Veröffentlicht: 19.05.2024. Rubrik: Unsortiert
Unterfordert
Eigentlich ein unbeschwertes Leben, mitten im Grünen am Rande einer Stadt mittlerer Größe. Unsere Familie lebt sehr zurückgezogen in diesem Stadtteil, zu engeren Kontakten mit anderen Bewohnern kommt es selten. Diese Distanz ist nicht nur der Tatsache geschuldet, dass wir uns von dem dort ansässigen Durchschnitt äußerlich unterscheiden, von dieser hier gelebten Attitüde des gehobenen Mittelstands, sondern man hält unsere gesamte Familie, gerne auch schon mal 'die Sippe' genannt, alle für Versager. Diese Schnösel, was wissen die schon!
Allein schon der Bezug zu den Biografien meiner Vorfahren, sie waren allesamt potentiell begnadete Künstler, spricht dagegen, und falls verkrachte Existenzen, dann höchstens wegen Unterforderung. Sicher weiß ich dies über die Vita meines Großvaters väterlicherseits. Dessen voraussehbare bedeutende künstlerische Laufbahn wurde durch die Nachkriegswirren des Ersten Weltkriegs zunichte gemacht. Er musste nach Kriegsende seinen Lebensunterhalt als Aushilfskraft in einer kleinen Schildermalerwerkstatt bestreiten – weit unterfordert. Meinem Vater erging es nicht besser. Mit ebensolchen Genen ausgestattet, fristete er sein Dasein als Kriegsheimkehrer in der Tätigkeit eines ungelernten Anstreichers. In dieser Zeit schwängerte er meine Mutter und führte den Minibetrieb seines Schwiegervaters fort, was seiner Begabung nicht im Entferntesten entsprach. Sein Plan, mir als seinen einzigen Sohn die Möglichkeit zu bieten, die familiäre Begabung für die bildende Kunst mit Leben zu füllen, ging letztlich auch nicht auf.
Denn ich sah mich von Anfang an als großen freischaffenden Künstler, für den die Kunstwerkschule einer Erziehungsanstalt glich. Aus dieser stieg ich beizeiten aus und führte das Leben eines Bohemiens, auch was das Liebesleben betraf. Vier Kinder von drei Frauen waren das zählbare Ergebnis. Bei einer von diesen blieb ich hängen und legte alle Kraft in den Werdegang meines Sohnes. Dieser ist mit den erkennbar besten Künstlergenen der Sippe ausgestattet. Ich verkaufte meine Arbeitskraft weiterhin deutlich unter Wert, wurde so der nächste Unterforderte. Und dieser Sohn, seine Halbgeschwister sind allesamt in bürgerlichen Berufen erfolgreich, wurde zunächst der Star an einer der führenden Kunsthochschulen der Republik. Bis er sich dort unterfordert fühlte und abbrach. Das jahrelange Tingeln als Straßenmaler und begnadeter Kopist durch die Fußgängerzonen Südeuropas führte ihn irgendwann auf eine griechische Insel. Hier ermöglichten ihm das Fälschen weltbekannter Gemälde ein jahrelang angenehmes Leben. Die Bilder von El Greco, dessen Vorfahren von einer der Nachbarinseln stammen sollen, wurden seine Spezialität. Doch irgendwann erfüllte ihn das reine Kopieren nicht mehr. In seiner Genialität schuf er verschiedene Werke großer Meister, die auffielen, weil sie fast besser als das Original waren. Solche Kopien sind durchaus erlaubt, nur dürfen sie nicht die Signatur des Originals aufweisen. Daran hielt er sich in seiner Hybris nicht und fälschte das Signum gleich mit; er wurde entlarvt.
Durch die andere große Familienbegabung, die erfolgreiche Zuwendung zum weiblichen Geschlecht, hatte er auf dem ägäischen Eiland Zugang in die Familie des Bürgermeisters gefunden. Dieser bewahrte ihn vor einer Haftstrafe wegen Kunstfälschung, allerdings mit der Auflage, die Insel nicht verlassen zu dürfen und die Kirchen der Region bei Bedarf mit Ikonenmalereien zu bestücken. Mein Sohn Golo ist dann dort tatsächlich sesshaft geworden, und trotz seiner Unterforderung äußerst erfolgreich. So wurde er zu einem bewunderten Ikonenmaler für orthodoxe Kirchenmalerei im östlichen Mittelmeerraum. In seinem unermüdlichen Schaffensdrang malt er Ikone um Ikone, viele eigene Motive darunter, und falls Kopien, dann nur mit seiner eigenen Unterschrift versehen. Diese Kunstfertigkeit ist inzwischen so einträglich, dass er seiner Familie durch finanzielle Unterstützung das Leben in einem ansonsten schnöseligen Milieu in einer piefigen Stadt in Deutschland ermöglichen kann. Von wegen alles Versager.