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geschrieben 2017 von Wattwurm.
Veröffentlicht: 12.11.2019. Rubrik: Nachdenkliches


Zopf oder Kahl?

Die Glocke über der Tür klingelte in dem Moment, als sie den Friseursalon betrat. Durch das große Fenster neben der Tür hatte sie schon sehen können, dass der Salon voll war mit Menschen; mit Menschen, die immer so ernst schauten und gedankenverloren in irgendwelchen Magazinen blätterten oder ungeduldig auf ihre Zeitzeiger sahen. Mit Menschen, die kein Wort sprachen und Blickkontakt mit anderen mieden. Mit Menschen, die mit ihr nichts zu tun haben wollten, obwohl sie bestimmt viel zu sagen gehabt hätten. Aber wer war sie schon, darüber zu urteilen?
Beiläufig bemerkte sie die Poster, die an den grauen Wänden des Gebäudes hingen: Bilder von Augen und Händen, und von den schwarzen Geräten, die man benutzen konnte, um anderen weh zu tun. Dazu rote Kreise, mit anderen Bildern in der Mitte. Unter anderem waren da Köpfe mit einem Paar Frisuren, mit denen der Laden vielleicht Werbung hätte machen können. Naja, sie wusste es besser.
Diese Art von Bildern war keine Seltenheit. An allen Straßenecken und Laternen, sogar in den Autofenstern und Geschäften waren sie zu sehen. Sie kannte es nicht anders, deshalb störte es sie nicht. Hier war sie geboren und fühlte sich zuhause. Musste sie ja.
Kaum hatte sie den Friseursalon betreten, erblickte sie einer der Angestellten, schien aber keine Notiz von ihr zu nehmen. In seiner Hand ein elektrischer Rasierapparat. In seinen leeren Augen ein desinteressierter Ausdruck. Ihresgleichen sah er nun mal jeden Tag, anders als draußen, wo sie zu Recht schon angestarrt und bestimmt ihres goldenen Haars beneidet wurde. Der Abdruck der Münze war durch seine Hosentasche zu sehen, außerdem etwas, was für sie nach einem Schlüsselbund aussah. Es handelte sich natürlich um ein Bündel Haargummis, das hatte sie schon oft gesehen. Der Kerl verströmte einen unangenehmen, sauren Geruch und trug seine fettigen, langen schwarzen Haare in einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ein goldenes Piercing zierte seine Unterlippe. Er würdigte sie keines zweiten Blickes und sie suchte gleichgültig einen Platz zwischen den anderen Menschen, darauf bedacht, niemanden zu berühren oder gar Blickkontakt aufzunehmen. Ein ganz normaler Samstag.
Die hagere Frau neben ihr erhob sich zitternd und strich sich die weißen Haare aus dem Gesicht. Kurz darauf nahm sie vor dem Friseur mit dem Rasierapparat Platz und raunte ihm etwas zu. Sie wirkte nervös. Er nickte geistesabwesend, blickte misstrauisch über seine Schulter und griff dann in seine Hosentasche, was ihr ein erleichtertes Ausatmen entlockte.
Sie hatte so etwas schon oft gesehen. Menschen, die sich von ihren Haaren nicht trennen konnten und mit der Verordnung nicht zufrieden waren, bezahlten für die Ordnungswidrigkeit. Für sie kam das nicht infrage, zu groß die Angst vor der Obrigkeit… obwohl auch sie ihre Haare um jeden Preis behalten wollte, musste sie das Risiko wohl wieder eingehen. Die letzten vier Mal hatte sie Glück gehabt, und insgeheim betet sie jeden Tag, dass sich die Strähne fortsetze.
Der Friseur nahm ein Gummiband aus der Tasche und band der älteren Dame die Haare zu einem strengen Dutt zusammen; sie fand, es passte gut zu der Dame, auch wenn es verboten war. Vielleicht gerade deswegen.
Unter den wachsamen Augen der Zertifikate und Sonderberechtigungen für das Tragen von Körperschmuck, die über der Kasse hingen, zahlte die Frau. Das Vergehen war ihr anzumerken, kalter Schweiß stand noch auf ihrer Stirn. Die anderen Gäste interessierte das nicht, sie widmeten sich ihren eigenen Sorgen, wie sie es immer taten. Also hatte es sie auch nicht zu interessieren. Wer war sie schon, darüber zu urteilen?
Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes, zwischen den Wartestühlen, lagen aktuelle Zeitungen. Die schwarz-weißen, seitenfüllenden Bilder von allerlei schlechten Nachrichten verdarben ihr die Laune. Missmutig drehte sie die Zeitung mit einem brennenden Stapel Bücher auf der Titelseite um und schaute stattdessen aus dem Fenster neben dem Eingang. Doch was sie draußen sah, machte sie auch nicht froh: Menschen mit ernsten Gesichtern liefen vorbei, die Sonne spiegelte sich auf ihren Köpfen, was ihnen ein noch seriöseres Aussehen verlieh. Fand sie zumindest.
Dann, als sie endlich dran war, nahm sie dort Platz, wo zuvor die alte Frau gesessen hatte. Schnell kam der Friseur zu ihr und beäugte sie mit mäßigem Interesse. „Münze.“ Sie hatte die Münze schon vorher in die Hand genommen und öffnete nun ihre zitternde Faust. Darin lag die schwere, bleierne Münze, die jeder Bürger stets bei sich zu tragen hatte.
Aufgeregt warf sie diese hoch und schlug sie mit der rechten Hand auf den linken Handrücken.
„Zopf oder kahl?“ fragte der Schwarzhaarige pflichtbewusst. Sie sprach ein Stoßgebet, beide blickten auf ihre sich langsam öffnende Hand.
Gleichgültig drückte er einen Knopf.

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