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3xhab ich gern gelesen
geschrieben 2024 von Ernst Paul.
Veröffentlicht: 01.10.2024. Rubrik: Satirisches


Die Jagd nach der verlorenen Zeit

Als Hans Markus Riesenhuber die 50 überschritten hatte, verflog die Zeit mit einem Tempo dahin, das ihm unheimlich war.
Früher, in seiner Jugend, verflossen die Jahreszeiten gemächlich. Ob nun Frühling, Sommer, Herbst oder Winter. Er konnte sie ausgiebig genießen, doch jetzt hat er Probleme. Kaum beginnt eine Jahreszeit, ist sie auch schon vorbei. Eine Jahreszeit dauerte für ihn so lange wie eine Netflix-Serie. Kaum hat er sich hineingefühlt, schon ist sie vorbei. Dabei hatte er alles im Griff: Kalender, Planer, Zeitmanagement-Apps, alles Hilfen für ihn, um seinen Tages- und Monatsablauf optimal zu planen. Er war durch organisiert bis auf die letzte Minute des Tages.

SatirepatzerSatirepatzerWarum vergeht dann die Zeit so schnell, fragte er sich. Es muss doch eine Ursache haben, wer mir Zeit stiehlt. Die Zeit ist doch eine unverwüstliche Kraft. Sie ist immer da. Die Zeit kann nicht abgeschüttelt werden und am Ende, ironischerweise, tut sie das, was sie immer tut: Sie vergeht.
.
Hans Markus Riesenhuber beschloss, diesem Phänomen auf den Grund zu gehen. Er wollte verlorene Zeit zurückgewinnen. Zumindest wollte er herausfinden, wer ihm die Zeit stahl. Wie jeder rational denkende Mensch ging er in die nächstgelegene Buchhandlung und kaufte Ratgeber, die ihm versprachen, die Zeit anzuhalten, zu verlangsamen oder zumindest irgendwie sinnvoller zu nutzen.
»Zeitmanagement für Anfänger«, »Lebe im Hier und Jetzt« und »Entschleunigung leicht gemacht« stapelten sich bald auf seinem Nachttisch. Doch anstatt die Zeit zu dehnen, wie es ihm versprochen wurde, beschleunigten sich die Tage nur noch weiter. Allein die Einführung eines neuen Tagesplans mit 15 verschiedenen Zeitmanagement-Techniken kostete ihn eine Woche.
Hans Markus Riesenhuber merkte, dass es so nicht weiterging. Wenn er schon keine Zeit zurückgewinnen konnte, dann wollte er wenigstens herausfinden, wer für dieses rasende Zeitgefühl verantwortlich war. Also rief er beim Amt für Zeitangelegenheiten an. Schließlich musste es doch eine Behörde geben – wir leben schließlich in Deutschland, dachte Hans Markus Riesenhuber
Die Dame am anderen Ende der Leitung klang überrascht, als sie hörte, was Herr Riesenhuber wollte.
»Die Zeit verlangsamen? Na, da sind Sie bei uns richtig! Wir haben eine spezielle Abteilung für chronische Zeitbeschleunigung.«
Herr Riesenhuber war erleichtert. Endlich würde sich jemand um sein Problem kümmern. Zwei Wochen später stand er in einem tristen Büro. Vergilbte Biedermeiertapete an den Wänden und eine Uhr, die rückwärtslief. Auf dem Schreibtisch des Sachbearbeiters türmten sich Akten – alle mit der Aufschrift »Verlorene Zeit«.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte der Mann, der so aussah, als wäre er selbst schon in den 80ern stehen geblieben.
Herr Riesenhuber legte sein Anliegen dar, woraufhin der Beamte in seinen Unterlagen kramte. »Ach, das ist ein ganz normaler Fall, meinte er schließlich, in Ihrem Alter passiert das vielen. Das liegt daran, dass Ihr Gehirn weniger Dopamin ausschüttet, wodurch die Routine schneller abläuft. Aber keine Sorge, wir können Ihnen helfen.«
Herr Riesenhuber war gespannt. Würde er eine magische Pille bekommen? Eine Zeitmaschine?
»Sehen Sie«, fuhr der Beamte fort, »Sie müssen mehr Langeweile in Ihr Leben lassen. Ziehen Sie die Minuten in die Länge! Nehmen Sie doch einfach mal an einem dreistündigen Zoom-Meeting teil, in dem niemand die Agenda kennt. Oder, noch besser: Warten Sie einfach mal 45 Minuten auf einen Bus, der ohnehin nie kommt.«

Hans Markus Riesenhuber war enttäuscht. Das war nicht die Lösung, die er sich erhofft hatte. Aber der Beamte bestand darauf. »Glauben Sie mir, das wirkt Wunder. Sobald Sie sich wieder so richtig langweilen, wird die Zeit langsamer. Sie müssen einfach üben.«

Hans Markus Riesenhuber kehrte in seinen Alltag zurück und versuchte es mit Langeweile – so richtig gelang es ihm aber nicht. Die Zeit raste weiter, trotz endloser Bürokratie und sinnloser Warteschleifen.
Am Ende resignierte er, nahm es gelassen und kam zu der Erkenntnis:
Wenn die Zeit so schnell vergeht, muss ich mich weniger lange über nervige Dinge ärgern.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von rubber sole am 02.10.2024:
Kommentar gern gelesen.
>Ernst Paul:

Gut zu wissen, dass Zeit kein Produkt von Maschinen ist, und dass sie auch nicht wie Gas, Wasser oder Strom aus der Leitung kommt, ein materieller Handel damit auszuschließen ist – sie ist einfach da und fließt. Niemand hat Zeit, keiner kann sie besitzen, das macht sie unfassbar wertvoll. Ergänzend dazu die Erkenntnis, da existiert niemand auf einer Metaebene, der an den Stellschrauben der Zeit dreht. Schön, dass H. M. Riesenhuber zum Schluss seinen zeitlichen Idealzustand gefunden hat. Gute Geschichte, Ernst.

l.g.r.s.




geschrieben von Bad Letters am 03.10.2024:
Kommentar gern gelesen.
Der Alltag Ernst Paul, ist häufig ein ewiger Kreislauf und weil man mit dem älter werden meist immer weniger neues erlebt, scheint der Kreislauf sich zu beschleunigen. Raus aus festgefahrenen Mustern, kann das Leben wieder spannend machen. Lesenswert in Szene gesetzt!

MfG
Bad Letters


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