Veröffentlicht: 04.07.2024. Rubrik: Historisches
Der Patientenrekorder
Das wäre ein wesentlich treffenderer Name für die kleinen, tragbaren Tonbandgeräte gewesen, die den technischen Fortschritt der 70er widerspiegelten. Schließlich bedeutet „patiens“ nichts anderes als „dulden“ oder „leiden“. Und jeder, garantiert jeder, der im Besitz eines solches Gerätes war, der hatte beides: geduldet und auch gelitten.
Es klang so verlockend: Lieblingsmusik für die Ewigkeit auf Magnetbändern aufnehmen und zu jeder Zeit und an jedem Ort anhören können. Nie mehr Taschengeld für Schallplatten opfern müssen. Einfach ein Mikrofon vor das Radiogerät stellen und in dem Moment, in dem ein Lieblingslied gespielt wurde, zwei Tasten des Kassettenrekorders gleichzeitig drücken – aber nicht zu ruckartig, das hätte man bei der Wiedergabe gehört – und schon war die Aufnahme gestartet. Eine Tonaufnahme, die auch den Ruf der Mutter für alle Zeiten festhielt: “das Essen ist fertig“. Oder eine Geisterfahrermeldung im Radio, die nicht bis zum Ende des Liedes warten konnte. Jedes Hüsteln, Niesen und Räuspern mischte sich mit den schmachtenden Klängen von „Killing me softly“ . Wie passend.
Theoretisch konnte man solche Fehlaufnahmen überspielen. Die Betonung liegt auf „theoretisch“. Denn das Band exakt so weit zurück zu spulen, dass man nicht den Schluss des vorangegangenen Liedes abschnitt oder evtl. noch die ersten Töne von „Killing me softly“ beibehielt, bedurfte viel – sehr viel Geduld. Womit wir auch schon wieder bei dem Pseudonym „Patientenrekorder“ wären.
Es kam der Tag, an dem man es geschafft hatte, auf jeder Kassettenseite 30 bis 60 Minuten Musik zu verewigen, die akribisch in einem Index dokumentiert war. Der Schweiß war getrocknet, die Schimpfwörter vergessen und fast die Hälfte der Musiktitel nicht mehr aktuell. Längst gab es neue Titel und Interpreten, die auf den obersten Sprossen unserer Favoritenleiter Platz genommen hatten.
Kein Problem. Dafür gab es eine Schnelllauffunktion, mit der es möglich war, „Alte Kamellen“ einfach zu überspringen. Das Risiko, den Aufspulmechanismus der Kassetten dabei zu überfordern, wurde ignoriert und die Strafe folgte auf dem Fuße: Bandsalat. Der Blutdruck stieg und die Schweißperlen benetzten Stirn und Hände. Hilfe ! Jetzt blos nicht hektisch werden. Das sagt sich so leicht, aber um die Musikkassette, mit dem zerknitterten Band, aus dem Rekorder zu entfernen, brauchte es eine ruhige Hand. Geschafft. Nun folgte Rettungsschritt zwei. Mit Hilfe eines Bleistifts – mit sechskantigem Schaft, der genau in die Öffnung der Kassettenspule passte - musste der Tonträger, Meter für Meter, wieder aufgewickelt werden. Klingt einfach, ist aber nicht so und vor allem war es stets nur eine Rettung auf Zeit, denn durch zu lockeres Aufwickeln und nicht mehr glatte Magnetbänder war der nächste Bandsalat nur eine Frage der Zeit. Das Band riss oder war derart verheddert, dass die Kassette ihre letzte Reise antreten musste: im Müll.
Eine neue Kassette musste angeschafft werden ( Leiden im Preis inbegriffen ).