Veröffentlicht: 01.12.2022. Rubrik: Unsortiert
Kathedrale aus Rost
Erhabene Anmut aus Eisen und Stahl, kraftvolle Monumente einstiger industrieller Potenz. Befinden sich solche stählernen Kraftprotze erst einmal außerhalb ihrer einstigen Bestimmung, verlieren sie an Wirkung. Zurück bleibt der morbide Charme des Verfalls, es kommt beim Betrachter Melancholie auf. Diese stummen Zeugen einstiger industrieller Größe sind überwiegend im Westen des Landes anzutreffen. Oft werden sie despektierlich Industriebrachen genannt, was bei den ehemaligen Arbeitern dieser Anlagen Unbehagen auslöst.
Aber es gibt auch einen künstlerischen, ästhetischen Aspekt. Das Ausgangsmaterial kann man auf seinen stofflichen Ursprung reduzieren: Eisen oder Stahl mit Dihydrogenmonoxid (H2O) in Kontakt bringen, und man erhält als Ergebnis Rost. In dessen schönster Form entstehen Gebilde in erstaunlich vielfältigen Farbvariationen: eine Allegorie für Umwandlung, für Veränderung. Sind diese Formationen dann lange genug der Witterung ausgesetzt, changieren die Farben des Rosts. Künstler erkennen darin formalästhetische Wunderwerke - Fotografen haben einen speziellen Blick dafür. Ins entsprechende Licht gesetzt, erscheinen in ihren Augen optische Wunderwerke von einzigartiger Ausstrahlung.
Dieser Aspekt spielt für Rudi Hammerich keine Rolle, sein Kunstempfinden ist hierfür nicht ausgelegt. Er ist einer der wenigen verbliebenen Ehemaligen der Stahlhütte hier vor Ort, er bewacht das Gelände und inspiziert die Sicherheitsvorkehrungen. Das, was für ihn hier früher Arbeit bedeutet hatte, existiert so nicht mehr, er fühlt sich als reiner Wächter, weiß aber nicht genau, warum er hier auf diese große Menge Alteisen aufpassen soll. Noch vor wenigen Jahren hätte er diese Anlage ganz anders genannt, sie war ein wichtiger Teil seines Lebens. Doch Rudi macht eine Veränderung durch, der Job des Wächters bleibt der gleiche.
Eines Morgens meldet sich der Fotograf Fynn-Ole Klahn bei ihm. Der hat vom Insolvenzverwalter des Stahlwerks den Auftrag erhalten, eine Fotoserie für das Exposé zur Verkaufsabwicklung zu erstellen. Mit Rudi Hammerich an seiner Seite, stößt er auf Ansichten der riesigen Industrieanlage, die er alleine so nie entdeckt hätte. Rudi ist schließlich als 'Begeher' dieses Geländes ein Routinier, Tag für Tag, immer den gleichen Weg. Fynn-Ole Klahn erklärt seinem Führer durch die Anlage, worauf es ihm perspektivisch ankommt, welchen Lichteinfall er bevorzugt. Rudi begreift es schnell und führt den Künstler zu den fotografisch ergiebigsten Positionen. Und dann der magische Moment, im warmen Licht der Abendsonne, der Höhepunkt. Rudi erkennt, in welchem Juwel der künstlerischen Art er sich täglich bewegt. Von der tiefstehenden Sonne im spitzen Winkel von hinten angestrahlt, erscheint ihm sein altes Stahlwerk in völlig neuem Licht: samtene Rostfarben in allen nur möglichen Tönen, auf die Schlagschatten der Türme und Röhren ein kunstvolles Muster werfen. Rudi Hammerich ist fast sprachlos, lediglich ein: „Wie eine Kathedrale aus Rost...“ entweicht ihm. Er erkennt zum ersten Mal die Ästhetik 'seiner' abgewrackten Anlage. Für den Fotografen ist es das ultimative Motiv. Dessen Auftraggeber ist später von den fotografischen Ergebnissen begeistert. Der Begriff 'Kathedrale aus Rost' bleibt.
Der neue Investor plant, auf dem Gelände des ehemaligen Stahlwerks einen Freizeitpark zu errichten. Bereits in der ersten Phase der Umgestaltung kann man erkennen, dass hier etwas anderes Großes entstehen soll. Der Kernbereich der Anlage, Türme, Räder und Röhrensysteme, bleibt erhalten, diese werden mit einer neuen Edelrostschicht überzogen und bilden den zentralen Blickfang auf den geplanten Freizeitpark. Von der etwas höher gelegenen Stadt sowie der nahen Autobahnbrücke bietet sich ein grandioser Ausblick auf dieses Ensemble. Die hoch aufragenden Reste des früheren Industriebetriebes werden das Markenzeichen für eine ganze Region. Investor und Kommune, beide denken in großen Dimensionen, es ist eine Win-Win-Situation. Alle erhoffen sich von den zu erwartenden Besucherströmen einen wirtschaftlichen Aufschwung. Viele der früheren Arbeitnehmer des Werkes sollen hier eine neue Beschäftigung finden.
Es braucht viele Monate, um den Rückbau der ausgedienten Anlage abzuwickeln. Parallel dazu muss das Gelände verändert werden. Die Ufer des nahgelegenen Flusses werden nivelliert, er wird kanalisiert, um ihn dann in das Konstrukt des neuen Parks mit einzubeziehen. So soll zusätzlich ein vielfältiges Angebot für Wassersport entstehen. Das Erdreich der Bodensenke, in der jahrzehntelang Stahlarbeiter ihrem Broterwerb nachgingen, wird aufgebrochen und neu modelliert. Auf diese Weise entsteht hier eine der größten Baustellen der Republik.
Doch dann, der Termin der Fertigstellung ist noch nicht fixiert, geschieht etwas Ungeheures, etwas nie Vorausgeahntes. Eine Naturkatastrophe von fast apokalyptischem Ausmaß trifft diese Region. Durch dieses gewaltige Unwetter werden Teile der nahen Kleinstadt zerstört, deren Hanglagen wegbrechen. Der kleine Fluss, der sonst ruhig sein Wasser durch das Tal führt, schwillt zu enormer Größe an, er tritt über die Uferlinie. Die Bodensenke, in der sich einst das Stahlwerk befand, läuft voll – die frühere Industrieanlage säuft regelrecht ab. Und in der Mitte dieses Gewässers ragen die oberen Elemente der einstigen Stahlhütte steil empor.
Und das bleibt so erhalten, auch nachdem wieder geordnetes Leben in der Gegend stattfindet. Statt auf ein Wahrzeichen für einen Freizeitpark, blickt man auf ein Mahnmal aus rostigem, rotbraunem Metall, das besonders in der tiefstehenden späten Nachmittagssonne wunderschön anzusehen ist. Der Name, den ihm der frühere Stahlarbeiter Rudi Hammerich gegeben hat, besteht fort: Kathedrale aus Rost.

