Veröffentlicht: 26.04.2025. Rubrik: Menschliches
Turbo-Heidi
Heidi hatte es bereits bei ihrer Geburt eilig. Ganze 45 Minuten brauchte sie, um das Licht der Welt zu erblicken. Mit nur 11 Monaten sprach sie ganze Sätze und erkundete auf flinken Füßchen ihre Umgebung.
Heidi war und blieb, ihr ganzes Leben lang, eine von der „Schnellen Truppe“, was sich auch bei ihrem Redefluss deutlich bemerkbar machte.
Nur wenige Menschen konnten so schnell hören, wie Heidi sprach. Lehrer und Eltern resignierten. Freunde hatte sie keine. Ein zehnminütiges Referat füllte bei Turbo-Heidi die doppelte Seitenzahl, wie bei ihren Mitschülern. „Selbst schuld,“ lästerten einige, „sie muss ja nur langsamer reden.“ Aber das wäre zu viel verlangt. „Langsam – was ist das?“ scherzte sie, wenn man sie bat, sich beim Sprechen mehr Zeit zu lassen.
Das Mädchen Heidi wurde zu einer jungen Frau, die in einem weiten Umkreis bekannt, ja fast berühmt war. Ihre Redeflut schien so unaufhaltsam, wie das Wasser der Niagarafälle. Arbeitgeber, bei denen sie sich bewarb, fühlten sich von ihrem Mitteilungsbedürfnis gleichermaßen überfordert, wie junge Männer.
Und genau in dem Moment, als Heidi bereits überlegte, sich in einem Callcenter zu bewerben, erreichte sie der Anruf einer politischen Partei. „Genau so jemanden wie Sie, brauchen wir. Hätten Sie Lust, Mitglied bei uns zu werden und auf Wahlveranstaltungen aufzutreten? Jemand der schneller spricht, als andere denken und dessen Worten niemand folgen kann.“ Heidi fühlte sich geschmeichelt, von diesem Angebot und sagte sofort zu. Bereits zwei Wochen später zierte ihr Konterfei Plakate, die zu Parteiveranstaltungen in Bierzelten einluden. Ihr Erfolg wurde gekrönt durch Auftritte in Talk-Shows. Ihre Reden waren legendär – niemand konnte so schnell sprechen wie sie. Die Zuschauer liebten ihre Energie und ihren Enthusiasmus. Jeder Talkmaster wurde von ihrem Redefluss schlichtweg überrollt und fragte hinter den Kulissen: “Was hat sie gesagt?“
Die Meinung der Opposition ähnelte der, der TV-Moderatoren. "Wie sollen wir mit jemandem debattieren, der schneller spricht als wir denken können?" fragten sie in ihren eigenen Reihen. „Warum merken die Menschen nicht, dass diese Frau oberflächlich ist und nur unüberlegtes Zeug daherredet?“, lautete ihre einstimmige Kritik an „Turbo-Heidi“. "Sie redet viel, aber sagt sie auch etwas Substanzielles?" war ein weiteres Argument, mit dem ihre politischen Gegner, Heidis Kompetenz in Frage stellten.
Moderatoren waren mit Heidis Redefluss schlichtweg überfordert. Talkgäste lehnten Einladungen zu TV-Sendungen dankend ab, wenn sie hörten, mit wem sie sich die Rede- und Sendezeit teilten, sollten. Heidi verschwand – im wahrsten Sinne des Wortes – von der Bildfläche. Bei Ihrer Wählerschaft galt:“ Aus den Augen, aus dem Sinn“, und wenn man Gerüchten Glauben schenken darf, dann arbeitet Turbo-Heidi heute erfolgreich – zum Ersten, zum Zweiten und zum Dritten – in einem Auktionshaus.

