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2xhab ich gern gelesen
geschrieben 2018 von IXOXO.
Veröffentlicht: 09.01.2018. Rubrik: Menschliches


Wir schaffen das!

Sie erinnern sich noch an den nun nicht mehr ganz so beliebten Ausspruch der Kanzlerin? Vor ein paar Wochen schoss er mir nach langer Zeit mal wieder durch den Kopf. Ich stand vor dem Vertretungsbildschirm im Lehrerzimmer, fand meinen Namen in der vierten Stunde, die ich eigentlich schon verplant hatte, und identifizierte nach dem zweiten Durchlauf des Textes gefühlte fünf Minuten später die vertretungsweise zu unterrichtende Klasse: „SK“. „SK“? „Siehe Konferenzbeschluss“? „Sieben Kinder“? Beim dritten Durchlauf fand ich das Kürzel der zu vertretenden Kollegin, POMA und die Bemerkung „Stattvertreteung“, und kam nach den nötigen Schlussfolgerungen a la Edgar Allen Poes art of deduction (kompetenzorientiertes Literaturstudium in den 70er und 80er Jahren) zum richtigen Ergebnis: es handelte sich um einen Einsatz in der „Seiteneinsteigerklasse“ und anstatt einer richtigen Vertretung sollte wohl ich hingehen. Das habe ich dann in der vierten Stunde auch getan, allerdings ohne wirklich zu wissen, was ich denn mit denen anfangen würde, was übrigens auch in einer Regelklasse hin und wieder mal vorkommen soll, wenn sich das halbe Kollegium am selben Tag fort-bildet.
Ich öffnete also gespannt die Tür zu Raum 211 und fand rund ein Dutzend junger Menschen verschiedener Nationalitäten, verschiedenen Alters und sehr verschiedener Beherrschung der deutschen Sprache in drei Gruppen an wiederum verschiedenen Büchern und Arbeitsblättern arbeitend vor; also irgendwie anders als wenn ich meine eigene Regelklasse betrete. Wenn die alle schon so brav arbeiten, fragt man sich natürlich „Wo kommen die denn her?“ und nach einer Weile wird es einem langweilig. Daher habe ich mich dazu gesetzt und versucht, den jungen Neumitbürgern ein gepflegtes Gespräch in deutscher Sprache aufzuzwingen. Das klappte bei den älteren Schülern sehr gut, ohne ihre recht offenen Wortbeiträge gleich in die Kategorien des Europäischen Referenzrahmens für Sprachbeherrschung einzuordnen. Nur die vier Kleinstmigranten am Gruppentisch hinter mir schienen nicht viel Gefallen an ihrem Arbeitsauftrag gefunden zu haben und wurden immer unruhiger. Die waren in ihrer Heimat nur drei Jahre in der Schule und können kaum Deutsch, erfuhr ich am Tisch der Älteren, die auch gleich ihre Hilfe anboten. Der Pädagoge in mir sagte allerdings „das schaffst du“ auch so. Am Tisch der Knirpse wäre die Kommunikation wohl sowieso gescheitert. Deshalb habe ich ihnen wortlos, im Sinne eines impulsgesteuerten kooperativen Unterrichts, das Arbeitsblatt weggenommen und einen Papierflieger daraus gebastelt, was dann auch, wie beabsichtigt, imitiert wurde. Dank jahrelanger Erfahrung in solchem Umgang mit Arbeitsblättern in meiner eigenen Schulzeit war mein Modell den ihren natürlich weit überlegen, was wiederum zur Folge hatte, dass sie nun lernen wollten, wie man sowas ordentlich macht. Wozu sind sie sonst auch ausgerechnet ins Land der Ingenieure geflüchtet? Da ich weder auf ungeduldiges am-Ärmel-Zupfen noch auf englischsprachige Aufforderungen reagierte, höchstens mit einem sauber artikulierten „Ja, bitte?“, mussten sie dann doch alles herauskramen, was die Kollegin ihnen schon beigebracht hatte. Am Ende haben wir unsere Arbeitsblattflieger wieder auseinander gefaltet und sauber ausgefüllt.
Na bitte, geht doch. Wir schaffen das! Das Schulministerium sagt: wir lassen kein Kind zurück, und es meint, solange die Kollegen sich einsetzen und die ganze Aktion kein Geld kostet, weil die angefallene Mehrarbeit natürlich nicht bezahlt wird. Mein Vorschlag: wir zeigen es dem Ministerium und weigern uns, die Belastung als Belastung zu empfinden; vielleicht nur, weil am Ende einer solchen Stattvertretungsstunde so ein Migrationsknirps, der einen recht großen Teil seines kurzen Lebens bisher auf der Flucht verbracht hat, fragt: „Hallo, Herr Lehrer. Kommst du morgen wieder?“

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Svenson am 30.01.2018:

Ohne individuelle Hilfe sind die Dinge nicht zu schaffen, das ist klar.. Sei froh, Ixoxo, dass du nur eine Vertretungsstunde hattest. Das Ausbaden des undurchdachten Zusammenfügens von jungen Migranten unterschiedlichsten Niveaus in Einheitsklassen führt dich bei ständiger Arbeit garantiert über deine Belastungsgrenzen.

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