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5xhab ich gern gelesen
geschrieben von Ernst Paul.
Veröffentlicht: 08.04.2023. Rubrik: Satirisches


Die Rückkehr der Schmetterlinge

In seinem Heimatort kannten nur wenige Einwohner Hans-Joachim Rettich. Er verhielt sich unauffällig. Morgens verließ er sehr zeitig seine Wohnung und kehrte erst spätabends zurück. Auch an den Wochenenden sahen ihn seine Nachbarn kaum. Herr Rettich arbeitete als Zahntechniker in einem Zahnlabor und war viel beschäftigt. Diesen Beruf übte er mit Leidenschaft aus. Im Laufe der Jahre hatte er es zur Perfektion gebracht. Die Qualität seiner Arbeit erfüllte höchste Anforderungen. Nicht nur deshalb überhäufte sein Chef ihn mit Arbeitsaufträgen: Hans-Joachim war immer bereit, länger zu arbeiten; auch an den Wochenenden. Er lebte allein und zurückgezogen. Es machte ihm nichts aus, auf Freizeit zu verzichten. Eine Beziehung zu einer Frau wollte er nicht. Sehr nachhaltig waren die schlechten Erfahrungen zu Mädchen und Frauen.
Seine Mutter arbeitete als Erzieherin in einem katholischen Kinderheim. Sie erzog Hans-Joachim sehr streng: Zucht und Ordnung waren oberstes Gebot; Widerspruch strengstens untersagt; Mutterliebe lernte Hans-Joachim nie kennen. Im Alter von 14 Jahren verliebte sich Hans-Joachim in Susi. Sie war 2 Jahre älter als er und schon voll entwickelt. Wenn er Susi sah, überkam Hans-Joachim ein Kribbeln in der Magengegend. Er wurde unsicher in ihrer Nähe. Scheu sah er ihr nach, wenn sie an ihm vorbeigegangen war. Nachts träumte er von ihren eleganten Bewegungen und auch davon, ihr nah zu sein. Oft waren seine Schlafhosen am Morgen befleckt. Seine Mutter bemerkte dies, auch sein verändertes Verhalten. Sie sagte, er habe Schmetterlinge im Bauch. Das wäre nicht gut in seinem Alter. Die Schmetterlinge müssten verjagt werden. Um ihn dabei zu unterstützen, erteilte sie ihm regelmäßig Stubenarrest. Doch Hans-Joachim konnte diese Gefühle nicht unterdrücken. Als er im Sommer Susi im Freibad sah, waren sie wieder da, diese Schmetterlinge. Und sie machten sich stärker bemerkbar wie vorher. Susi posierte im Bikini am Schwimmerbecken und zeigte sich in ihrer jugendlichen Schönheit. Der Anblick allein raubte Hans-Joachim die Sinne. Zaghaft versuchte er Susi anzusprechen. Doch sie verstand seine Ansprache völlig falsch und schubste Hans-Joachim in das Schwimmerbecken. Er erschrak, prustete und begann wild um sich zu paddeln. Mit Mühe rettete er sich an den Beckenrand. Das war ein Schock für ihn. Von da an wollte Hans-Joachim nichts mehr mit der Mädchen- und Frauenwelt zu tun haben. Die Gefühle, Schmetterlinge im Bauch zu haben, versuchte er zu unterdrücken. Er kämpfte vehement dagegen und entwickelte eine Phobie.
Fortan konzentrierte Hans-Joachim auf sich. Seine schulische Ausbildung schloss er mit guten Ergebnissen ab, die Lehre zum Zahntechniker mit ausgezeichneten Noten. Er gab sich voll seiner Berufung hin und wurde ein Meister seines Fachs. Seine Arbeitsintensität war ein enormer Gewinn für das Zahnlabor. Die wenige Freizeit, die Hans-Joachim sich gönnte, nutzte er für Vorsorgeuntersuchungen. Sein Ziel war, gesund alt zu werden. Der Hausarzt, auch seine Zahnärztin, waren voll des Lobes über seine Gewissenhaftigkeit. Mit 45 Jahren ließ sich Hans-Joachim erstmals an den Urologen Dr. Fleischhauer überweisen. Eine regelmäßige Untersuchung der Prostata wird ab diesem Alter empfohlen. Dr. Fleischhauer war bekannt für seine derben Untersuchungsmethoden; Frauen mieden deshalb seine Praxis; Männer besuchten sie nur auf Drängen ihrer Hausärzte. Hans-Joachim hatte nach jeder Untersuchung Sitzbeschwerden. Er nahm sie jedoch hin und meinte, diese gehörten dazu wie die Schmerzen einer Wurzelbehandlung beim Zahnarzt.
Als Dr. Fleischhauer in den Ruhestand ging, übernahm Frau Dr. Eva Bäuerlein diese Praxis. Ihr Doktorvater empfahl ihr, hier praktische Erfahrungen zu sammeln. Außerdem sollte sie an einer klinischen Studie mitwirken. Die Universität stellte ihr dafür ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung. Frau Dr. Bäuerlein, sehr bedacht, später ihre Karriere an der Universität fortzusetzen, nahm dieses Angebot sofort an. In dieser Studie sollte der Zusammenhang zwischen Größe und Gewicht männlicher Genitalien und dem Krümmungsradius von O-Beinen untersucht werden. Durch die geringe Anzahl an Patienten war genügend Zeit, diese Studie gewissenhaft und vollumfänglich durchzuführen. Eine wissenschaftlich fundierte Aussage konnte erwartet werden.
Hans-Joachim war überrascht, als er seinen Vorsorgetermin wahrnahm: Eine so junge und zarte Frau als Urologin hatte er sich nicht vorstellen können. Das Bild von Dr. Fleischhauer als Urologen war noch in ihm gespeichert: groß, derb und gefühllos; Frau Dr. Bäuerlein dagegen war nicht nur eine sehr hübsche und attraktive, sondern auch sehr sympathische und zugängliche Frau. Zum ersten Mal spürte Hans-Joachim wieder ein Kribbeln im Bauch. Eine leichte Unsicherheit begann sich in ihm breitzumachen. Ungezwungen und locker erklärte Frau Dr. Bäuerlein, welche Untersuchungen für diese Studie nötig sind und bat um das schriftliche Einverständnis. Danach wies sie Hans-Joachim an, die Hosen auszuziehen und sich hinzulegen. Sie begann mit der üblichen Untersuchung der Prostata. Ihren zarten Finger spürte Hans-Joachim kaum. Er schloss die Augen und versank in eine Trance. Auch die weiteren Abtastuntersuchungen und Vermessungen seiner Genitalien genoss er in diesem Zustand. Er spürte die Rückkehr der Schmetterlinge und fühlte sich zurückversetzt in seine Jugend, in seine jugendlichen Träume. Nach der Untersuchung, noch voll in Trance, schaffte er es erst nach mehreren Versuchen seine gespannte Hose zu schließen. Sehr schwungvoll unterschrieb er das Untersuchungsprotokoll; locker und cool fragte er nach den nächsten Terminen für solche Untersuchungen.
„Sie sind gesund und ganz normal entwickelt“, entgegnete Frau Dr. Bäuerlein und sagte sehr kühl: „Für diese Studie sind Sie für mich ohne Interesse. Es ist ausreichend, wenn Sie sich im kommenden Jahren wieder vorstellen“. In sich lächelnd fügte sie hinzu: „Grüßen Sie ihre Frau!“.
Zu Hause setzte sich Hans-Joachim an seinen Laptop und verfasste eine Annonce: „Welcher Schmetterling möchte bei mir anlanden? Junger Mann, Anfang 50, sucht aktive junge Frau für das Erleben gemeinsamer Träume und Gefühle. Schmetterlingsgefühle sind unwiederbringlich schön“.
Er schickte diese Annonce zur Regionalzeitung und zum Wochenkurier. Danach druckte er die erfassten Arbeitsnachweise aus und führte separat seine geleisteten Überstunden auf. Am nächsten Tag ging er ungewohnt spät zur Arbeit, legte seinem Chef die Stundenabrechnung vor und sagte, dass er ab sofort diese Überstunden abbummelt. In zwei Jahren wäre er zurück; er habe sehr viel nachzuholen.
Frau Dr. Bäuerlein indes führte diese Untersuchungen zur Studie fort. Sie kam letztlich zu dem Ergebnis, dass es keinen Zusammenhang zwischen Größe und Gewicht männlicher Genitalien und dem Krümmungsradius von O-Beinen gibt. Aufgrund des starken Andrangs von Patienten und einem übervollen Wartezimmer fehlt ihr jedoch die Zeit für weitergehende wissenschaftlichen Studien.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von ehemaliges Mitglied am 08.04.2023:
Kommentar gern gelesen.
Hans-Joachim kann einem leidtun: völlig gesund und auch bildungsmäßig auf der Höhe. Und dann bestraft mit solch einer Mutter. Hätte diese beizeiten psychiatrische Hilfe erhalten, bliebe ihrem Sohn einiges erspart. So aber wäre bei ihm eine rechtzeitige Psychotherapie eigentlich vonnöten gewesen; das mit Susi wäre dann auch anders verlaufen. Die vergleichende Datenerfassung im Bereich seines Zielorgans durch Fachärzte bliebe dann ein spaßiger Nebeneffekt. HG




geschrieben von Christelle am 09.04.2023:
Kommentar gern gelesen.
Ende gut, alles gut. Mit ca. 50 Jahren hat Hans-Joachim ja die Kurve noch gekriegt, Frau Dr. Bäuerlein sei Dank.
Durch diese schreckliche Mutter hat er allerdings viel Lebenszeit vergeudet.





geschrieben von ehemaliges Mitglied am 09.04.2023:
Kommentar gern gelesen.

Hallo Ernst Paul,
wenn einer sich so für 2 jahre verabschiedet, dann holt er alles nach. Nicht wegen der Zeitspanne, sondern weil er jetzt endlich Mumm hat.
Viel Glück Hans-Joachim!
LG Jürgen




geschrieben von Gari Helwer am 15.04.2023:
Kommentar gern gelesen.
Die Sublimierung des Geschlechtstriebes funktioniert glücklicherweise letztendlich doch nicht lebenslang! So wünsche ich Hans-Joachim bei der Entdeckung völlig neuer Aspekte seines Lebens viele bunte Schmetterlinge zur Erfüllung jener Angelegenheiten, von denen er nicht einmal mehr zu träumen wagte... LG

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