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geschrieben von Horst Radmacher.
Veröffentlicht: 06.04.2023. Rubrik: Unsortiert


Traumhandwerker

Familie Ohlers lebte in der Komfortzone des Mittelstands. Das Familienoberhaupt, Helmut Ohlers, fühlte sich in seiner beruflichen Tätigkeit als Außendienstleiter eines Versicherungsunternehmens zufrieden. Seine Freizeit füllt er überwiegend mit Basteln und Werken. Eine zusätzliche Freude bereitete ihm dabei sein Sohn Leon, der diese handwerklichen Vorlieben des Vaters teilt. Was dieser bereits in ganz jungen Jahren mit Werkzeug und Bauteilen zustande brachte, war einfach phänomenal. Es war dabei nicht nicht nur das handwerkliche Geschick, das ihn auszeichnete. Technische Zusammenhänge zu erkennen und Probleme zu lösen, das konnte Leon wie kaum ein Zweiter. Dies setzte sich später in der Anwendung digitaler Techniken fort. Ebenfalls vom Vater übernommen hatte Leon dessen Leidenschaft für den Besuch von Baumärkten. Vater und Sohn konnten dort stundenlang auf Entdeckungsreise gehen - auch ohne konkrete Kaufabsicht.

Durch diese häufigen Expeditionen durch die Welt der Baumärkte hatte sich Leon ein enormes Wissen über die dort in riesiger Zahl angebotenen Artikel angeeignet. So war Ihm bereits früh aufgefallen, dass ein sehr großer Teil des Warenangebots Importe aus China waren. Für den kleinen Jungen eine spannende Beobachtung, derart viele Gegenstände des täglichen Gebrauchs mit diesen exotischen Zeichen zu sehen. Auf diese Art knüpfte er die Verbindung zu einer Vorliebe seiner Großmutter Luise, die seit vielen Jahren Stammgast in einem China-Restaurant war, mit dessen Seniorchef sie sich angefreundet hatte und ihm beim Erlernen der deutschen Sprache behilflich war – mit Erfolg. So wurde der alte Kang-Chi einer der wenigen Chinesen, die das deutsche 'R' einwandfrei aussprechen können und nicht wie sonst üblich auf das 'L' ausweichen müssen; ausgiebig geübt hatten sie dies mit dem Begriff 'Versicherungsvertreter'. Leider konnte die alte Dame irgendwann ihrer Passion, chinesisches Essen, nicht mehr wie gewohnt frönen, sie litt unter Arthrose an den Händen, die es ihr unmöglich machte, mit Essstäbchen zu speisen. China-Food mit Löffel und Gabel lehnte sie kategorisch ab, das wäre ein schlechter Stil, so Oma Luise. Zu ihrer großen Freude hatte Enkel Leon ihr daraufhin eine praktische Hilfe konstruiert: für die von Arthrose deformierten Hände maßgeschneiderte Fingerlinge. Diese wiesen an den Auflagepunkten speziell geformte Polster auf, so dass sie die Essstäbchen mit wenig Kraftaufwand zur eleganten Speiseaufnahme benutzen konnte. Bald war Luise beim chinesischen Essen wieder so virtuos wie früher; selbst einzelne Erbsen und Erdnüsse konnte sie wieder problemlos 'waidmännisch' fassen.

Durch Omas Vorliebe für diese Speisen war das Reich der Mitte bei den Ohlers schon immer ein Thema gewesen, dennoch verblüffte Leons Ankündigung, Sinologie studieren zu wollen. Alle hatten fest mit einer technisch-naturwissenschaftlichen Ausbildung gerechnet, gerätselt wurde eigentlich nur welches Fach. Der junge Abiturient verfolgte sein Ziel aber konsequent und schloss das Studium an der Universität Heidelberg mit dem Master ab. Darauf folgte ein Jahr der Weiterbildung in China, an der Shangdong Universität in Jinan. Leons Plan war es, später für deutsche Unternehmen im Chinahandel beratend tätig zu werden – ein Bereich mit enormen Potential. Aber dazu sollte es nicht kommen.

Das Leben als Student in China stellte für Leon zunächst die erwartete Herausforderung dar. Er hatte sich aber schnell an die Lebensweise in seiner neuen Umgebung gewöhnt und fand rasch Anschluss an eine Gruppe einheimischer Studenten, die ihn zwar als exotisch empfanden, aber seine vorausschauende Art an Probleme heranzugehen, sehr schätzten. Durch die Familie seiner Freundin Shemmi lernte Leon viel aus dem authentischen Alltagsleben des Landes. Besonders mit deren Großvater, Hao Jin, verstand er sich ausgezeichnet. Dieser war ein Tüftler alter Schule, der vor vielen Jahren die Armbanduhr für Linkshänder erfunden hatte. Der alte Herr fand aber auch die Herausforderungen der neuen Techniken höchst spannend und verfolgte mit Interesse die verborgene Forschungsarbeit der Studentengruppe um seine Enkelin Shemmi und deren Freund Leon.

Und diese war, zusätzlich zur Tätigkeit an der Universität, auf einem höchst sensiblen Forschungsgebiet im Bereich der menschlichen Spezies tätig. Das, was im amerikanischen Silicon Valley als Künstliche Intelligenz Furore machte, war für diese Jungforscher in China eine lahme Ente ohne großes visionäres Potential. Selbst die hier im Lande vorgenommenen Eingriffe in den Bauplan des Menschen zur Schaffung eines humanoiden Klons galt ihnen als zu konventionell, zu nah an der 'Methode Dr. Frankenstein'.

Diese hellen und furchtlos forschenden Geister um Shemmi und Leon Ohlers waren einer Vision gefolgt und hatten so den energetischen Ursprung der menschlichen Träume gefunden. Sie fanden bestätigt, dass Träume zwar überwiegend in der Schlafphase stattfinden, aber dort nicht zwingend für die Regeneration notwendig sind. So hatten sie neuro-elektrische Rezeptoren isoliert, die bei nicht veränderter Impulsfrequenz scheinbar unsortiert senden. Doch bei genauerem Hinsehen war ein System zu erkennen, das einem kryptischen Sudoko glich. Und dieses hatte Leon entschlüsselt.

Als Ergebnis der Untersuchungen stellten sie fest, dass man über die Rezeptoren aus Traumsequenzen Emotionen erzeugen kann, um so charakteristische Merkmale des menschlichen Wesens zu variieren. Unglaublich. Diese Forscher hatten nicht weniger als den Ursprung und damit den Beweis über die Existenz und Beschaffenheit der menschlichen Seele gefunden. Für sie eine bedeutendere Erkenntnis als Einsteins Weltformel.

Alle Ergebnisse dieser brisanten Forschung wurden zunächst analog dokumentiert und später digital verschlüsselt. Leons Aufgabe war es, dieses auszuführen. Am letzten Forschungstag hatte er für sich nach Feierabend noch eine Extra-Schicht drangehängt und eine spezielle Traumsequenz seziert, und zwar die eines Albtraums. Und was er dort erblickte, verstörte ihn, er konnte es nicht fassen, welche Art von Menschenseele auf diese Weise erschaffen werden konnte – eine grauenvolle Erkenntnis.

Leon kopierte sämtliche Ergebnisse auf einen USB-Stick und löschte alle Verläufe. Die jungen Forscher waren zu weit gegangen; mit so etwas sollte und durfte die Wissenschaft nicht umgehen. Mit dem Stick in der Tasche machte er sich auf den Weg, um dies mit seinen Freunden zu besprechen. Kurz vor Erreichen des Treffpunkts kam sein E-Mobil von der Straße ab und versank nahe der Biegung eines Flusses in dessen dunkler Tiefe – mit ihm das Geheimnis um die Seele des Menschen.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Christelle am 09.04.2023:
Kommentar gern gelesen.
Streifzüge durch Baumärkte, handwerkliches Geschick und eine Oma, die dem Jungen Leon das Reich der Mitte näherbringt. Das sind die Komponenten, die zur späteren Forschung führen. Das Ergebnis ist so erschreckend, dass Leon alle Verläufe löscht, auf einen USB-Stick lädt, den aber mit ins Grab nimmt.
Was wäre gewesen, wenn Leon nicht tödlich verunglückt wäre? Oder er wäre auf der Straße oder einem Feld gefunden worden, wo man auch den USB-Stick entdeckt hätte?

Es klingt alles so echt, als hätte es so passieren können.LG




geschrieben von Horst Radmacher am 09.04.2023:

Ja, Christelle, hier würde tatsächlich die populäre Frage passen: „Was wäre gewesen, wenn?“... Danke für deinen Beitrag. HG




geschrieben von jürgen am 09.04.2023:
Kommentar gern gelesen.

Hallo Horst,
ich denke, bei dem Forschungsdrang der Menschen, wird dies geschehen. Nicht heute und nicht morgen. Vielleicht in 500 Jahren, ich weiß es nicht.
Nur was ich weiß ist, dass sich die Mächtigen dieser Ergebnisse bedienen um wie immer die Menschheit zu unterwerfen.
Leon tat gut daran, die Ergebnisse zu löschen.
Wieder eine gute Geschichte von Dir.
LG Jürgen




geschrieben von Horst Radmacher am 09.04.2023:

Danke, Jürgen. Ich mag diese Art technischer Entwicklung gar nicht zu Ende denken, besonders nicht in den Händen der Mächtigen. Was da noch kommen mag, kann nur gruselig sein. Ich hoffe, der 'Point of no return' ist noch nicht überschritten worden und eine Entscheidungsumkehr noch möglich... HG




geschrieben von Gari Helwer am 11.04.2023:
Kommentar gern gelesen.
Wieder eine schöne Geschichte, Horst, mit dem bekannten "Erzählbogen" zum Eigentlichen. Den Stick, glaube ich, braucht's nicht - die Abgründe der Seele erschaffen sich stets aufs Neue, aus sich heraus... LG




geschrieben von Horst Radmacher am 11.04.2023:

Danke, Gari. Ich glaube auch, das mit der Seele regelt sich auf natürliche Art - da muss niemand manipulieren. HG

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