Kurzgeschichten-Stories
Autor
Schreib, wie du willst!
Startseite - Registrieren - Login - Kontakt - Impressum
Menu anzeigenMenu anzeigen
3xhab ich gern gelesen
geschrieben 2017 von Weißehex.
Veröffentlicht: 07.03.2018. Rubrik: Fantastisches


Eine Gruselgeschichte aus dem Sommer 1970

Sommer 1970

Es war ein schöner, warmer Sommerabend. Irene und Michael standen, nachdem sie tagsüber lange durch Wiesen und Wälder gewandert waren, an einem Fluss und Irene sah versonnen zum anderen Ufer hinüber. Das Licht der schon langsam tiefer sinkenden Sonne spiegelte sich im Wasser, brach sich dort, das Wasser warf es zurück und sie musste die Hand vor die Augen halten, weil es sie blendete.
„Hier ist es wirklich wunderschön“, sagte Michael, „wie schade, dass der Urlaub morgen schon zu Ende geht.“
„Ja, das ist wahr“, stimmte Irene zu, „am liebsten würde ich zum Abschluss irgendwas Verrücktes machen, über diesen Fluss schwimmen zum Beispiel. Aber das werde ich mir verkneifen, der Fluss ist mir dann doch ein wenig zu breit. Und das Wasser bestimmt zu kalt. Einen Badeanzug habe ich zum Wandern ja auch nicht eingepackt.“ Sie lachte. Michael stimmte in ihr Lachen ein und sagte: „Und sauber genug ist das Wasser wahrscheinlich auch nicht.“
„Niemand sollte in den Fluss gehen“, ließ sich da auf einmal eine fremde leise Stimme vernehmen, „der Fluss nimmt die Lebenden und die Toten“. Irene und Michael wandten sich verblüfft um; beide hatten nicht bemerkt, dass ihnen offenbar jemand gefolgt war. Die Stimme gehörte einem großen, hageren Mann, dessen Gesicht im Gegenlicht nicht richtig zu erkennen war. Nur sein roter Vollbart und seine rötlichen Haare leuchteten im Sonnenlicht. Irene versuchte, ihn näher zu betrachten, aber es gelang ihr nicht. Die Sonne malte merkwürdige Flecken auf sein Gesicht, es war ihr gar nicht möglich, ihn länger anzuschauen. Seine plötzliche Erscheinung, seine leise Stimme und seine Statur hatten etwas Unheimliches an sich. Sie beschloss, ihn zu ignorieren, drehte sich um und wollte Michael mitteilen, dass sie in die Pension zurückgehen sollten – aber Michael war verschwunden. Irritiert sah sie sich um, doch von Michael war keine Spur mehr zu sehen. Auch hatte sie keine Bewegung neben sich, als ob er weggegangen wäre, bemerkt. Es konnte doch nicht sein, dass er einfach so verschwunden war oder dass er überhaupt wegging, ohne etwas zu sagen. Sie schaute sich mehrmals um und rief dann schließlich nach ihm.
„Michael? Michael! Wo steckst du denn? Wenn das ein Versteckspiel sein soll, ist es ein verdammt blödes! Komm bitte!“
Doch Michael antwortete nicht. Michael war nicht zu sehen. Und der seltsame fremde Mann stand immer noch da.
„Haben Sie vielleicht gesehen, wo mein Freund hingegangen ist?“ fragte Irene. „Er stand doch eben noch hier!“ Sie schaute sich noch einmal suchend um.
„Er ist in den Fluss gegangen“, sagte der seltsame fremde Mann. „Niemand sollte in den Fluss gehen. Der Fluss nimmt die Lebenden und die Toten.“
„Er ist doch nicht in den Fluss gegangen!“ entgegnete Irene, „das ist Unsinn. Ich werde ihn suchen.“
Sie drehte sich um und ging einfach geradeaus, ohne genau zu wissen, wohin sie eigentlich wollte. Auf jeden Fall erst einmal weg von diesem offenbar Verrückten. Sie lief eine Weile, bis sie sicher war, dass er ihr nicht folgte und hielt dann erst mal an, um nachzudenken.

Warum war Michael einfach so verschwunden? Sie fand auf die Frage keine Antwort. Angst stieg in ihr hoch. Inzwischen senkte sich die Dämmerung hinab, die Sonne war untergegangen. Aus einem hellen freundlichen Tag, an dem sie sich glücklich gefühlt hatte, war ein düsterer, unheilvoller Abend geworden, an dem sie sich ratlos und alleine wieder fand. Es würde bald dunkel werden, sie hatte keine Ahnung, wo sie war und demzufolge auch nicht, wie sie den Weg zur Pension wiederfinden sollte. Ihr Orientierunggsinn war noch nie sehr ausgeprägt gewesen; eigentlich war er so gut wie gar nicht vorhanden. Sie hatte sich immer darauf verlassen, dass Michael schon den Weg zurück finden würde, wenn sie zu Wanderungen in Gegenden aufgebrochen waren, die sie nicht kannte und sich nicht im Geringsten um Wegweiser oder Merkmale wie z. B. Brunnen, Statuen aus Stein, Sehenswürdigkeiten, an denen sie sich den Weg hätte merken können, gekümmert. „Verdammt!“ murmelte sie vor sich hin und erschrak vor dem Klang ihrer eigenen Stimme, so ängstlich und fremd hörte sie sich an. Bald würde es völlig dunkel sein. Wenigstens hatte sie eine Taschenlampe in ihrem Rucksack. Sie nahm sie heraus und leuchtete die Gegend ab. Gerade, als sie überlegte, dass man immer in Richtung Norden gehen sollte – wozu sonst zeigte ein Kompass ständig in Richtung Norden, wenn nicht deshalb? Zumindest erklärte Irene sich das so - leuchtete in der Ferne ein Licht auf. Irene atmete erleichtert auf. Das Licht gehörte anscheinend zu einem Bauernhaus, das bedeutete, dort würden Menschen sein, sie konnte nach dem Weg fragen und dann sicher zur Pension gelangen. Vielleicht war Michael ja einfach ohne sie schon dorthin gegangen, obwohl sie sich noch immer keinen Grund vorstellen konnte, warum er so etwas getan haben sollte. Sie dachte wieder an die Worte des seltsamen Mannes: „Er ist in den Fluss gegangen.“ Ein Schauer durchlief sie, sie streckte ihren Körper und atmete tief durch, um sich selbst Mut zu demonstrieren. Dann ging sie entschlossen mit forschen Schritten auf den Bauernhof zu. Der Weg war weiter, als sie gedacht hatte. Immer, wenn sie glaubte, ein gutes Stück des Weges geschafft zu haben, schien der Bauernhof beim nächsten Schritt wieder weiter weg. „Das kann auch an diesem komischem Dämmerlicht liegen“, versuchte sie, sich selbst gut zuzureden. Zum Glück war es immer noch nicht ganz dunkel, und tatsächlich erreichte sie ihr Ziel dann doch, ehe die nächtliche Schwärze völlig über sie hereingebrochen war.

Das Bauernhaus war ziemlich groß, langgestreckt und hatte zwei Stockwerke, das Dach war mit Reet gedeckt. Irene ließ den Strahl ihrer Taschenlampe über das Haus gleiten, um herauszufinden, wo sie klopfen oder klingen sollte, fand aber auf der Seite, auf der sie stand, keine Tür und schickte sich an, um das Haus herumzulaufen, als sich im oberen Stockwerk ein Fenster öffnete und eine schrille Frauenstimme: „Hallo? Wer ist da?“ rief. Irene schaute nach oben. Das Gesicht der Frau lag im Schatten, und ihre Gesichtszüge waren eher zu erahnen als zu sehen. Ihre Stimme hatte jedoch nicht gerade freundlich geklungen, trotzdem nahm Irene all ihren noch vorhandenen Mut zusammen und sagte: „Entschuldigen Sie bitte, ich habe mich verlaufen. Ich sah hier Licht … mein Freund ist auf einmal verschwunden.“ Sie musste schlucken, um nicht in Tränen auszubrechen und sagte dann: „Ich will zu meiner Pension. Pension Waldestann in der Konradstraße. Können Sie mir vielleicht sagen, wie ich dahin komme?“
Die Frau antwortete nicht sofort, und Irene überlegte gerade, was sie noch sagen könnte, als das Fenster im oberen Stockwerk energisch geschlossen wurde.
„Nein, hallo, warten Sie!“ rief Irene verzweifelt. „Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll!“ Doch das Fenster blieb zu. Jetzt war es doch soweit, Irene brach in Tränen aus. Das war zuviel. Erst der seltsame Mann, dann verschwand Michael, sie hatte sich verlaufen und nun verweigerte eine Fremde ihr noch ihre Hilfe! Dieser Tag konnte doch gar nicht noch schlimmer werden. Hilflos schluchzte sie vor sich hin, als ihr plötzlich ins Gesicht geleuchtet wurde und dieselbe Frauenstimme sagte: „Kommen Sie mit.“
Die Frau hatte eine Laterne in der Hand und trug altertümliche Kleidung, aber Irene dachte darüber nicht nach und folgte ihr ohne ein weiteres Wort. Sie fühlte sich jetzt zu erschöpft, um noch Fragen zu stellen oder Erklärungen zu liefern, die diese Frau offenbar sowieso nicht hören wollte. Sie führte Irene durch einen langen, halbdunklen Gang in einen spärlich möblierten Raum. Ein Tisch und zwei Stühle standen dort, an der Wand hing eine große Uhr, deren tickendes Geräusch den Raum ausfüllte. Die Frau wies stumm auf einen Stuhl. Irene ließ sich darauf niedersinken, die Frau nahm ihr gegenüber Platz. Jetzt war zu sehen, dass sie schon viele Jahre gelebt hatte; ihr Gesicht war von Furchen und Falten durchzogen, ihr linker Mundwinkel hing schlaff herunter, ebenso wie das linke Augenlid. Ihr Gesichtsausdruck war weder freundlich noch unfreundlich, als sie sagte: „Also ihr Freund ist verschwunden, junge Frau?“
Irene nickte. „Wir waren heute Mittag wandern. Dann machten wir Rast an einem Fluss. Und auf einmal war er weg.“ Sie bemühte sich, nicht wieder zu weinen, und redete weiter: „Vielleicht ist er ja schon in der Pension. Haben Sie vielleicht ein Telefon? Dann kann ich dort anrufen und nachfragen.“
„Nein“, sagte die Frau, „ich habe kein Telefon. Außerdem ist er nicht dort. Er ist in den Fluss gegangen.“

Irene sah die Frau an, als hätte sie den Verstand verloren. „Was sagen Sie da? Wie kommen Sie darauf? So ein Unsinn! Er hatte keinen Grund, in den Fluss zu gehen.“
„Nein“, sagte die Frau. „Er brauchte auch keinen Grund. Er musste in den Fluss gehen. Aber Jack hat es Ihnen doch auch schon gesagt, nicht wahr? Dass Ihr Freund in den Fluss gegangen ist, meine ich.“
„Wer ist Jack?“ fragte Irene verwirrt und erschrak, als die Frau sie daraufhin wütend anfunkelte, sich über den Tisch beugte und zischte: „Sie wissen, wer Jack ist!“
„Meinen Sie den Rothaarigen?“ fragte Irene. „Er hat auch vom Fluss geredet. Er sagte, niemand solle in den Fluss gehen. Er sagte noch etwas Seltsames – ja, er sagte: Der Fluss nimmt die Lebenden und die Toten. Und später sagte er dann, Michael wäre in den Fluss gegangen. Genau wie Sie es gesagt haben. So ein Unsinn!“ Jetzt begann sie doch wieder zu weinen.
Die Frau lehnte sich zurück, und ihre Stimme klang nicht mehr wütend, sondern mitleidig, als sie sagte: „Weinen Sie ruhig. Ihr Freund ist tot. Akzeptieren Sie es.“
Bei diesen Worten erlitt Irene einen Weinkrampf. Ihr Körper wurde von Schluchzen geschüttelt, und schließlich konnte sie nicht mehr anders, sie legte ihren Kopf auf die Tischplatte, weinte und weinte und schlief dann völlig erschöpft ein.

Als Irene erwachte, war es heller Morgen. Erstaunt stellte sie fest, dass sie in ihrem Bett in der Pension lag. Michael lag jedoch nicht neben ihr, die andere Seite des Doppelbettes war unbenutzt. Sie stand rasch auf, um sich anzuziehen und bei der Pensionsinhaberin nachzufragen, ob sie vielleicht wusste, wo er hingegangen war. Als sie ihre Kleider, die ordentlich über einem Sessel hingen, in die Hand nahm, konnte sie sich nicht daran erinnern, sie am gestrigen Tage getragen zu haben. Aber sie konnte sich überhaupt nicht daran erinnern, welche Kleider sie am Tag zuvor getragen hatte. Ob sie alles nur geträumt hatte? Aber wo war dann Michael?

Ihr Blick fiel auf das zierliche Tischchen, das vor dem Sessel stand. Ein Brief lag darauf. Sie nahm ihn in die Hand und las, an wen er adressiert war: „An Irene“. Sie öffnete den Briefumschlag, faltete den Brief mit zitternden Händen, aber dennoch sehr sorgfältig auseinander und las:

„Meine liebe Irene!

Ich weiß, du hast ein solches Ende nicht verdient. Aber ich musste tun, was ich getan habe. Behalte mich in guter Erinnerung.

Dein Michael.“

Sie drehte den Brief nervös in den Händen, beschloss dann doch, die Zimmervermieterin zu fragen und zog sich, so schnell es eben ging, an. Zu ihrer Enttäuschung war unten im Frühstückszimmer keine Spur von ihr zu sehen, obwohl die Tische zum Frühstück gedeckt waren. Ein anderes Paar, das sie schon ein paarmal flüchtig in der Pension gesehen hatte, kam zur Tür herein. Die beiden setzten sich und der Mann schlug eine Zeitung auf. Irene zögerte noch, die beiden anzusprechen, da sagte der Mann: „Du lieber Himmel! Hier ganz in der Nähe haben sie eine Leiche im Fluss gefunden.“

counter3xhab ich gern gelesen

Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

Einen Kommentar schreiben

geschrieben von ehemaliges Mitglied am 19.03.2019:

Eine tolle Geschichte! Spannend und vor allem: gut erzählt! Keine Fehler oder Logiklöcher, die einen aus dem Lesefluss bringen. Gut! Gegen Ende hatte ich befürchtet, dass es auf einen Traum hinaus läuft - wie so oft bei Geschichten. Erfreulicherweise nicht! LG Uli

Weitere Kurzgeschichten von diesem Autor:

Matzes Mutter