Veröffentlicht: 10.05.2022. Rubrik: Spannung
Selbstmörder
Britta nahm ihr Weinglas in die Hand, nippte und schaute keck über den Rand hinweg ihr Gegenüber an. „Wirklich? Ein Mann wie du im Büro? Das kann ich gar nicht glauben.“ Geschmeichelt strich sich der hagere Dunkelhaarige über den Kragen. „Eines kann ich dir jetzt schon sagen Isabella, ich hab so viel mehr drauf als du vermutest.“ Er blinzelte ihr zu. So ein widerlicher Typ, ihr wurde fast übel. Aber immerhin, du bist mir auf den Leim gegangen, dachte Sie, und lächelte ganz entzückt.
Zwei Wochen später fand die Polizei wieder einen Selbstmörder. Tabletten. Die beiden Packungen lagen noch auf dem Tisch. Nachbarn hatten sich gemeldet, wegen des Geruchs, niemand hatte geöffnet. „Den scheint keiner wirklich vermisst zu haben.“ Stellt mein Kollege fest. „Schon komisch,“ sage ich, „in letzter Zeit gibt es viele im mittleren Alter, irgendwie merkwürdig.“
Es ist fünf Uhr dreißig morgens. Wie immer steigt Britta pünktlich in die U-Bahn. Eine gepflegte Erscheinung für diese Uhrzeit. Sie duftet nach frischer Seife und lächelt ihre Sitznachbarin an, bevor sie sich setzt. Die junge Frau ist auf dem Weg zur Arbeit. Seit drei Jahren macht sie nun schon diesen Job, für den sie um diese unchristliche Uhrzeit schon unterwegs sein muss.
Als sie eintrifft, zieht sie ihre Uniform an. Fleckenlos, strahlend weiß und frisch gebügelt. Britta ist sich ihrer Verantwortung wohl bewusst. Menschen zu pflegen ist schließlich nicht irgendein Job. Als sie das Schwesternzimmer betritt, sitzen ihre beiden Kolleginnen schon mit der ersten Tasse Kaffee am Tisch, um von der Nachtschwester zu erfahren wie der heutige Stand ist.
Britta fängt auch an diesem Morgen wie üblich auf der linken Seite vom kurzen Flur an, so kann sie zuallererst nach ihrer Freundin sehen. Sie kennt Claudia schon seit der ersten Klasse. Im ersten Augenblick ist es immer wie ein Stich in Brittas Herz, sie so zu sehen: Ihre beste Freundin, im Wachkoma. Doch dann steckt sie schnell das ungute Gefühl weg und beginnt fröhlich plaudernd mit ihrer Arbeit. Sorgfältig wäscht und cremt sie Claudias Körper. Sie erzählt ihr dabei was sie so gestern gemacht hat, tratscht ein wenig über die Kollegen, kleidet sie an und versichert ihr, sie komme bald mit Frühstück zurück.
Schließlich musste sie sich auch noch um weitere Bewohner kümmern. Nicht dass ihr die Arbeit wirklich gefallen würde, aber es war die einzige Möglichkeit bei Claudia zu sein. Letztendlich war sie es ja gewesen, die ihre Freundin zum Ausgehen in die Disco gedrängt hatte. Und sie selbst hatte sogar vorgeschlagen, den Drink von dem gut aussehenden Mann anzunehmen und sich zu ihm an den Tisch zu setzen. Als sie nach ihrem Filmriss wieder zu sich kam und sich verdutzt in einer fremden Wohnung wiederfand, brauchte sie nur den Geräuschen nachzugehen. Sie sah Claudia schwer bedrängt, die sich aber, völlig träge, kaum wehren konnte. Sie griff nach der Flasche, die auf dem Tisch stand und schlug von hinten zu. Die Flasche zerbarst. Leider reichte ihre Kraft nicht aus um ihn direkt k. o. zu schlagen, er stieß ihre Freundin weg, die gegen den Schrank knallte, und kam wütend auf sie zu. Sie stach mit dem verbliebenen Flaschenhals auf ihn ein. Zwei, drei Mal in seinen Hals, dann sackte er zusammen.
Ihre Freundin hatte einfach gar nicht mehr reagiert. Zuerst versuchte Britta sie im Affekt wegzuschleifen, gab dann aber nach wenigen Metern auf. Claudia war viel zu schwer. Sie musste sie in der Wohnung zurücklassen. Ein Anruf aus der Kneipe an der Ecke bei der Polizei, das war alles, was sie in der damaligen Situation noch tun konnte.
„Ich hab' Joghurt mit frischen Heidelbeeren für dich, Heidelbeeren magst du doch.“ Die stumpfen Augen ihrer Kinderfreundin sahen durch sie hindurch. Während Britta ihr den Joghurt anreichte, plapperte sie munter drauf los. „Sie haben ihn jetzt gefunden, weißt du? Ich hab' genau gewusst, dass das auch so einer ist. Als ich merfach deutlich Nein gesagt habe, wollte er es doch wirklich mit Gewalt versuchen, da ist er ja bei mir genau an der Richtigen.“ Britta lachte leise in sich hinein. Du hättest sehen sollen, wie auch er wieder brav all die Tabletten aufgegessen hat, mit der Knarre am Kopf...“
