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5xhab ich gern gelesen
geschrieben von Horst Radmacher.
Veröffentlicht: 17.03.2023. Rubrik: Unsortiert


Der wahre Jakob

Der erste Arbeitstag nach Ende der Elternzeit fühlt sich gut an. Es war eine schöne und prägende Erfahrung, soviel Zeit mit seinem Kleinkind verbringen zu dürfen. Aber nun nach zwei Jahren Freistellung vom Schuldienst freut sich der Deutschlehrer Jakob Steinmann wieder auf seine Aufgaben als Lehrer. Es gibt eine Änderung für ihn, Jakob muss den Deutschunterricht einer zwölften Klasse übernehmen. Das Kollegium am Städtischen Gymnasium ist überwiegend das gleiche geblieben, bis auf zwei neue Kollegen, beide wesentlich jünger als er. Schon bei deren Vorstellung kann Jakob es sich nicht verkneifen, deren auffälligen Sprachgebrauch in 'Denglisch' ironisch zu kommentieren, er der Sprachästhet. Sein älterer Kollege, Dr. Friedrich Bruhn, promovierter Sprachwissenschaftler der Fachrichtung Parömiologie, der Lehre von Sprichwörtern und Redewendungen, mag diesen neuen Sprach-Mischmasch genau so wenig. Statt Germanistik auf Lehramt wäre es bei Jakob beinahe auch diese philologische Studienrichtung geworden. Die beiden Lehrer verbindet der gepflegte Umgang mit der deutschen Sprache. Und so kommentiert der Alt-Lehrer 'Fiete' Bruhn hocherfreut die spöttischen Bemerkungen seines jüngeren Kollegen in Bezug auf 'moderne' Sprache der Neuen im Kollegium: „Da ist er ja endlich wieder, der wahre Jakob.“ Alle lachen. Die beiden Junglehrer nicht, sie blicken verunsichert in die Runde; sie kennen den Hintergrund nicht. Das 'linguistische Traum-Paar' hatten sie vorher nicht erlebt.

Zu Jakobs Leidwesen hat er es sofort zu Beginn des Deutschunterrichts massiv mit sprachlichen Unarten seiner neuen Schüler zu tun. Diesen jungen Leuten einen angemessenen Umgang mit der deutschen Sprache angedeihen zu lassen, scheint fast unmöglich. Neben der weit verbreiteten Unsitte des Denglisch hat er es mit einer stattlichen Sammlung aus dem jugendtypischen Sprachgebrauch zu tun. Dazu eine geballte Häufung flacher Sprüche, die der Belustigung dienen sollen. Der Deutschunterricht in dieser zwölften Klasse belastet ihn bald stark. Er kommt mit seinem Versuch, den Gebrauch eine gehobene Sprache zu vermitteln, nicht gut voran. Der reine Unterrichtsstoff wird gerade noch angenommen, weil dieser für das irgendwann anstehende Abitur benötigt wird. Aber sonst?

Seinem Kollegen Bruhn bleibt diese Unzufriedenheit nicht verborgen. Gemeinsam überlegen sie, wie das Problem zu lösen wäre. Fiete Bruhn rät davon ab, die Sprüche der Klassen-Clowns und Sprücheklopfer mit anspruchsvollen Redewendungen zu kontern, obwohl er da einiges anzubieten hätte. Tiefsinniges ist hier ebenso wenig angebracht wie extrem Flaches. Auch wäre es kontraproduktiv, sich auf das Feld der Jugendsprache zu begeben. So etwas wirkt schnell peinlich; denn Schüler wollen sich ja gerade durch ihr spezielles Sprachverhalten von den Erwachsenen abgrenzen. Und so kommen sie auf die Idee, den Jugendlichen im Deutschunterricht eine Auszeit von der hehren deutschen Sprache angedeihen zu lassen. Eine neue Art des Unterrichts findet ab jetzt statt, in einer Parallelsprache; dies verschafft einen hohen Aufmerksamkeitswert bei den Schülern.

Zu Beginn der nächsten Deutschstunde verteilt Jakob einen Schriftsatz in einer scheinbar unsinnigen Sprache, deren Übersetzung er gemeinsam mit den Schülern vornimmt. Es ist 'Nadsat', in dem er ein Gedicht vorträgt. Er kennt diese Idiome aus dem Roman von Anthony Burgess, 'Clockwork Orange' und war als Jugendlicher von Erzählung und gleichnamigem Film hellauf begeistert. Statt sich auf die Niederungen des sogenannten 'Jugendsprech' zu begeben, holt er die Schüler ab, er hebt sie auf die Ebene eines ganz speziellen Sprachformats. In den folgenden Wochen wird 'Nadsat' im Deutschunterricht dieser Schulklasse zum Äquivalent des Deutschen.

Nach kurzem Zögern ziehen die Lernenden engagiert mit. Sie erleben das Fach Deutsch in einem Format, das in ihrem Umfeld nur sie beherrschen und sie damit als etwas Besonderes erscheinen lässt. Der Lehrer Steinmann spannt auf diese Weise zusätzlich einen Bogen zur Literatur. Doch zunächst folgen Übungen in 'Nadsat'. Es werden Sprüche in Angriff genommen, die einige Schüler häufig zum besten geben, immer auf der Jagd nach einem Lacher. „Ich bin nicht dumm, ich bin nur im negativen Bereich schlau.“ oder „Rechts ist so ähnlich wie links, nur auf der anderen Seite“, gehören zum Standard-Repertoire dieser Pennäler, klingen im deutschen Gebrauch jedoch hohl und abgedroschen; im 'Nadsat' aber erscheinen sie kunstvoll. Was eine Sprachvariante doch so alles bewirken kann. Auf jeden Fall wird das Verhältnis der Schüler zum Unterrichtsfach Deutsch ein anderes.

Und es ist ein weiterer wichtiger Schritt vollzogen, hin zum besseren Verständnis eines philosophischen Romans. In diesem geht es um nicht weniger als um den Gegensatz von 'Gut und Böse' - eines der großen Themen der Weltliteratur. Mit Begeisterung schauen sich Schüler und Lehrer dazu später Stanley Kubricks Film 'A Clockwork Orange' gemeinsam an. In der anschließenden Besprechung sowie bei literarischen Interpretationen von weiteren Romanen und Dramen staunen die Schüler, zu welcher Ausdrucksweise sie inzwischen fähig sind. Das 'Nadsat' wird allmählich ausgeschlichen. Auch ihre früheren Redewendungen, die sie im alltäglichen Umgang oft benutzten, werden anders, fast philosophisch.

Als einer der 'Lautsprecher' der Klasse, bislang bekannt für Sprüche auf unterirdischem Niveau, mit „Jeder Mensch hat ein Brett vor dem Kopf, es kommt nur auf die Entfernung an “, für Lacher sorgt, kontert der Lehrer: „Wer im Glashaus sitzt, sollte zum Scheißen in den Keller gehen“. Nicht unbedingt oberstes Regal, aber Jakob Steinmann zeigt, selbst er ist sprachlich geschmeidiger geworden und kann auch anders. Die Schüler erkennen dies sofort und erwidern vielstimmig, fast synchron: „Das ist aber auch nicht gerade der wahre Jakob.“

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Onivido kurt am 17.03.2023:
Kommentar gern gelesen.
Hola Horst, sehr geschmeidig, der Jakob. Was fuer ein Glueck fuer ihn, dass er nicht Mathematik-, oder Physiklehrer ist. Wie koennte er seinen Schuelern nahelegen, dass sie zur Ermittlung des Resultats fuer 6x6 kein Handy benoetigen. Habe "nadsat"gegoogelt. Unglaublich mit was Menschen ihre Zeit vergeuden.
Saludos//Onivido




geschrieben von Horst Radmacher am 17.03.2023:

Hola Onivido,
danke für deine Anmerkungen. Stanley Kubricks Film 'A Clockwork Orange' habe ich vor langer Zeit gesehen und bin nachhaltig davon beeindruckt. Das Thema, Umkehr von Gut und Böse, war selten aktueller als heute. Pikanterweise basiert die Jugendsprache 'Nadsat' im Wesentlichen auf Idiomen der russischen Sprache. Hatte der Autor Anthony Burgess schon 1962 gewusst, dass Russisches irgendwann einmal für etwas sehr Spezielles stehen könnte?
Saludos,
Horst




geschrieben von jürgen am 17.03.2023:
Kommentar gern gelesen.
Gute Geschichte, ".....soll zum Scheißen in den Keller gehen!" - Einmalig! LG

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