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8xhab ich gern gelesen
geschrieben 2024 von Federteufel.
Veröffentlicht: 26.03.2024. Rubrik: Unsortiert


Die hinkende Paula

Die junge Frau kam leicht hinkend auf mich zu. Sie streckte die Hand aus und fragte: „Haste maln Euro?“ Dabei blickte sie an mir vorbei als fürchte sie, ich könnte in sie hineinsehen. Ihr hennarotes Haar hing in unordentlichen Strähnen herab; das Gesicht glich einem Kirchenfenster: Knallrote Lippen; schwarze, gezogene Brauen; türkisfarbene Lidschatten; hellgraue Augen. Doch ihr Blick war nicht klar; er wirkte auf mich irgendwie verstört, als habe sie gerade etwas Schreckliches erlebt. Sie trug einen flauschigen Street-Hoody mit der Aufschrift „MOIN“. Darunter guckte ein kurzes Röckchen hervor, so kurz, dass ihre dünnen langen Beine endlos erschienen. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich unsere Tochter, die etwas im gleichen Alter war, vor mir, und Mitleid ergriff mich. Obwohl ich nicht zu spontaner Wohltätigkeit neige, zog ich ein Zwei-Euro-Stück hervor und hielt es ihr hin. Sie griff sofort zu; in ihren Augen blitzte ein Funken Dankbarkeit auf, erlosch aber sofort wieder. Jetzt drehte sie sich um und bückte sich; das Röckchen rutschte weiter hoch, und ich sah den Zwickel eines schwarzen Schlüpfers. Ein älteres Ehepaar kam vorbei; ich hörte, wie die Frau im Vorbeigehen „schamlos“ sagte.

Nachdenklich ging ich weiter. Was, grübelte ich, hat diese junge Frau auf die andere Seite der Gesellschaft gebracht? Welcher Schicksalsschlag hat ihr die Selbstachtung genommen, die Fähigkeit, sich zu schämen? Ein belastetes Elternhaus, falsche Freunde, eine unselige Veranlagung? Geheimer, bohrender Kummer? In diesem Moment kam mir der Tonfall, in dem die ältere Frau das Wort „schamlos“ ausgesprochen hatte, unangemessen, ja menschenverachtend vor. Wie viele Menschen mit den besten Voraussetzungen und den besten Talenten, dachte ich, haben alle Gründe, sich zu schämen, und sie schämen sich nicht? Da ist die Politikerin, die öffentlich eines schweren Plagiats überführt wird. Schämt sie sich? Nein. Sie strebt ein höheres Amt an. Da ist der Bankier, der sein Institut in die Pleite treibt. Schämt er sich? Nein. Er überlässt den Scherbenhaufen dem Steuerzahler und kassiert Millionen. Da ist der Präsident, der sein Land mit falschen Versprechungen betrügt. Schämt er sich? . . . Und so weiter, und sofort. Die Zeitungen sind voll von solchen Katastrophen. Offenbar ist die Unfähigkeit, sich zu schämen, ein Zeichen unserer Zeit.

Vor diesem Hintergrund kam mir die Frau mit den langen Beinen fast wie ein Engel vor. Wofür sollte sie sich auch schämen? Dass sie Schicksal und Veranlagung so geformt hatten wie sie war? Es schien mir unwahrscheinlich, dass sie der Gesellschaft großen Schaden zufügen könnte, dazu sind Menschen ihresgleichen zu unbedeutend.

Zwei Tage später ging ich wieder durch diese Straße. An der Ecke dröhnte die Szenekneipe; davor lümmelten einige finstere Typen und rauchten. Die Frau war nirgends zu sehen. Ich sprach einen der Männer an.
„Wat für ne Frau?“, brummte er und musterte mich argwöhnisch. „Ach du meinst die hinkende Paula! Die jibs nich mehr.“
Ich steckte den 5-Euro-Schein wieder weg. Wie gern hätte ich ihn der hinkenden Paula in die Hand gedrückt und den Funken Dankbarkeit genossen. Hätte mir dabei eingebildet, die Welt für einen winzigen Augenblick glücklicher gemacht zu haben.
Doch jetzt war es zu spät.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Jens Richter am 26.03.2024:

Hallo Federteufel,
Deine Geschichte hat mich sehr nachdenklich gemacht.
Sehr schön geschrieben und gern gelesen.
Viele Grüße von Jens




geschrieben von Ernst Paul am 29.03.2024:

Eine bewegende Geschichte. Sehr gut geschrieben. Gern gelesen.




geschrieben von Federteufel am 01.04.2024:

Die Vorlage zu dieser Geschichte ist eine bettelnde junge Frau aus der Nachbarchaft, die zunächst normal ging, dann hinkte, schießlich an Krücken ging und jetzt vermutlich gestorben ist. Sie war mir völlig fremd; doch wenn ich an sie denke, ergreift mich ein Grauen vor der teuflischen Macht des Drogenkosums.
Über eure Kommentare habe ich mich gefreut.

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