Kurzgeschichten-Stories
Autor
Schreib, wie du willst!
Startseite - Registrieren - Login - Kontakt - Impressum
Menu anzeigenMenu anzeigen
3xhab ich gern gelesen
geschrieben 2024 von CTS (CTS).
Veröffentlicht: 06.02.2024. Rubrik: Grusel und Horror


Auf Abwegen

Die ersten Schatten legten sich über das Waldgebiet am Segenbach. Nur noch wenige Spaziergänger säumten den Pfad, der im düsteren Geäst verlorenging. Eine ältere Dame schritt vorüber, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben. Als sie Schleifer bemerkte, diesen wuchtigen Hünen, wie er dort einsam an der Bank verweilte, musterte sie ihn abschätzend ohne ihren Schritt zu verlangsamen.
Sie ging zügig weiter und er beleidigte sie flüsternd in aller Stille.
Mit der Dunkelheit kam die Kälte. Und mit der Kälte kehrte das Misstrauen zurück, das an den letzten Fasern seiner Geduld nagte. Wo blieb sie nur? Sie hatte ihm keine Uhrzeit genannt; ihre Nummer besaß er nicht. Vereinbart war, dass sie ihn an der Bank abholt, noch bevor die Sonne untergeht. Dort wo er sie vor einer Woche kennengelernt hatte.

Quälend verstrichen die Minuten und ebenso die Hoffnung auf das versprochene Treffen.
Bis auf einmal Geräusche über den Pfad hallten. Ein flüchtiger Blick voller Hoffnung, doch es war nur eine junge Joggerin. Sie trug enge Leggins und grelle Turnschuhe, die blonden Haare hatte sie zu einem Zopf gebunden.
Zwangsläufig durchströmten Schleifer bei diesem Anblick die Erinnerungen an jene Nacht (Wohin so schnell? Einen Kuss…).
Die Joggerin verschwand in den Schluchten der umgebenden Dunkelheit, während Schleifer ihr wie
ein verlorener Geist nachsah.
Der eisige Wind des ausklingenden Winters ließ die Baumkronen zittern. Bei Tageslicht konnte man von dieser Anhöhe einen beträchtlichen Teil des Waldes im Osten bestaunen. Richtung Westen lag das kleine Städtchen, dass nach dem gleichnamigen Gewässer benannt wurde.
In dünnen Schneisen durchzog der Segenbach, der eigentlich kein Bach, sondern ein kleiner Fluss war, die Ausläufer der Wohnsiedlungen.
Im Dämmerlicht war nun lediglich die fahle Beleuchtung der Häuser erkennbar, weit entfernt, die
Dunkelheit hatte in rasantem Tempo das übrige Land erfasst.
Die Laterne neben der Bank flackerte unsicher, bevor sie einen schäbigen Lichtfetzen enthüllte, der mehr Schatten als Klarheit versprach.
Die Bank trug längst abgeblätterte Farbe. In ihrer Mitte befand sich eine Plakette, überzogen von Rostflecken, deren Inschrift unleserlich war. Daneben zierte ein deformierter Kreis die Oberfläche,
eingeritzt von jemandem, der vermutlich versucht hatte, einen Smiley oder das Wappen seiner Lieblingsmannschaft in die Bank zu schnitzen – ein Vorhaben, das kläglich misslang. Die krakeligen Striche zeugten von wenig Geschick, fanden jedoch über Umwege zurück zum Ausgangspunkt und vollendeten den traurigen Versuch.

Niemand stieg den abfallenden Weg empor, und zunehmend schwelte die Frustration in ihm auf wie ein giftiges Feuer. Einzig die Geräusche des Waldes erfüllten jetzt noch die Luft.
Knacken, Knistern, quietschende Jammerlaute, wer weiß von welchem Tier ausgestoßen. Dazwischen erklang gelegentlich das Ratschen des Feuerzeugs, wenn Schleifer mühevoll die nächste Zigarette ansteckte.
Er stellte sich vor, wie Jugendliche hier im Sommer raufkamen, um eine gute Zeit zu haben. Wie sie auf der Bank saßen, Joints rauchten, und dabei laut Musik hörten.
Viel mehr gab es in dem verschlafenen Städtchen am Ende des Weges nicht zu entdecken. Die leeren Straßen und die kümmerliche Gastronomie waren sinnbildlich für die triste Monotonie einer
Kleinstadt in der kein Mensch leben wollte.
Es verschlug ihn nach Segenbach, weil er hier recht schnell eine Jobzusage bekam, was ohne abgeschlossene Berufsausbildung nicht leicht war. Er wurde als Fahrer eines Apotheken-
Lieferdienstes eingestellt, musste acht Stunden am Tag Proben von A nach B fahren. Kein Traumjob, aber immerhin besser als im Gefängnis zu verrotten.
Und als er die ohnehin verhasste Heimat verließ, begann der Wunsch, es ernsthaft mit einem Neustart zu wagen. Ein allerletztes Mal. 32 Jahre lang lebte Schleifer in demselben kleinen Ort in der Vulkaneifel. Sein Großvater, der Jäger war, nahm ihn oft mit in die nahegelegenen Wälder.
Die einzig schöne Erinnerung an seine Kindheit. Vermutlich fiel die Wahl auch deshalb auf Segenbach, weil die Kleinstadt unmittelbar an das Kellerwald-Gebirge grenzte und somit ein wenig vertraut wirkte.
Damals endete die Lebensfreude abrupt mit dem Tod seines Großvaters, der ihm außer dem geliebten Jagdmesser nur eine furchtbare Mutter hinterließ.
Diesmal verfloss der kurzweilige Optimismus im typischen Gemisch von Oxycodon und Bier.
Die Kombination wirkte zwar wahre Wunder gegen die Gedankenspiralen, wurde im Alltag jedoch
zum lähmenden Feind, der stetig mehr Tribut forderte.
Und so verlief der Neustart exakt so, wie er es befürchtet hatte.
Seine Chefin, eine mürrische Frau um die 50, und seine wenigen Arbeitskollegen im Labor waren ihm gegenüber reserviert.
Egal, welch nette Ausstrahlung er an den Tag zu legen versuchte; die Menschen in seiner Umgebung blieben auf kühler Distanz. Das war schon immer so.
In der Schule, auf der Arbeit, im Nachtleben - und es war auch heute so, obwohl er das Gegenteil
herbeiträumte. Obwohl er schon als Kind das Gegenteil herbeigeträumt hatte.
Schleifer fror und beschloss in die kleine Altbauwohnung zurückzukehren.
Er war naiv und realitätsfremd gewesen, dabei hatte ihn das Leben so oft gelehrt, dass Glück für andere bestimmt war.

Die bittere Erkenntnis, dass sein Neuanfang zu scheitern drohte, drängte ihn weiter dem Abgrund entgegen. Vergangene Woche fand er sich dann vor genau dieser Bank wieder, wie ein Insekt vom Licht angezogen.
Er wollte es nicht. Er wollte nicht daran denken müssen, was für ein abscheuliches Monster er war (Küss mich, komm schon…).
In dunkelster Stunde, als der Drang es wieder zu tun wuchs, war sie auf einmal da gewesen; setzte sich neben und fragte, woran er denke. Einfach so. Ihre Augen strahlten leuchtend Blau und
durchfluteten sein zerschundenes Herz mit Hoffnung. Stundenlang sprachen sie über jedweden Quatsch, ohne das betretenes Schweigen auftrat. Sie schien ihn umgehend zu verstehen. Zweifellos waren sie auf einer Wellenlänge gewesen. Mehrmals brachte sie ihn mit unerwartet derben Sprüchen zum Lachen, die im Kontrast zu ihrem lieblichen Erscheinungsbild standen.
Seitdem schweiften seine Gedanken bloß noch um sie. Ihren Namen wollte sie nicht verraten, da es ein Geheimnis sei. Ihre Nummer gab sie ihm ebenfalls nicht, weil es sonst „langweilig“ wäre. Ihm gefiel ihre außergewöhnliche Art, ihr wunderschönes Äußeres, ihr selbstbewusstestes Auftreten - und als sie ihm sagte, er solle in einer Woche hier warten, da sie ihm einen besonderen Ort zeigen wolle, war es endgültig um Schleifer geschehen. In seinen Gedanken entstanden schnell Konstrukte wie „Seelenverwandtschaft“ und „Schicksalsbegegnung“, was in Ermangelung von vergleichbaren Begegnungen wenig verwunderlich daherkam.
Noch nie war eine Frau auf ihn zugekommen. Noch nie war ihm jenes Glück vergönnt, dass in ihrer Schönheit erstrahlte. Noch nie hatte er auf Anhieb das Gefühl, er selbst sein zu können.
Und beim Gedanken daran umhüllte ihn bittere Einsamkeit.
Er schritt den Weg hinab in die Dunkelheit einer fremden Stadt.
Es war Zeit zu gehen.

Vielleicht war das Selbstmitleid in jenem Moment zu präsent.
Womöglich war auch das Knistern der Äste schuld, die vom Wind umhergescheucht wurden.
Jedenfalls vernahm er zuvor keinen Mucks, nicht den kleinsten Laut. Bis er im Augenwinkel ein
schnelles Huschen wahrnahm, was er zuerst für ein Tier hielt.
Er konnte gerade noch den Kopf drehen, da zischte es in sein Ohr: „Hey!“
Es kam dem unvermittelten Griff in ein Hochstromkabel gleich.
Schleifer zuckte so heftig zusammen, dass ihm das Handy aus der Hand fiel.
In völliger Verwirrung stand er da und betrachtete sie.
Erst nach einigen Sekunden fügten sich die Puzzleteile zusammen.
„Du…“, stammelte er. Sie strahlte ihn frech an.
„Du hast mich ganz schön erschreckt.“, sagte er schließlich und merkte gar nicht, wie sein
verkniffener Mund zu einem breiten Grinsen wurde.
„Ja, hab ich gemerkt.“
„Wo… kommst du her? Ich hab gar nix gehört.“
„Ich war noch spazieren, bin ein bisschen zu weit gelaufen. Und als ich dich gesehen hab, wie du so den Berg runtergeschlichen bist…“
Wieder grinste sie verstohlen.
„Das kriegst du zurück.“, sagte er und lachte. Es war ein herzhaftes und ehrliches Lachen. Das Lachen eines Mannes, der verliebt ist.
„Versuchs doch.“, erwiderte sie trocken. Obwohl es höchstens 5 Grad war, und der Wind zustach wie eine verärgerte Wespe, trug sie nur einen dünnen Mantel.
Ihr Haar tanzte im Wind und durch die Finsternis hindurch, sah er das Leuchten ihrer blauen Augen.
„Ist dir nicht kalt?“, fragte Schleifer, der selbst eine teure Pufferjacke trug.
„Man muss nur in Bewegung bleiben. Deswegen sollten wir vielleicht nicht so dumm rumstehen.“
„Okay.“, antwortete er, ohne recht darüber nachzudenken, was sie überhaupt gesagt hatte.
Ihre Stimme war zauberhaft sanft, sie könnte darüber reden, dass die Welt gerade unterginge, und er würde nur dastehen und zufrieden nicken.
„Jetzt kannst du mir gar nicht den Ort zeigen.“
„Warum nicht?“, fragte sie. „Hast du Angst im Dunkeln?“
Noch bevor er antworten konnte, nahm sie seine Hand und drehte eine Pirouette.
„Nachts ist es da am schönsten.“
Später dämmerte ihm, dass jegliche Erinnerung an das, was danach geschah, verschwommen und
undurchsichtig war. Das Nächste, woran er sich entsinnen konnte, war, dass sie bereits tief in den
Wald eingedrungen waren, umgeben von dunklen Baumriesen.
Sie ging voraus, hielt dabei seine Hand. Die Berührung ihrer zarten Haut machte ihn nervös und
glücklich zugleich.
Äste knackten unter ihren Schuhen. Nachtaktive Waldbewohner fiepten. Jedes Gebüsch, jeder
Strauch beherbergte ein Rascheln. Gelegentlich hob sich eine schimmernde Pfütze am Boden von der totalen Dunkelheit ab. Er konnte kaum einen Meter weit sehen, aber das interessierte ihn überhaupt nicht.
Ihre Hand; ihre zarten Finger wollte er nie wieder loslassen.
Ihr Duft trug den Hauch frischer Sommerblumen.
Der laute Schrei eines Uhus, der ganz nah sein musste, riss ihn zurück ins Geschehen.
Erst jetzt wurde ihm wieder so richtig bewusst, dass es verdammt kalt war und er soeben durch
einen stockfinsteren Wald stapfte.
Kein Wort wurde gesprochen. Bis hierhin fühlte es sich vertraut an, so als ob es ein Geheimnis
zwischen ihnen gäbe, dass sie vor den Bäumen versteckt halten mussten.
Kurz wurde ihm mulmig zumute. Wie waren sie so schnell hierhergekommen?
Sie marschierte äußerst zielstrebig voran, diese in Dunkelheit gehüllte Fremde.
Irrationale Gedanken ergriffen ihn und er malte sich aus, dass hinter der nächsten Biegung vielleicht Männer auf ihn lauerten, bereit, ihn auszurauben oder seine Organe zu stehlen.
Konzentriert beobachte er ihre Gestalt. War sie wirklich so groß? Ihr Schatten wirkte enorm in der
Dunkelheit, dabei ging sie ihm höchstens bis zur Schulter. Auf einmal war es, als würde er die Hand
eines ausgewachsenen Mannes halten. Ihre vagen Umrisse ergaben keinen Sinn; ihre Schultern fielen merkwürdig ab, die Arme waren viel zu lang. Man konnte fast meinen, sie hätte einen gewaltigen Buckel.
Zwischen ihren Händen war ein dünner Schweißfilm entstanden. Statt der zarten Berührung fand er darunter die raue Hand eines Arbeiters – so wie er sie von seinem Vater in wenigen, frühen
Kindheitsmomenten in Erinnerung trug.
Die freudige Herzregung erstarrte zu einem kalten, hämmernden Klopfen.
Plötzlich war Schleifer überzeugt, dass es nicht mehr sie war, deren Hand er hielt.
Vor ihm lief ein erwachsener Mann – und wenn er sich umdreht, würde ihm eine ekelhaft grinsende Fratze entgegenblicken mit schwarzen Zähnen und leeren Augen.
Ich hab dich Fettklops! Ich hab dich! Komm mit in den Wald…
Er zückte das Handy und drückte auf das Taschenlampensymbol.
Das Licht der Kamera offenbarte bloß ihre zierliche Gestalt.
„Kein Licht, du Schisser.“, sagte sie, und er machte es schnell aus.
Sie hatte recht; er war ein Schisser.
Innerlich ging er hart mit sich ins Gericht, aber eigentlich wusste er, dass es die Furcht war, die ihn zu solchen Gedanken trieb. Die Furcht davor zu versagen. Wenn es um Frauen ging, war er stets ein unbeholfener Angsthase gewesen. Es kam ihm so vor, dass er in Gegenwart von Frauen auf einmal wieder der ängstliche Teenager war. Zumindest in seinem Kopf.
Dieselben verklemmten, unsicheren Hemmungen wie früher, die Selbstvertrauen unmöglich machten. Dieselben Versagensängste, die Gedanken an Flucht in ihm beschwörten.
Schüchternheit, die unangenehm präsent hervorschoss und ihn daran erinnerte, was für ein erbärmlicher Versager er war.
Doch ein Schwur in seinen Vorsätzen für den Neustart lautete: Lass den ängstlichen Jungen sterben!
Darauf baute alles Weitere auf.
„Wollte nur mal schauen, wo wir so sind.“, sagte er betont lässig.
„Gleich da.“

Sie hatten den Wanderweg verlassen und gingen Querfeldein, über hügligen Boden, an Sträuchern
und Armeen von Bäumen vorbei. Abseits des gewohnten Pfades verlief dieser unsichtbare Weg durch die Schatten des Waldes; ein Pfad, der den Geheimnissen des Unterholzes folgte, unentdeckt von den Augen neugieriger Wanderer.
Der Waldboden fühlte sich unter seinen Füßen wie ein Samtteppich an, geschmeidig und dennoch
von einer unterschwelligen Spannung durchzogen. Jeder Schritt vermittelte ein leises Knistern, als
würde der Boden selbst lebendig werden und ihre Anwesenheit begrüßen.
Ihr Blick war rigoros nach vorne gerichtet, als hätte sie keinerlei Furcht über Wurzeln zu stolpern
oder in den Schlamm zu treten, als wäre ihr jeder Winkel dieses Pfades wohlvertraut. Schleifer
hingegen kämpfte darum, die zahlreichen Hindernisse im Dunkeln rechtzeitig zu erkennen.
Er hatte jedes Empfinden für Zeit und Richtung verloren.
Als sie einen Berg Totholz passierten, erhaschte etwas seine Aufmerksamkeit. Zwischen den von
Moos bedeckten Baumwurzeln formten Steine ein Muster, das sich in schier endlosen Windungen
ineinander verschlang. Möglicherweise hatten spielende Kinder die Steine so angeordnet, doch
irgendwas an dieser Erscheinung beunruhigte Schleifer. Es war zu symmetrisch, zu makellos für
Kinderhände; zu weit abseits des Weges, um Sinn zu ergeben.
Vielleicht waren es die Bäume, sinnierte er beiläufig.
Oder du warst es selbst.
Warum ihm dieser Gedanke plötzlich kam, konnte er nicht erklären, aber er füllte ihn mit einer
undefinierbaren Angst.
Der flüsternde Wind trug den Geruch von feuchtem Moos in seine Nase. Jeder Schritt führte tiefer in das undurchsichtige Labyrinth der Dunkelheit.
Das Plätschern von Wasser kam näher.
Sie erreichten einen kleinen Nebenarm des Segenbachs und Schleifer war fast verwundert, wie viel
Wasser darin floss.
Der Bach war an dieser Stelle etwa 1,50 Meter breit, auf der gegenüberliegen Seite fiel der Boden
steil ab.
Wortlos ließ sie seine Hand los, nahm kurz Anlauf und sprang elegant über das Wasser.
Was auch sonst, dachte Schleifer amüsiert.
Sie verschwand aus seinem Sichtfeld. Ihre Leichtigkeit im Überqueren des Baches deutete darauf hin, dass es auf der anderen Seite einen Weg gab, den er noch nicht sehen konnte.
Auch er sprang hastig hinüber und war ein wenig erleichtert, dass es so mühelos gelang.
Sie wartete und streckte bereits ihre Hand nach hinten, die er dankbar entgegennahm.
Gemeinsam schritten sie die kleine Böschung hinab.
„Schau.“, sagte sie und schob einige Sträucher beiseite.
„Das ist der Ort. Jetzt darfst du Leuchten.“
Sie waren an einem schlammigen Weiher, der größtenteils von Wasserpflanzen verdeckt wurde.
Der Platz befand sich inmitten einer Kette von Bäumen.
Er kannte diese Baumart von früher.
Es war ein Kreis aus Rotbuchen, der sie umschloss.
Die Luft war auf eine Art schwerer geworden, die er nicht wirklich beschreiben konnte.
Der Bodennebel war dünn, und dennoch konnte er seine Füße nicht mehr sehen.
Große Äste lagen überall verstreut wie tote Dinosaurierknochen.
„Wow!“, staunte Schleifer, obwohl er nichts schönes oder besonderes an diesem Ort erkennen
konnte.
In ihm stieg dennoch das Gefühl auf, angekommen zu sein.
Es war ihm gelungen, die düsteren Gedanken zu vertreiben, und er durchlebte erneut einen Wirbel
der Glückseligkeit.
Niemals hätte Schleifer daran gedacht, die Situation, so abseits mit ihr im Wald, auszunutzen. Eher
würde er seinen Schwanz abhacken, bevor er ihr Leid zufügen konnte. (Küss mich, du Nutte. Küss
mich, und dir passiert nichts.)
Wieder reichte sie ihm ihre Hand und drehte eine Pirouette.
„Bitte nehmen Sie Platz.“, sagte sie amüsiert und verwies tänzelnd auf einen breiten Baumstumpf,
dessen glatte Oberfläche die perfekte Sitzmöglichkeit bot.
„Oh, vielen Dank die Dame.“, sprach Schleifer in gespieltem Akzent.
Wann hatte er zuletzt so unbefangen mit einer Frau herumgealbert?
Oder generell mit einer anderen Person?
War das überhaupt schon mal vorgekommen?
Pscht, Junge. Genieß es einfach. Das ist der Neustart.

Er war so weit davongeschwebt, dass ihm die bedrückende Szenerie um ihn herum mittlerweile fast idyllisch vorkam. Die Magie hatte ihn befallen, zum ersten Mal in seinem Leben, und in ihrer
Gegenwart wirkte der dreckige Morast wie eine mysteriös-schöne Quelle der Nacht. Jeder Ort genügte, solange sie dabei war. Eng war sie an ihn gerutscht, ihre Schultern berührten sich. So Süß
der Duft, den sie ausstrahlte.
Die anrauschenden Wellen des Herzschlags wurden höher. Sie prallten gegen sein Innerstes und erschütternden in ihrer Heftigkeit jedweden Mut, den er verzweifelt zu schützen versuchte. Bevor
der Junge endgültig Besitz ergriff, musste etwas geschehen. Seine Hände schwitzten und er dachte an ihre vollen Lippen, die er so unendlich gerne küssen wollte. Tief gefangen in verliebten Träumereien saß er dort auf jenem modrigen Baumstumpf, weit abseits des Weges, und wunderte sich kaum, dass sie kein Wort mehr gesprochen hatte seitdem sie hier saßen.
„Ist dir nicht kalt?“, fragte er nochmal. Keine Antwort. Sie lehnte an ihm, den Kopf zur Seite gedreht, sodass ihr Gesicht verborgen blieb.
Wahrscheinlich wartete sie nur darauf, dass er den Arm um sie legte, warum hätte sie ihn sonst
hierherbringen sollen?
Schleifer atmete tief ein, kämpfte gegen die inneren Wellen, aber brachte dennoch nicht genügend Mut auf, seinen Arm um sie zu legen.
Schleifer, der einst im Drogenrausch eine junge Frau im Wald abfing.
Schleifer, der sie auf widerliche Art belästigte, ihr die fleischigen Finger um den Hals gelegt hatte und minutenlang so fest zupresste, bis ihr Leben auf dieser Erde für immer beendet war.
Schleifer, der nur stumpf dreinblickte, als sie verzweifelt um Gnade flehte.
Schleifer, der ihre Kehle mit Großvaters Jagdmesser durchtrennte, die Leiche mit Steinen beschwerte und anschließend in den See warf.
Schleifer, der nun zitterte wie Herbstlaub und mühevoll auf den Jungen einredete, ihm doch bitte
endlich Nähe zu erlauben. Nähe zu der schönsten Frau, die er jemals traf.
Schließlich klickte das Schloss.
Er legte den breiten Arm um sie und fühlte Wogen des Triumphs aufsteigen. Gerade als es schien, die Zuversicht würde den Gefühlsmarathon endgültig anführen, erstarrte der Siegeszug abrupt. Sie reagierte nicht auf seine Berührung. Er betrachtete sie und für einen absurden Augenblick dachte er, neben ihm sitze eine Puppe. Versteinert in einem hübschen Körper und schicken Kleidern, wie die Schaufensterpuppen im Kaufhaus.
Ihre Schulter fühlte sich sonderbar an. Er streichelte sie, aber es war, als streifte er über einen Sack Erde.
„Hee…“, flüsterte er und just in diesem Moment stach der Mond aus den Wolken hervor.
Schwaches Licht fiel auf den Baumstumpf herab. Und da meinte er, etwas wirklich Seltsames zu
erkennen.
Ein heller Fleck inmitten von zerzausten Haaren.
Ihre wunderschöne Haarpracht schien am Hinterkopf gelichtet. Nicht nur dass; die Haare waren dort weiß, und die Haut rissig. Apathisch starrte er darauf, ohne die optische Täuschung, die er
vermutete, zu durchschauen.
Da war eine große kahle Stelle an ihrem Kopf, umgeben von ungepflegten weißen Haaren, ohne Zweifel.
Sein Atem wurde schwer und er hatte das Gefühl, um jeden Luftzug kämpfen zu müssen.
Langsam, langsam.
War es nicht früher genauso? Erinnerst du dich? Wenn du als Kind längere Zeit ins Dunkle geschaut hast und plötzlich überzeugt warst, komische Dinge zu sehen?
Die Jacke an der Wand wurde zum Körper einer Kreatur, der Fußball in der Ecke zum abgeschlagenen Schädel. Man musste nur verrückt genug sein.
Und was ist schon verrückter als die Fantasie eines Kindes?
Höchstens ein einsamer Junkie nachts im Wald.
Zögerlich nahm er den Arm von ihrer Schulter. Er rückte zur Seite, gänzlich verwirrt, jedoch nicht
bereit, seinen Sinnen Glauben zu schenken. Sie war wunderschön, daran bestand kein Zweifel, egal was das Mondlicht für schauerliche Lügengeschichten inszenierte. Schleifer versuchte zu verstehen, was gerade geschah. Spielte sein gestörtes Wesen wieder verrückt, oder war er vielleicht sogar längst dem Irrsinn verfallen, ohne es recht zu bemerken?
War das Gehirn endgültig zermatscht vom Oxy?
Sein Blick wanderte angestrengt umher; über den zugewucherten Morast, die entlaubten Baumketten und den Vollmond am Nachthimmel.
Warum hatte sie ihn an diesen ekelhaften Ort gebracht?
Dann fiel sein Blick zurück auf sie.
Die Stelle an ihrem Kopf war verschwunden.
Er sah ausschließlich dichtes schimmerndes Haar.
Billige Manipulation, mehr nicht.
Sein Gehirn versuchte ihn zu manipulieren, so dachte er, weil es Angst vor dem Glück hatte; Angst
vor der Liebe, und weil es von Selbsthass kontrolliert wurde – aber das würde er nicht länger
akzeptieren. Ihm wurde klar, dass er den Kampf aufnehmen musste, jetzt oder nie.
Er musste sie küssen.
Sie wollte es, sonst hätte sie ihn nicht hierhin gebracht.
Wahrscheinlich schwieg sie deshalb, weil sie nicht verstand, worauf er wartete.
Wie kann ein erwachsener Mann nur so feige sein, dass er Halluzinationen bekommt, dachte er
wütend. Feigling! Jetzt versau es nicht!
Erneut drang Rascheln aus den Ecken des Waldes, der Wind fegte durch die Bäume und regelmäßig
rief der Uhu, unnachgiebig und laut. Doch all das nahm er nicht wahr.
Für ihn verstummte die Welt. In Zeitlupe drehte er ihren Kopf zu sich, bereit die Angst zu
durchbrechen. Jetzt oder nie. Der nervöse Junge sollte auf alle Zeit schweigen.
Und dann wurden plötzlich sämtliche Empfindungen, die ihn durchströmten, von einem einzigen
Gefühl niedergewalzt. Die Herzenswellen verebbten.
Entsetzliche Fluten türmten stattdessen am Himmel, bereit auf ihn niederzustürzen.
Eine Naturkatastrophe, so gewaltig, dass sie mit einem einzigen Happen die Gesamtheit der Dinge
verschlucken konnte.
Es war zu spät.

Als er die Wassermassen kommen sah, war ihm klar, dass er sogleich auf ewig in der pechschwarzen Tiefe verschwinden würde.
Gerade als er die Lippen spreizte und ihr näherkam, erfasste es ihn; zerschmettere augenblicklich
seinen Verstand, wie eine wuchtig geschwungene Axt, die auf morsches Holz trifft.
Der letzte Gedanke in Schleifers Leben, zumindest der letzte halbwegs verwertbare, war, dass er begriff, warum sie nichts mehr gesagt hatte.
In ihrem Hals klaffte ein Loch in der Größe eines Zwei Euro Stücks.
In dem Loch krabbelten kleine schwarze Punkte.
Insekten, die ihren Hunger stillten.
Kleine Würmer und Maden, die ihre Eier legten.
Als er in ihr Gesicht sah, war es bereits vorüber.
Jeder rationale Gedanke, sei es an Flucht oder Selbstverteidigung, war aus ihm emporgestiegen, wie der Nebel aus dem sumpfigen Gewässer. Ohne die Absicht, jemals wiederzukehren.
Das Wesen gab ein grässliches Röcheln von sich.
Schleifer saß bloß da und blickte auf das, was neben ihm saß.
Auf das, was langsam von dem Stumpf aufstand.
Weder war sein Mund geöffnet noch fielen ihm die Augen aus den Höhlen. Er trug den typisch
apathischen Gesichtsausdruck, den man bereits auf dem jedem Schulfoto von ihm identifizieren
konnte.
Als die verweste Hand ihm übers Gesicht strich, kalt und kratzig, und der Gestank nach verrottetem
Fleisch in der Luft lag, zuckte etwas in ihm.
Körpereigene Prozesse, die versuchten, die Schockstarre zu lösen indem sie das System mit Warnsignalen fluteten.
Es gelang nicht.
Bis das Wesen näherkam und ebenfalls die Lippen spreizte.
Nur waren dort keine Lippen mehr.
Auf groteske Weise zog es die Überbleibsel der Mundhöhle
zusammen.
Der Verwesungsprozess hatte weite Teil des Gesichts erfasst, die Mundpartie bis zur Nasenspitze zerfressen.
Doch jedweder Logik widersprechend, starrte Schleifer in zwei leuchtend blaue Augen.
Es verzog das Gesicht zu einer Art Lächeln.
Da waren faulige Knochen die herausragten - und auf einmal konnte er schreien, laut schreien, was
einer großen Erleichterung gleichkam.
Hell überschlug sich das Gebrüll aus seiner Kehle, fast wie bei einem Kind, das von der Schaukel fällt und sirenenartig drauflosschreit.
Kurz bevor er endlich seinen Kuss bekam, schrie er noch immer hysterisch in die Nacht.
Nur konnte ihn hier, soweit abseits des Weges, keine Menschenseele hören.
Das Geschrei wurde zu einem vibrierenden, dumpfen Laut als es das lippenlose Gesicht über seinen Mund stülpte.
Es umklammerte Schleifers Kopf und er spürte die reibenden Knochen an seinen Vorderzähnen. Dann kroch etwas Raues, Aufgedunsenes aus dem Schlund hervor und glitt über seine Zunge.
Er zappelte krampfhaft wie ein Fisch, der an Land gespült wurde, presste energisch die Lippen zusammen und begann zu jaulen, als hätte man ihm eine Kugel ins Bein gejagt.
Ersticktes Wehklagen brach in panischer Verzweiflung aus seinem Mund hervor.
Es dauerte kaum zehn Sekunden, da war der Laut erloschen.
Das Wesen hatte ausgeholt und Schleifer sank sofort von dem Stumpf auf den matschigen Waldboden.
In Todesqualen drückte er den Riss an seinem Hals zusammen.
Warmes Blut schoss hervor, tröpfelte durch fleischige Finger.
Großvaters Jagdmesser glitt aus der Tasche und fiel in den Dreck.
In der Ferne ertönten die Rufe des Uhus.
Furchtbarer Gestank erfüllte die verbliebenen Atemzüge.
„Argh, arrrrrgghhh“, krächzte er.
Aus einem trüben Schleier sah er noch, wie sich das Wesen über ihm aufbaute und das frische Blut
von den Klauen leckte.
Es kniete auf ihm, das zersetzte Gesicht ganz nah.
„Küss mich.“, hauchte es mit sanfter Frauenstimme.

counter3xhab ich gern gelesen

Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

Einen Kommentar schreiben

geschrieben von Rayna am 11.03.2024:

Sehr gut geschrieben, hat mir gut gefallen

Weitere Kurzgeschichten von diesem Autor:

Möge Frieden