Veröffentlicht: 04.08.2024. Rubrik: Persönliches
Die verlorene Kindheit
Eine fortgeschrittene Demenz schien die Erinnerungen bei meiner Mutter schlichtweg abgeschnitten zu haben. Es waren aber nicht die Andenken an ihre, weit zurück liegende, Kindheit, es war das Heute und das Jetzt, das für sie keine Bedeutung mehr hatte. Meine Frage „Was gab es denn heute zum Mittagessen?“ oder „Gab es heute auch Kaffee und Kuchen ?“ beantwortete sie mit einem gleichgültigen Achselzucken. Die mentale Schublade, in der man das Tagesgeschehen einordnet, war bei meiner Mutter fest verschlossen.
Aber da waren ja noch so viele andere Fächer in ihrem geistigen Archiv, die nur auf den richtigen Impuls warteten, um sich zu öffnen und ich wählte ausgerechnet das Fach, das sich unter einem Stapel von mehr als 80 Lebensjahren befand: ihre Kindheit. Es schien, als wäre ein Wasserhahn, bis zum Anschlag, geöffnet worden, so sprudelten die detaillierten Geschichten aus ihrem Munde hervor. Besuche bei ihrer Großmutter, wo sie mit den Worten empfangen wurde: “Was willst Du denn schon wieder hier ?“ Die Toilettenspülung, die mit einer Kette betätigt werden musste. Der tote Körper, des kleinen Bruders, der an Scharlach gestorben und im Wohnzimmer aufgebahrt war. Und dann kommt der 8. Geburtstag und das Jahr, an dem sie aus ihrer Familie herausgerissen wurde: „ Die Kinderlandverschickung“. Die Augen meiner Mutter füllten sich mit Tränen und sie schien plötzlich wieder das hübsche Mädchen, mit langen blonden Zöpfen und einem verträumten Blick zu sein. Ängstlich, unschuldig, teilweise zornig beschreibt sie, wie sie mit einem kleinen Köfferchen in einen Zug gesetzt wurde. Das Abteil voller gleichaltriger Kinder, auf dem Bahnsteig weinende Erwachsene. Niemand hatte eine Antwort auf ihre Frage „Wohin ?“. Nur der Name des Bahnhofs, an dem ihre vorläufige Endstation sein würde, war bekannt. Die Antwort auf das „Warum ?“ konnte und wollte sie nicht glauben. Was sollte gut daran sein, wenn sie all das, was ihr vertraut und wichtig war, zurücklassen musste? Warum sie und nicht ihre jüngeren Geschwister ? Sie war überzeugt davon, dass man sie abgeschoben und nicht mehr lieb hatte. Fast zwei Jahre lebte sie bei den Besitzern einer Marmeladenfabrik – eine Ewigkeit für ein Kinderleben. Sie beschreibt, bis ins kleinste Detail, ihr damaliges Umfeld, Heimweh und Ängste. Sie beschreibt, wie sie „Bickbeeren“, zusammen mit den anderen Kindern im Sommer pflückte, aus denen in der Fabrik Heidelbeersirup und Konfitüre hergestellt wurde. Eine Wanderung nach Rotenburg an der Wümme, wo sie in einem Kinderchor für die verwundeten Soldaten singen musste, die bei ihrem Anblick an die eigenen Kinder erinnert wurden und ihre Tränen nicht zurückhalten konnten.
Vor dem inneren Auge meiner Mutter lief ein Film ab und sie erklärte mit in einer beeindruckenden Präzision, was sie sah - obwohl sie erblindet war.
Der Film läuft weiter und sie beschreibt die Rückkehr zur Familie, bei der sie erfahren musste, dass ein anderer Mann an der Seite ihrer Mutter lebte und der geliebte Vater nicht mehr da war. So hatte sie sich ihre Rückkehr nicht vorgestellt.
So, wie die Jahre in den Erzählungen meiner Mutter vergingen, so verstrich auch die Zeit im Hier und Jetzt. Die Tür ihres Zimmers im Pflegeheim öffnete sich: „Frau Ruth, wir wollten sie zum Abendessen holen.“ Sie hielt den Film ihrer Erinnerungen an und antwortete gleichgültig: „Ja, ist gut“. Erst jetzt startete das Kopfkino bei mir. Ich hatte in wenigen Stunden mehr über meine Mutter erfahren, als in den vergangenen 60 Jahren. „ Danke Mama, jetzt verstehe ich “ .