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geschrieben 2004 von Markus Luthardt (Lutti).
Veröffentlicht: 12.11.2023. Rubrik: Fantastisches


Der Drachenflüsterer

Wie eine gigantische Manifestation des Bösen fiel der Schatten des Drachen vom Himmel auf das marschierende Orkheer, das an diesem Morgen wie an den Tagen zuvor aufgebrochen war, um in diesem abgelegenen Landstrich zu brandschatzen. Aber etwas an diesem Morgen war anders als an allen anderen Morgen zuvor. Das mehr als hundert Krieger zählende Heer der marodierenden Orks marschierte zwar wie üblich in der Begleitung des roten Drachenweibchens Sharzara durch die raue Wildnis, um bei Gelegenheit, das nächstgelegene Menschendorf zu überfallen, aber das feuerrote Echsenwesen, das hoch oben am Himmel flog, schien heute irgendwie völlig außer Kontrolle geraten zu sein. Sharzara hörte sonst nur auf die Befehle von Odis, dem mächtigsten der Orkkrieger, der dieses Heer anführte. Doch Odis fluchenden Befehle schienen von dem Drachen alle überhört zu werden. Es schien, als ob das rote Drachenweibchen von einem plötzlichen Wahnsinn befallen war. Sie flog wirre Schlangenlinien, brüllte wie verrückt auf und stieß dann einen Schwall glühenden Drachenfeuers aus, der sich nur knapp wenige Meter über den Köpfen der verwirrten Orks auflöste.
„Der Drache muss wahnsinnig geworden sein!“, rief einer der Orkkrieger in Odis Richtung. Odis, der als einziger in seinem wilden Heer die Drachensprache beherrschte, versuchte erneut Sharzara wieder zur Vernunft zubringen, während er verzweifelt mit ansah, wie seine von Furcht ergriffenen Krieger zu beiden Seiten Schutz in den umliegenden Büschen suchten. Nur Odis selbst und ein paar der tapfersten Orks hielten noch die Stellung.
„Sharzara, höre auf mich, denn ich bin der große Drachenflüsterer!“, brüllte Odis gen Himmel empor. „Wir wollen das nächste Dorf überfallen und gegebenenfalls in Schutt und Asche legen, doch dafür brauchen wir einen feuerspeienden Drachen, der zu allem bereit ist!“
Als Antwort stiegen aus Sharzaras Nüstern dunkle Rauchwölkchen auf. Odis und jene drei Orks, die noch bei ihrem Häuptling standen, mussten augenblicklich zur Seite springen, da im nächsten Moment ein Feuerball aus dem Maul des Drachen genau an der Stelle einschlug, wo sie zuvor gestanden hatten. Odis und die drei anderen Orks schlugen sich zu ihren Kameraden in die Büsche.
„Es hat keinen Sinn, Sharzara ist wirklich vom Wahnsinn befallen!“, fluchte der Orkhäuptling. „Wir können den Drachen bestimmt nur durch ein Opfer besänftigen. Teilt euch schnell in alle Richtungen auf und sucht nach einem Menschlein. Und wenn ihr kein Menschlein findet, dann bringt wenigstens ein Tier oder irgendwas anderes was lebt hierher!“
Den Befehl ihres Anführers befolgend, machten die Orks sich, ohne zu zögern daran, in alle Richtungen aufzuteilen, um in den umliegenden Wäldchen und Buschwerken nach einem geeigneten Opfer zu suchen. Nur Odis selbst verweilte auf der Stelle, wobei er es keinen Augenblick wagte den Himmel unbeobachtet zu lassen. Zum Glück machte der Drache keinerlei Anstalten seine Orkkrieger zu jagen, die er auf Opfersuche geschickt hatte. Stattdessen drehte Sharzara im Flug wieder ihre wirren Schlangenlinien.
Odis war so mit dem Beobachten des roten Drachens beschäftigt, dass er erschrocken herumwirbelte, als hinter ihm in dem Busch wieder ein paar seiner Orks aufkreuzten. Einer von ihnen hielt eine zappelnde Gestalt in ihren Händen, die nicht viel größer als 1 Meter war und deren Haut wie die der meisten Orks grünlich war.
„Wir haben diesen herumstreunenden Goblin gefunden, Herr“, sagte der Ork mit der zappelnden Gestalt in den Händen.
„Ausgezeichnet“, erwiderte Odis freudestrahlend und klatschte in die Hände.
Als der Goblin merkte, dass die Orks gar nichts gutes mit ihm vorhatten, versuchte er dem Krieger, der ihn festhielt, in den Magen zu boxen. Dieser blieb jedoch unbeeindruckt von der Gewaltanwendung seines Gefangenen.
„Bei allen Göttern des Chaos!“, krächzte der Goblin, mit einer Stimme, die sowohl aufgebracht als auch ängstlich klang. „Was wollt ihr Hauerzähne von mir?“
Odis hob die Arme. „Ganz ruhig mein Kleiner, wir wollen dir nichts böses“, log der Orkhäuptling und versuchte dem Goblin Freundschaft vorzutäuschen. „Sag uns erst einmal deinen Namen.“
Odis Täuschung schien für den Moment Erfolg zu haben, da der Goblin zum ersten Mal mit zappeln aufhörte und den großen Ork überrascht ansah. „Knibbel“, antwortete er kurz.
Der Orkhäuptling konnte sich ein bösartiges Grinsen nicht länger verkneifen. „Nun, Knibbel“, fuhr Odis schließlich in einem feierlichen Tonfall fort. „Du bist für etwas höheres bestimmt. Unser Drache ist nämlich ein klein wenig verstimmt. Ein kleiner Goblin als Zwischenmahlzeit wird ihn hoffentlich wieder milde stimmen.“
„Was!“, schrie Knibbel und begann wieder in dem festen Griff des Orks nach Leibeskräften zu zappeln.
„Los fesselt den Goblin und werft ihn dem Drachen vor“, befahl Odis.
Inzwischen waren noch mehr Orks hinzugekommen. Einer von ihnen trug ein besonderes robustes Seil bei sich, mit dem ein halbes Dutzend Orks den sich wehrenden Goblin, solange fesselten, bis mit Ausnahme seines spitzohrigen Kopfs sein ganzer Körper verschnürt war. Dann rollten sie ihr hilfloses Opfer aus den Büschen, auf den dahinterliegenden Weg, über den der Drache noch immer seine Schlangenlinien zog.
„Sharzara!“, rief Odis den Drachen wieder an, ohne selbst auf den Weg hinauszutreten. „Sieh wir bringen dir ein Opfer dar, um uns mit dir zu versöhnen!“
Dank Odis wurde Sharzara auf das ihr zugedachte Goblinopfer sogleich aufmerksam. Nachdem der rote Drache einen Augenblick lang flügelschlagend im Flug verweilte, kam er im Senkflug hinab. Sharzaras mächtige Drachengestalt landete nur wenige Meter vor dem gefesselten Goblin auf dem Weg. Sie zog ihre riesigen Flügel ein, während ihre Nüstern die Witterung ihres Opfers aufnahmen.
Knibbel musste bei dem Anblick des riesigen Drachens hart schlucken.
„So ein netter Drache“, begann Knibbel in seiner Verzweiflung zu stammeln. „Ihr macht Euch bestimmt nichts aus so einem mageren kleinen Burschen wie ich es bin. Man sagt sich, dass Goblinfleisch sehr zäh, fast ungenießbar sein soll.“
Unbeeindruckt von dem verzweifelten Flehen des Goblins schnellte die rechte Klauenpranke des Drachen vor und durchschnitt mit nur einer Bewegung die Fesseln des Opfers.
„Bitte, bitte, fresst mich nicht!“, flehte Knibbel noch einmal, bevor er realisierte, dass die fest verschnürten Fesseln von ihm abgefallen waren. Blitzartig sprang Knibbel auf und versuchte so schnell ihn seine Beine nur tragen konnten, vor dem Drachen zu fliehen, während aus den umliegenden Büschen Anfeuerungsrufe an seine Ohren drangen.
„Los schnapp ihn dir, Sharzara!“, krächzten manche Orks. „Deine wandelnde Zwischenmahlzeit läuft vor dir fort!“, setzte Odis lauthals nach. „Er will sein Schicksal, dir als Opfer zu dienen nicht akzeptieren! Lass dir diese Blasphemie nicht gefallen!“
Angespornt von den Anfeuerungen der Orks, setzte Sharzara dem wegrennenden Goblin nach. Ihre rechte Klauenpranke holte aus und schnappte sich Knibbel wie einen lästigen Floh. Die panischen Schreie des Goblins gingen unter, als er von der Drachenpranke eingeschlossen wurde. Sharzara führte Knibbel langsam zu ihrem spitzen Maul, das sich öffnete, ganz so als ob sie gerade beabsichtigte eine köstliche Gaumenfreude zu sich zunehmen. Als Sharzaras Pranke sich wieder um den Goblin öffnete, stürzte Knibbel in das geifernde Maul des Drachen.
Ein Schwall Speichel floss Knibbel entgegen, als er an der langen Zunge des Drachen Richtung Gaumen hinabrutschte. Er ruderte dabei wie wild mit den Armen herum, bis er sich an einem der spitzen Reißzähne festhalten konnte, die sich in dem Drachenmaul aneinanderreihten, doch der Zahn ließ bei dem Gewicht des Goblins nach. Er löste sich nach einer kurzen Weile aus dem Zahnfleisch und Knibbel wurde mit ihm in den Rachen des Drachen gerissen. Urplötzlich wurde der Goblin von einem Sog erfasst, der ihn gefolgt von einem Speichelstrudel wieder in die entgegengesetzte Richtung katapultierte. Das riesige Maul öffnete sich und Knibbel wurde mit samt dem Drachenzahn nach draußen geschleudert. Unter den verwirrten Augen der Orks landete er hart, aber unverletzt auf dem Weg, wo er zuvor vor Sharzara geflohen war. Knibbel brauchte einige Sekunden, bis er wieder zu Sinnen kam und begriff, dass der Drache ihn ausgespuckt hatte. Durchnässt von dem Speichel des Drachen richtete Knibbel sich auf und blieb verwundert dreinblickend sitzen.
Sharzaras zornige Gesichtszüge entspannten sich auf einmal. Es war, als ob ein Schmerz von dem Drachenweibchen abgefallen war.
„Endlich, sie sind weg!“, freute Sharzara sich, die zum ersten Mal seit langem wieder in der Gemeinsprache sprach. „Ich spüre diese schrecklichen Zahnschmerzen nicht mehr.“
Sharzaras Klauenpranke legte sich diesmal ganz sanft um Knibbels Körper. Der Drache hob den Goblin ein Stück zu sich empor.
„Ihr habt mich von den Zahnschmerzen befreit, die mich in den Wahnsinn trieben“, fuhr das Drachenweibchen an Knibbel gewandt fort. „Von nun an erkenne ich Euch als meinen neuen Herrn an. Befehlt mir. Ich werde tun was auch immer Ihr mir sagt.“
„So“, sagte Knibbel und grinste freudestrahlend über sein ganzes Gesicht. „Fürs erste, verspeist den Anführer der Orks.“
Nachdem das Drachenweibchen den ersten Befehl ihres neuen Herrn vernommen hatte, setzte es ihn hoch oben auf ihr gehörntes Haupt, wo Knibbel sich festhalten musste, um nicht herunterzufallen. Dann erhob Sharzara sich ein paar Meter weit flügelschlagend in die Luft, wo sie auf den Busch zuhielt, aus dem sie Odis Stimme zuletzt vernommen hatte. Mit ihren Klauen riss sie das Buschwerk in zwei Hälften, hinter dem sich mehrere zitternde Orks versteckt hielten. Unter ihnen befand sich auch Odis.
„Wage es nicht!“, schrie der Orkhäuptling in seiner Panik. „Ich bin der Drachenflüsterer, du musst tun was ich dir befehle!“
Unbeeindruckt schnappte eine Klauenpranke des Drachen nach Odis und schleuderte den schreienden Ork hoch in die Luft, wo er ihn mit seinem Maul auffing und bei lebendigem Leib verschlang. Einige der anderen Orks, die nun auch um ihr Leben fürchteten, sahen sich gezwungen zu handeln.
„Lang lebe Knibbel!“, riefen sie wie aus einem Mund. „Knibbel ist unser neuer Herr und Meister, denn er ist der wahre Drachenflüsterer!“
Der Goblin wagte es kurz mit einer Hand das Drachenhorn loszulassen, an dem er sich krampfhaft festhielt und ballte diese zu einer Faust.
„Ich bin der Drachenflüsterer!“, krächzte Knibbel aus vollem Hals. „Was drückt ihr euch da unten so faul in den Büschen herum? Folgt meinem Drachen und mir! Wir wollen heute schließlich noch ein paar Menschendörfer plündern!“
So marschierte das Orkheer unter neuer Führung weiter, neuen bösen Taten entgegen.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Jens Richter am 12.11.2023:

Hallo Lutti,
als Fan von Tolkien muss ich Dir gestehen, dass Dir Dein Werk aus vergangenen Zeiten sehr gut gelungen ist.
Ich habe es von Anfang bis Ende gern gelesen.
Es ist gut geschrieben und sehr spannend.
Gerade das unerwartete Ende war sprichwörtlich das Salz in der Suppe.👍
Ich fände es gut, wenn Du Deine Geschichte (oder auch Märchen) in die Novemberaktion verschiebst.
In dem Sinne beste Grüße aus dem Sächsischen, Jens

P.S.
Bei mir sind es auch gerade meine alten Arbeiten, die aus dem Schubkasten ins Freie drängen.




geschrieben von Nordlicht am 13.11.2023:

Hallo Lutti,
ich habe deine Geschichte auch sehr gerne gelesen. Habe die ganze Zeit überlegt, welchen Grund das Verhalten des Drachen hat.
@ Jens: ich finde die Geschichte ist in der Kategorie Fantastisches gut aufgehoben.




geschrieben von Lutti am 14.11.2023:

Danke ihr Drachenfans und immer schön fantastisch bleiben!




geschrieben von Charisma am 20.04.2024:

eine feine Kombination - sauber gezeichnete Bilder aus dem klassischen Fantasy-Repertoire, eine kleine Prise Humor und ein überraschender Schluss, der die Leserin sehr nachdenklich zurück liess.

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