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4xhab ich gern gelesen
geschrieben von Horst Radmacher.
Veröffentlicht: 10.03.2023. Rubrik: Unsortiert


Ein Mann mit Eigenschaften

Es geschah am Nachmittag meines neunundvierzigsten Geburtstags. Meine Schwiegermutter Marlene hatte mir ein Buch geschenkt, und was für eins! 'Der Mann ohne Eigenschaften' von Robert Musil. Und das ausgerechnet mir als bekennenden, notorischen Nichtleser. Die gute Frau, bekannt für ihre extrem stark ausgeprägten empathischen Züge, hatte in einem Magazin gelesen, dies wäre eines der Bücher, die man in seinem Leben unbedingt gelesen haben müsste. Marlene ist keineswegs von hinterhältiger Ironie geprägt, eher von übertriebener Liebenswürdigkeit. So bringt sie es beispielsweise fertig, ihrem Ehemann, nachdem dieser sie vor sieben Jahren für eine Jüngere verlassen hatte, zu seinem Geburtstag immer noch einen von ihm sehr geschätzten Käsekuchen zu backen. Der Buchtitel konnte keine ironische Anspielung auf mein schwach ausgeprägtes Charisma sein. Meine Neigung zur Pedanterie wäre zum Beispiel ganz sicher eine erkennbare Eigenschaft.

Marlenes Vermutung, ich könnte inzwischen zum Bücherleser mutiert sein, beruhte auf einer groben Fehleinschätzung. Zwar hatte ich während des Corona-Lockdowns damit begonnen, neben Sport- und Motorradzeitschriften, auch etwas längere, unbebilderte zusammenhänge Texte zu lesen, was sich aber nur auf Groschenromane wie Jerry Cotton o.ä. beschränkt hatte. Diese Hefte hatte ich beim Aufräumen verstaubter Kisten auf dem Dachboden meines Schwiegervaters gefunden. Mehr an Text wäre mir auch gar nicht geheuer gewesen. In diesen Kartons befand sich nichts an ernsthafter Literatur, und schon gar keine von epischer Breite.

Da ich meine Schwiegermutter nicht enttäuschen wollte, nahm ich diesen Wälzer wohlwollend entgegen. Davon kann man gar nicht genug haben, sagte ich ich ihr, dankbar lächelnd. Marlene war hocherfreut. Ich ahnte, sie würde irgendwann nach meinen Lesefortschritten fragen und so las ich mich durch eine kurze Inhaltsangabe im Internet, um bei passender Gelegenheit ein wenig mitreden zu können. Trotz der nur flüchtigen Lektüre der Zusammenfassung war mir schnell klar, Mann ohne Eigenschaften, so etwas gibt es nicht, jeder hat Eigenschaften, selbst ich. Das Buch wurde gut sichtbar auf eine Anrichte gelegt.

Jedoch die Erkenntnis über fehlende oder eventuell doch vorhandene menschliche Eigenschaften beschäftigte mich anschließend mehr als mir gut tat; ich verzettelte mich in einer Selbstbeschau. Während der darauffolgenden Wochen entdeckte ich Angewohnheiten an mir, die sich vermutlich während der Corona-Krise entwickelt oder verstärkt haben mussten. Wie ich nun mit Schrecken bemerkte, waren diese nach der Krise nicht nur nicht verschwunden, sondern hatten sich gesteigert. So stellte ich einen extremen Waschzwang an mir fest, dessen zwangsfreie Intervalle immer kürzer wurden. Die daraus resultierenden Schädigungen meiner Haut, verursacht durch häufiges, starkes Schrubben, konnte ich bald nicht mehr verdecken. Ich redete mich gegenüber meinen Mitmenschen mit einem Ekzem unbekannter Genese heraus, das schwer zu behandeln wäre. Aber damit nicht genug. Es kam noch ein Putz- und Aufräumzwang hinzu, der mich, und später auch mein gesamtes Umfeld, zur Verzweiflung brachte.

Hatte ich für die entzündeten Hautareale noch halbwegs plausible Deutungen parat, so konnte ich das zwanghafte Aufräumen bald nicht mehr erklären. Anfänglich brachte ich immer häufiger gewollte Unordnung in unsere Wohnung, wenn sich Besuch angekündigte. Ich lieferte mir damit einen Vorwand, mal eben, nur so zwischendurch, etwas Ordnung wiederherzustellen. Bei der Gelegenheit fiel das dazu passende Wedeln mit dem Staubtuch und das Wischen nicht weiter auf. Aber auch die putzfreien Zeitspannen wurden immer kürzer. Ich ging dann dazu über, sehr oft die Wohnung zu verlassen, um diesen Zwängen auszuweichen und mich so abzureagieren. Dabei schlich ich mich, immer weiter gezogene Bahnen um mein Zuhause ziehend, durch Wälder und Feldmark, entlang Flussläufen und Wiesen. Und am Rande einer solchen wurde ich eines Tages aufgefunden. Ich saß dort völlig erschöpft und apathisch auf einem exakt angeordneten Steinhaufen. Diesen hatte ich in meiner Manie aus Findlingen der näheren Umgebung errichtet, alles schön ordentlich aufeinander gestapelt. Und derartige Vorfälle häuften sich, ich brach irgendwann nervlich zusammen und mit mir mein Familienleben.

Die Folgezeit verbrachte ich zwecks Therapie in einer psychiatrischen Heil- und Pflegeeinrichtung. Es waren grauenvolle erste Tage und Wochen, soweit ich es erinnere und die stark sedierenden Psychopharmaka es zulassen. Mitunter halfen auch diese nicht und ich wurde tagelang mit Gurten auf einer Pritsche fixiert. Irgendwann später ging es mir besser. Ich war zwar noch nicht vollständig geheilt, jedoch wurden nur noch vergleichsweise milde Therapieformen angewendet: Gesprächs- und Verhaltenstherapie, während denen ich in Bezug auf meine Zwangsneurosen durch Konfrontation mit verfänglichen Situationen schrittweise desensibilisiert wurde. Von meinem Wasch- und Putzzwang wurde ich auf diese Art erfreulicherweise komplett geheilt. Das Gefühl der Erlösung war unbeschreiblich schön.

Dann endlich der Tag der Entlassung. Ich durfte wieder in mein Alltagsleben zurück. Das spielte sich jedoch nicht mehr in meiner früheren häuslichen Umgebung ab, ich lebte fortan alleine, in einer Zweizimmerwohnung von überschaubarer Größe. Wenn ich gelegentlich in den Spiegel sehe, blicke ich in ein frühzeitig gealtertes Gesicht, umgeben von zauseligen, ungepflegten Kopf- und Barthaaren. Meine häusliche Umgebung besteht aus zugemüllten, kaum noch begehbaren Räumlichkeiten – lebt so ein Mann ohne Eigenschaften? Und doch erfüllt mich eine zufriedene Gelassenheit. Die Gewissheit, mittels schwerer Kämpfe die extrem ausgeprägte Zwangsstörung eines überdrehten Pedanten überwunden zu haben, verschafft mir soviel an wohliger Unbeschwertheit, dass sich die Erkenntnis, zu einem offenkundigen Messi geworden zu sein, ausgesprochen gut anfühlt .

counter4xhab ich gern gelesen

Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Gari Helwer am 11.03.2023:
Kommentar gern gelesen.
Genial konstruierte, spannende Geschichte, Horst! Aber sie zeigt uns auch: Obacht, wenn du ein Buch verschenkst - nicht nur, weil der zu Beschenkende vielleicht schon eins hat - sondern weil, wie wir sehen, schon der Titel zu einer katastrophalen psychischen Krise führen kann!!! Liebe Grüße!

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