehnt, „und es stimmt; tatsächlich hat sich Roland Feierabend heute Abend bei mir krankgemeldet. Er meinte, er habe Kreislaufprobleme und wolle deswegen nicht aus Düsseldorf hierher fahren. Da war aber draußen schon alles vorbereitet. Na ja, es gibt schlimmeres. Roland war eh schon früher eine Spaßbremse. Was ist eigentlich mit deiner linken Hand?“
„Eine alte Sportverletzung mit Nervenschäden. Halb so schlimm, aber lästig“, antwortete ich, und er zeigte mir den hochgereckten rechten Daumen, bevor er sich wieder setzte. Während des Essens drehten sich die Gespräche um die zu erwartenden Themen: den beruflichen und familiären Werdegang, Hobbies und beginnende Alterserscheinungen. Gerade als ich überlegte, ob die Teilnahme eine wirklich gute Idee gewesen sei und warum zum Teufel Johnny so erpicht auf Genealogie gewesen war, stand unser Gastgeber auf und klopfte an sein fast leeres Glas, sodass sich ihm alle Augen zuwandten.
„Liebe Freunde lasst euch nicht davon irritieren, dass eure Handies nicht funktionieren; hier in den Pampas hast du einfach kein Netz. Aber wir brauchen die Dinger eh nicht, und es passt großartig zum Ambiente. Langsam erlischt draußen das Tageslicht, und die Schatten der Nacht ziehen herauf. Ihr wisst, dass ich immer ein Fan des wohligen Schauderns gewesen bin. Lasst uns also nach draußen treten und ums Feuer gesellen, wo jeder von uns eine Gruselgeschichte erzählen soll, bei der die eigenen Vorfahren die Hauptrolle spielen sollen. Die beste der Geschichten werde ich prämieren. Möge der Schein des Vollmonds euch inspirieren und eurer Fantasie Flügel verleihen. Um euch in Stimmung zu bringen, sollen Wein und Bier in Strömen fließen!“
Da letzteres auch schon während des Essens geschehen war, erhoben sich alle johlend und verließen den Raum. Ich selbst nahm meine Tasche und brachte sie in unser Zimmer, wo ich mich kurz umzog und für die kommende Nacht vorbereitete. Der Abend schien so zu verlaufen wie von mir erwartet. Als ich zum Feuer kam, war Johnny mitten in seiner Geschichte.
„..und ohne Federlesens packte der riesige Werwolf das Schaf und biss ihm mit einer einzigen schnellen Bewegung seines Kiefers die Kehle durch. Das angstvolle Blöken erstarb in einem Röcheln, und dem herbeigeeilten Schäfer bot sich ein Bild des Grauens. Dahingemetzelt lagen seine Schafe und Hunde da, und er sah sich Auge in Auge mit der bösartigen Kreatur, nur bewaffnet mit seinem Hirtenstab und dem festen Vorsatz, der Bedrohung seines Dorfes ein Ende zu bereiten. Als die Bestie ihn sah, kauerte sie sich zum Sprung zusammen und fletschte die blutigen Fangzähne. Sie schien allerdings ein wenig überrascht zu sein, dass der kleine Mensch vor ihr nicht floh, sondern den Stab in beide Hände nahm und so etwas wie eine Verteidigungsposition einnahm. Als das Untier sprang, zog der Hirte am vorderen Ende seines Stabs, das wie eine Hülle wegglitt und eine lange glitzernde Klinge sichtbar werden ließ. Er rammte den hinteren Teil in den Boden und kauerte sich zusammen, wobei er den Werwolf nicht aus den Augen ließ und die Flugbahn seines Sprungs berechnete, so dass die Kreatur sich mit seinem Stab selbst aufspießte.
Durch den Schwung krachte der gepfählte Werwolf gegen den Hirten, der Mühe hatte, von den Klauen und Fängen nicht verletzt zu werden. Mühsam arbeitete er sich unter dem Tier hervor, bei dem die Verwandlung nach dem Tode bereits einsetzte. Mit großem Entsetzen sah der Hirt zu, wie sich aus den Konturen des Werwolfs die Gestalt seines eigenen Bruders herausschälte. Der Hirt, bei dem es sich um mein Urgroßvater gehandelt hat, sank in die Knie und weinte.“
Johnny verstummte. Er hatte während seiner Erzählung eine ganze Flasche Wein geleert und erhob sich jetzt schwankend und aufstoßend. „Ich glaube, ich gehe jetzt mal für kleine Königstiger“, sagte er mit leichtem Lallen und torkelte in Richtung der Hütte. Danach sahen wir ihn für geraume Zeit nicht mehr wieder. Ich fragte mich, wie er jetzt die beste Geschichte prämieren wollte.
„Jetzt bin ich dran“, meinte T1 und begann mit einer längeren Geschichte über seine Großmutter, bei der es sich angeblich um eine Hexe gehandelt haben sollte. Nach ihm erzählte Stefanie Kanzler von ihrem dämonischen Onkel und Peter Schardin von seiner Schwester, die angeblich von einem Vampir gebissen worden sei und sich selbst in einen Blutsauger verwandelt habe, bevor sie von einem Nachfahren der Familie van Helsing gepfählt wurde. Bei dieser Geschichte wurde ich hellhörig, konnte jedoch anhand einiger unstimmiger Einzelheiten feststellen, dass es sich um ein reines Phantasiegebilde gehandelt hatte. Ich nippte also an meinem Radler und sah mich um, nachdem Peter seine Geschichte beendet hatte und ebenfalls aufs Klo gehen wollte.
Super, dachte ich. Nach Peters Abgang war ich der Einzige, der noch am Feuer saß. Alle anderen hatten sich zwischenzeitlich auf die Toilette begeben und waren dort mutmaßlich zu dem Schluss gelangt, doch lieber ins Bett zu gehen. Oder es war etwas anderes geschehen, über das ich besser nicht nachdenken wollte. Ich blickte sinnierend in die kleiner werdenden Flammen und wandte mich erst um, als ich hinter mir Schritte hörte.
„War mir schon klar, dass du der letzte hier am Feuer sein würdest“, meinte Johnny gut gelaunt und setzte sich neben mich. Seine Trunkenheit schien verflogen. „Hast du eigentlich schon eine Geschichte erzählt? Wenn nicht, höre ich dir gern zu“. Er lehnte sich zurück und stützte sich mit den Armen auf dem Boden ab, während er die Beine lang ausstreckte. Ich sah ihn an, faltete die Hände und überlegte.
„Okay, dann sei es so. Was ich jetzt erzähle, ist die reine Wahrheit. Es ist keine Fantasie, keine Fiktion und kein Hirngespinst. Es wird allerdings mit einigen Legenden aufräumen, die in erster Linie durch zweit- oder drittklassige Hollywoodfilme entstanden sind.
Vampire gibt es tatsächlich. Das ist kein Irrglaube und auch kein Produkt der Fantasie von Bram Stoker; dieser hat nur die ihm vorliegenden Fakten zusammengeführt und zu einem Roman verarbeitet, den er nach dem ersten und Fürsten aller Vampire benannte – Dracula.
In den Filmen und auch im Roman gelingt es letztendlich, Dracula zu vernichten. Es hat allerdings danach noch weitere Filme gegeben, in denen der oberste aller Blutsauger wieder auftauchte, und über Jahrzehnte hinweg haben sich die Menschen gefragt, wieso er wieder erstehen konnte. Tatsächlich gibt es eine Erklärung, und die ist nicht durch den Wunsch nach noch mehr Geld, das ein weiterer Film einspielen würde, begründet.
Vor fast einem Jahrhundert kam mein Großvater mütterlicherseits dahinter, dass ein bestimmtes Ritual vollzogen werden musste, um Dracula wieder erwecken zu können. Hierzu mussten 13 miteinander in Beziehung stehende Menschen das Herz eines Freundes in einer Vollmondnacht verspeisen. Zudem musste einer dieser 13 selbst ein Vampir sein, und zwar ein Vampir, der schon mindestens 5 seiner Freunde gebissen und getötet hatte. Anschließend muss er auch die 12 anderen töten, und den letzten im Schein des Vollmonds. Dabei wird er sich wahrscheinlich keine Gedanken machen, weil er genau weiß, dass seine Opfer nach der Wiederkehr Draculas als Vampire wiedererstehen können.“
Ich schwieg eine Weile, während Johnny langsam aber sicher große Augen bekam. „Aha, und wer war dein Vorfahre?“
„Einer meiner Lieblingsfilme ist ‚Spiel mir das Lied vom Tod‘, und das weißt du. Besonders denke ich da an den Satz, den Charles Bronson zu Henry Fonda sagt: ‚manche Menschen sterben vor Neugier‘. Die Pointe schon vor Ende der Geschichte zu bringen, macht doch keinen Spaß.“
Ich konnte sehen, dass sich seine massigen Schultern nach meinen Worten etwas entspannten. Er nickte mir zu und forderte mich so auf, meine Geschichte fortzusetzen.
„In den ganzen Filmen werden mehrere Methoden genannt, einen Vampir zu vernichten. Allerdings sind die meisten davon schlicht und ergreifend ausgedacht. Über die Jahrhunderte hat sich herausgestellt, dass Vampire tatsächlich in der Lage sind, Sonnenlicht zu ertragen; es tötet sie nicht, sondern schwächt sie nur. Und ihre Eckzähne sind nicht immer lang: erst wenn sie in den Angriffsmodus wechseln, werden sie länger. Ist fast so wie bei den Klauen von Wolverine.
Fast in jedem Film wird gesagt, dass Knoblauch vor Vampiren schützt. Das stimmt sogar in einem gewissen Maß. Im ersten ‚Blade‘-Film mit Wesley Snipes wurde wahrscheinlich eher zufällig die richtige Lösung genannt: wenn ein Vampir mit einer ausreichenden Ladung Knoblauch konfrontiert wird, erleidet er einen anaphylaktischen Schock, an dem er wie jeder normale Mensch auch sterben kann. Allerdings braucht Knoblauch einen Moment, bis es seine Wirkung entfaltet, und ein Vampir, dem eine Ladung Knoblauch verpasst wird, hat ausreichend Zeit, genügend Antihistaminika einzuwerfen, um die tödliche Wirkung zu vermeiden. Wie man sieht, hat die moderne Medizin auch ihre Schattenseiten.
Was nicht allgemein bekannt ist: Silber und insbesondere silberne Kugeln helfen nicht nur gegen Werwölfe, sondern auch gegen Vampire. Allerdings muss diese Kugel sehr gut gezielt sein und entweder das Herz oder das Hirn das Vampirs zerstören. Andernfalls ist der Vampir in der Lage, die betroffenen Körperstellen schlicht und ergreifend auszuscheiden und die Wunden mit körpereigenem Material sehr schnell zu schließen. Pfählen funktioniert gar nicht. Das ist auch nur eine Anspielung auf den historischen Vlad Dracul, der Transsylvanien gegen die Türken verteidigte und seine Gefangenen bestialisch aufspießte. Einfach nur psychologische Kriegsführung vom Feinsten.
Dass man Vampire ertränken kann, muss auch in den Bereich der Fabel verbannt werden. Da der Homo nocturnus nicht unbedingt auf Sauerstoff angewiesen ist, kann er den Versuch ihn zu ertränken in aller Seelenruhe abwarten, wieder auftauchen und sein blutiges Werk weiterführen. Was allerdings funktioniert, ist die Vernichtung durch Feuer.
Ob die Legende der Unsterblichkeit von Vampiren stimmt, kann nicht mit Sicherheit bestätigt oder widerlegt werden. Sicher ist jedoch, dass sie erheblich langlebiger sind als der Homo sapiens. Mein Urgroßvater tötete einmal einen Vampir, der angab, über 450 Jahre alt zu sein und noch von Fürst Dracula beim Fall Konstantinopels selbst zum Vampir gemacht worden zu sein.
Richtig dargestellt hat Stoker auch, dass ein Biss nicht reicht, um einen Menschen zu transformieren. Es ist wie eine Vergiftung, und ein mehrfacher Biss ist notwendig, um ein ausreichendes Maß an den Botenstoffen zu injizieren, welche die Umwandlung der Zellen des Opfers vornehmen. Kann der Vampir sich also nicht zurückhalten und tötet sein Opfer mit dem ersten Biss, weil der Blutdurst zu groß war, erfolgt keine Auferstehung.
Und etwas anderes ist noch überaus interessant. Tötet man einen Vampir, zerfallen alle von ihm oder ihr zu Vampiren gemachten Menschen sofort zu Staub. Ich habe dies im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit bei der Polizei schon einige Male erlebt. Eine Person wurde als vermisst gemeldet, und bei der Überprüfung ihrer Wohnung fand ich nur einen mit Staub bedeckten Haufen Kleidung. Leider hat es nur Auswirkungen auf eine Generation. Die durch einen später zu Staub zerfallenen Vampir transformierten Nachtwandler existieren weiter. “
Ich leerte meine Flasche Radler, während Johnny aufstand und mich gespannt ansah, während sich seine Fäuste langsam ballten. Doch ich war mit meiner Geschichte noch nicht am Ende und fuhr fort.
„Seuchen und Kriege waren schon immer die besten Nahrungsquellen für die Vampire. In einer Pandemie werden nur die wenigsten Toten tatsächlich obduziert und nach möglichen Bissspuren untersucht. Darüber hinaus sind Vampire ja nicht dumm. Man muss sein Opfer nicht unbedingt beißen, um das Blut aus ihm heraus zu saugen. Es reicht, wenn man ihm eine genügend große Verletzung beibringt und das heraus strömende Blut trinkt. Und in einem Krieg werden so viele Menschen getötet und verstümmelt, dass niemand auf die Idee kommen könnte, einen im Gefecht getöteten Soldaten auf Spuren von Vampirismus zu untersuchen. Tatsächlich besteht der begründete Verdacht, dass etliche militärische Auseinandersetzungen der letzten 200 Jahre nur in Gang gebracht wurden, um den Blutdurst der Vampire zu stillen. Wenn man es so sieht, dürften beide Weltkriege für sie ein Fest gewesen sein. Also ist es kein Wunder, wenn ein Präsident wider alle Vernunft einen Krieg anzettelt. Er ist entweder selbst ein Vampir oder Adept eines solchen.“
Johnny hatte den Kopf schief gelegt und wollte etwas sagen, doch ich kam ihm zuvor, indem ich aufstand und mich streckte, bevor ich stehend fortfuhr.
„Doch kommen wir jetzt zu unserer aktuellen Situation. Ich weiß nicht, wer dich transformiert hat und wann dies geschehen ist, aber die Zeichen sind eindeutig. Als ich hier ankam, bemerkte ich einen Audi Q7 mit dem Kennzeichen D-RF 2305. Vielleicht hättest du Rolands Wagen nicht stehen lassen sollen, aber wahrscheinlich hattest du keine Zeit ihn wegzufahren, bevor der nächste Besucher eintraf. Dein Pech, dass ich in den letzten Wochen einige Male mit Roland Tennis gespielt habe und den Wagen kenne.
Und das Schicksal unserer Klassenkameraden dürfte feststehen. Wahrscheinlich liegen sie in ihren Betten, und auf den ersten Blick dürften sie friedlich schlafen. Es ist mir aber nicht entgangen, dass du als erster unseren Kreis verlassen hast und nicht zurückkehrtest. Du hast auf sie gewartet, sie getötet und ihre Leichen unauffällig abgelegt. Aber du hast einen Fehler gemacht: ich habe das Gulasch verschmäht, in dem du das Herz Rolands verarbeitet hast.“
„Richtig, und deshalb lebst du noch“, fauchte Johnny. „Du musst es nämlich noch essen, aber dafür werde ich sorgen. Und vor allem lebst du noch wegen meiner Neugier. Ich will wissen, wer du bist!“
„Nun…“, sagte ich gedehnt und machte zwei langsame Schritte rückwärts, „würde es dich überraschen, wenn ich der Familie van Helsing entstammen würde?“
„Das ist unmöglich!“, schrie Johnny. „Die van Helsings sind ausgelöscht! Abraham van Helsing, der Feind des Fürsten der Finsternis starb kinderlos, und die Nachkommen seines Bruders Benjamin wurden mit Hilfe der Nazis im KZ Flossenbürg liquidiert! Mein Meister war dort, und er hat es mir erzählt!“
„Du bist gut informiert“, lächelte ich grimmig. „Aber nicht gut genug. Natalie van Helsing war sich der Anwesenheit eines Vampirs bewusst. Sie war sich auch im Klaren, dass er die Oberhand hatte und versuchte gar nicht erst, ihn zu vernichten. Sie überlebte, indem sie ihre Tätowierung mit der einer Verstorbenen vertauschte. Schmerzhaft, aber es hat funktioniert. Nach dem Krieg heiratete sie Theodor van der Graaf, und sie bekamen eine Tochter namens Jenny, meine leibliche Mutter. Sie starb bei meiner Geburt, doch sie hatte vorgesorgt. An meinem 21. Geburtstag erhielt ich den Brief eines Anwaltes, der mir ihr Vermächtnis, nämlich die gesammelten Aufzeichnungen der Familie van Helsing übergab.
Hast du dich nicht gewundert, als ich kurz darauf mein Medizinstudium abbrach und zur Polizei ging? Das passte einfach hervorragend zusammen; ob man Verbrecher jagt oder Vampire, die Menschheit wird dir danken!“
„Du warst das?“, flüsterte Johnny. „Du hast in den letzten Jahren unser Volk dezimiert? Hast du eine Ahnung, wie viele von uns du getötet hast?“
„Nicht getötet“, verbesserte ich. „Ihr seid ja schon tot, oder besser: untot. Also mache ich es wie die Blade Runner: ich versetze euch in den endgültigen Ruhestand. Und wenn du die Zahl wissen willst: es waren 57, dazu kommen noch die von ihnen Transformierten, die danach zu Staub zerfielen.“
Johnny fletschte die Zähne, bei denen die Eckzähne jetzt sichtbar länger wurden. „Dann ist es an mir, die Familie van Helsing zu vernichten. Das ist doch ein zusätzlicher Bonus zu der Erneuerung des Fürsten, und er wird mir sicher sehr dankbar dafür sein.“
„Schön langsam, Ionel, noch brauchst du mich“, erwiderte ich gemessen. Johnny hob überrascht die Augenbrauen.
„Ja, ich kenne deinen wirklichen Namen“, fuhr ich fort. „Ionel Tomarescu, geboren 1969 im ehemaligen Kronstadt in Siebenbürgen. Du kamst 1974 mit deinen Eltern nach Deutschland, und dein Vater war auch ein Vampir. Allerdings war nicht er es, der dich transformierte. Sonst wärest du schon nicht mehr da. Es gibt ein ehernes Gesetz bei euch Blutsaugern, dass ihr euch nicht an der eigenen Familie satttrinken dürft.“
„Mein Vater… er verging vor drei Jahren! Warst du das?“ Johnnys Augen waren mittlerweile rot vor Blut, doch die waren nicht die einzigen Anzeichen dafür, dass er vor Wut kochte.
„Ich hatte das Vergnügen“, antwortete ich mit stiller Genugtuung, während ich meinen Gegner nicht aus den Augen ließ. Wut ist noch nie ein guter Ratgeber gewesen, und meine Strategie hatte schon häufig Erfolg gehabt. So auch dieses Mal.
Mit einem schrillen Wutschrei stürzte Johnny vorwärts, um sich auf mich zu stürzen. Ich wusste, dass ich seiner geballten Kraft nicht würde Widerstand leisten können und sprang nach links, während ich mit dem rechten Arm eine zuckende Bewegung ausführte.
Die an meinem rechten Unterarm festgeschnürte Spritze entlud sich und hüllte den Angreifer in einen feinen Nebel. Als der Dunst auf sein Gesicht und seine Augen traf, verwandelte sich der Schrei der Wut in ein schmerzerfülltes Gebrüll. Johnny torkelte an mir vorbei und wischte sich mit dem Hemdärmel über das Gesicht.
„Knoblauchsud“, stöhnte er, griff in die Tasche und holte eine Pillenschachtel heraus, aus der er sich zwei Tabletten einwarf. „Du hast recht mit allem, was du gesagt hast. Aber wieso benutzt du es, obwohl du weißt, dass ich dagegen gewappnet bin?“
„Schau mal in den Spiegel, Blutsauger“, provozierte ich ihn. „Deine Augen sind rot und tränen, und du hast Schwierigkeiten beim Atmen. Oh, ich weiß, eigentlich brauchst du keinen Sauerstoff, aber du nutzt ihn als zusätzliche Energiequelle. Gib es zu: eigentlich bist du eine Null! Eine Schande für eure Rasse!“
Noch einmal warf sich Johnny auf mich, aber seine Bewegungen wirkten im Vergleich zur ersten Attacke langsam und schwerfällig. Diesmal wich ich nach rechts aus, bog die linke Hand nach außen, woraufhin die Muskeln im Unterarm das dort festgeschnallte Katapult auslösten und drei silberne, in Weihwasser getränkte Pfeile in die Brust des Anrennenden jagten.
Johnny brach augenblicklich zusammen, aber er war noch nicht besiegt, da keiner der Pfeile sein Herz zerstört hatte. Da er mit der bloßen Hand die Pfeile nicht herausziehen konnte, tastete er nach seinen Hemdschößen, um sie aus der Hose herauszuziehen, und die Zeit, die er hierfür benötigte gedachte ich zu nutzen.
Aus einem Futteral an meiner Hüfte zog ich eine große Injektionsspritze von der Art hervor, welche für Injektionen bei Großtieren wie Kühen oder Pferden verwendet werden, und rammte sie dem am Boden liegenden Johnny ins Bein. Der Effekt wurde augenblicklich sichtbar. Das Stöhnen erstarb ebenso wie das rote Glühen der Augen, und an seine Stelle trat ein Ausdruck der Verwirrung.
„Was… was hast du mit mir gemacht?“, flüsterte der Mann zu meinen Füßen, dessen Gesicht langsam zu verfallen begann. Ich hielt einen ausreichenden Abstand, da auch sterbende Vampire noch immer gefährlich sein konnten.
„Ich habe dich mit einer Kaskadenstrategie besiegt. Meine ersten Verteidigungsmaßnahmen dienten nur dazu, dich zu schwächen, und dann hast du es selbst auch noch getan.“
„Wie? Wieso?“, stammelte Johnny, dessen Muskeln inzwischen unkontrolliert zu zucken begonnen hatten. Mein Lächeln, mit dem ich ihn betrachtete, hatte nichts Triumphierendes an sich, sondern war eher traurig.
„Ich habe dir einen allergischen Schock verpasst, und du reagiertest, wie ich es erwartet hatte. Du nahmst Antihistaminika ein, und Vampire reagieren darauf genauso wie Menschen – sie werden müde. Dadurch hatte ich keine Schwierigkeiten, dir die geweihten Silberpfeile in die Brust zu jagen, und als du hilflos auf dem Boden lagst, injizierte ich dir kolloidales Silber. Auch wenn du es schaffen solltest, die Pfeile zu entfernen und das infizierte Gewebe abzustoßen – die Injektion verteilt sich gerade in allen deinen Zellen und zerstört sie, und der Prozess ist irreversibel.“
„Wieso konnte ich es nicht spüren? Das Knoblauch, das Silber… ich hätte es bemerken müssen“, presste mein sterbender Gegner zwischen den Zähnen hervor. Ich breitete fast wie entschuldigend die Arme aus.
„Mein ganzes Equipment ist mit einer feinen Bleischicht ummantelt. Das schützt nicht nur vor Röntgenstrahlung, sondern auch vor den feinen Sinnen des Homo nocturnus. Auch etwas, was ich aus den Schriften meiner Mutter gelernt habe.“
„Das tut so weh“, stöhnte Ionel und wand sich in Krämpfen. „Bitte, mach mir ein schnelles Ende!“
„Hast du denn Mitleid mit deinen Opfern gehabt?“, fragte ich hart. „Hast du ihr Leiden verkürzt? Wohl kaum. Aber ich bin nicht wie du. Ich bin ein Mensch, und Menschen sind zu allem fähig, sogar zu Mitgefühl.“
Und mit diesen Worten zog ich ein langes, silbernes Messer hervor und rammte es Ionel ins Herz. Er zuckte noch zweimal, ein Blutschwall drang aus seinem Mund, dann lag er still.

***
„Es waren noch einige Dinge im Nachhinein zu erledigen“, beendete ich meinen Bericht. „Alle meine Klassenkameraden waren tatsächlich abgeschlachtet worden. Johnny – oder besser: Ionel – hatte sie zurück in ihre Betten gelegt und ihnen die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen, sodass ihre Verletzungen nicht zu sehen waren. Rolands Leiche fand ich übrigens im Vorratskeller, an einem Haken aufgehängt wie eine Schweinehälfte im Schlachthaus. Er war buchstäblich filetiert worden, und die inneren Organe fehlten. Ich muss dir wohl nicht erzählen, was Johnny damit gemacht hatte.
Ich habe seine Leiche beziehungswese das, was von ihr übrig war mit Benzin übergossen, ihn in sein Auto gesetzt, dieses gegen einen Baum gesteuert und den Wagen in Brand gesetzt. Danach bin ich zur nächsten Polizeistation gefahren und habe das Massaker gemeldet.“
Rebecca war bei der Schilderung blass geworden. „Und was haben deine Kollegen gesagt? Haben sie nicht vermutet, dass du vielleicht..., ähm, ich meine, der Anschein sprach ja wohl gegen dich!“
„Da hast du verdammt Recht, Kleines. Es waren ein paar ungemütliche Tage, bis sich herausgestellt hatte, dass Roland zu einem Zeitpunkt ermordet wurde, an dem ich noch in der Raststätte Kaffee getrunken habe.
Natürlich hab ich nichts von meiner Anwesenheit während des Klassentreffens erzählt. Ich sagte ihnen, dass ich mich aufgrund einer Fahrzeugpanne verspätet hätte und erst eingetroffen wäre, als alles vorbei war. Das erste was ich gesehen hätte wäre der brennende Wagen mit Johnny darin gewesen. Im Endeffekt haben die Ermittler des LKA Hessen das Szenario so rekonstruiert, dass Johnny durchgedreht sei, die anderen niedergemetzelt hätte, danach bei seinem Fluchtversuch die Kontrolle über seinen Wagen verloren hätte…“
„… und gegen den Baum gerast sei“, beendete Rebecca den Satz. „Offenbar hattest du den Tatort gut manipuliert.“
„Das war nicht das erste und auch nicht das letzte Mal“, seufzte ich. „Man kann nüchtern denkenden realitätsbezogenen Menschen (und das sind Polizisten nun mal in der Regel) nichts von Vampiren erzählen. Dann würden sie ernst nicken, zum Telefon greifen und dich in eine Gummizelle sperren. Habe ich erlebt, als ich nach meinem ersten Kill versucht habe, den zuständigen Beamten die Wahrheit zu sagen.“
„Wie viele Blutsauger hast du inzwischen erledigt?“, fragte Rebecca gespannt, und ich seufzte. „Inzwischen 122“, antwortete ich. „Es war nicht leicht. Manche waren echt zäh, und nicht immer ging es ohne Blessuren ab. Ich habe mir etliche Knochen gebrochen, Muskeln und Bänder gerissen, aber gebissen wurde ich nie. Nur langsam, aber sicher werde ich zu alt für diesen Scheiß. Es wird Zeit, dass die nächste Generation der van Helsings übernimmt, denn die Vampire sterben leider nicht aus.“
Rebecca sah mich mit weit aufgerissenen Augen an, dann nickte sie, stellte aber dann doch eine Frage. „Sag mal, wie erkennt man eigentlich, dass man es mit einem Vampir zu tun hat? So was haben sie doch nicht auf der Stirn tätowiert, oder?“
„Natürlich nicht. Jeder der van Helsings hat einen untrüglichen Instinkt, und der manifestiert sich in einem körperlichen Tic. Bei mir ist es beispielsweise mein linker Ringfinger, der in Gegenwart eines Vampirs zu zucken beginnt.“
Karin nickte und wollte noch etwas sagen, doch sie wurde gestört. Die Tür öffnete sich, und Emma, welche eine Kusine meiner vor einem Jahr verstorbenen Frau war und sich seitdem um unser leibliches Wohl kümmerte, trat ein. „Guten Tag, ihr beiden! Alles in Ordnung bei euch?“, fragte sie, und ich war schon drauf und dran zu antworten, als Rebecca mir vors Schienbein trat und mich mit großen Augen ansah.
Emma war kürzlich drei Wochen lang krank gewesen und hatte dies mit einer Virusinfektion begründet. Jetzt zeigte mir eine Tochter unter dem Tisch verstohlen ihre rechte Hand.
Wenn auch seitenverkehrt zuckte ihr Ringfinger simultan zu meinem.

© 2022 by Georg von Andechs

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