Veröffentlicht: 22.11.2024. Rubrik: Menschliches
Versprochen
Gerädert kam sie an der Bushaltestelle an, gerade noch rechtzeitig.
Ihr Auto war in der Werkstatt, also musste sie den Bus nehmen. Ein paar Schritte entfernt stand eine alte Holzbank. Sie ging hinüber, um dort zu warten.
Neben der Bank saß eine alte Frau im Rollstuhl. Ihr Gesicht war von feinen Falten durchzogen.
Als sie sich umsah, bemerkte sie ein Kleidungsstück auf dem Boden hinter dem Rollstuhl. Spontan hob sie es auf, eine gestrickte Weste, vermutlich handgemacht.
Sie lächelte. Sie strickte selbst gern.
Vorsichtig ging sie am Rollstuhl vorbei, stellte sich davor und reichte der Dame die Weste.
„Ich glaube, die gehört Ihnen. Sie sieht aus wie selbst gestrickt, oder?“ sagte sie freundlich.
Die alte Dame lächelte.
„Ja, danke! Dass es so etwas heute noch gibt, bei jungen Leuten! Die habe ich vor Jahren gestrickt, als meine Augen noch gut waren.“
„Ich stricke auch gerne“, erwiderte sie und so kamen sie ins Gespräch.
Sie setzte sich neben die Frau auf die Bank. Die ältere Dame sprach viel, und sie hörte zu.
Zwischendurch fragte sie nach ihrem Namen.
„Frau Eck“, antwortete die Dame.
Der Bus kam bald. Beim Aufstehen sagte sie noch:
„Vielleicht sehen wir uns ja wieder hier, das würde mich freuen, …“
Doch der heranfahrende Bus unterbrach ihren Satz. Sie verabschiedete sich schnell.
Einige Tage später holte sie ihr Auto aus der Werkstatt und fuhr mit dem Bus zurück zur Haltestelle. Ihr erster Blick galt der Bank – doch Frau Eck war nicht da. Langsam ging sie darum herum, bückte sich sogar ein wenig, als wolle sie unter die Bank schauen.
„Also wirklich... übertreib nicht“, sagte eine Stimme in ihr.
Sie wollte schon weitergehen, doch ihre Füße zögerten. Der Wind schien sie zurückzuhalten. Etwas in ihr bewegte sich, eine Mischung aus Wärme und Kälte durchfuhr sie.
In der Nähe gab es ein Altersheim, das fiel ihr wieder ein.
Entschlossen überquerte sie die breite Hauptstraße und lief den schmalen Gehweg entlang, stadtauswärts. Doch das Heim lag weiter entfernt, als sie gedacht hatte, mindestens ein halber Kilometer.
Schließlich sah sie auf der anderen Straßenseite einen großen Torbogen. Langsam ging sie hindurch. Dahinter lag ein riesengroßer Garten, davor ein Parkplatz. Sie folgte dem Weg, öffnete die breite Glastür und trat in den Eingangsbereich.
Ihr Blick schweifte kurz über eine Café-Lounge; sie konnte von Weitem ein paar Stühle und Tische erkennen.
Hinter einer Theke saß eine junge Frau, gelangweilt blätterte sie in Unterlagen.
Sie trat an die Theke. Die Frau blickte auf.
„Kann ich Ihnen helfen?“
„Wohnt hier eine Frau Eck?“ fragte sie entschlossen.
Die junge Frau drehte ihren Bürostuhl zur Seite, legte die Finger an die Tastatur, ihre Finger schwebten darüber, dann blickte sie auf und fragte:
„Sind Sie eine Verwandte?“
Diese Frage traf sie unvorbereitet.
Eine Verwandte?
Sie wandte sich ab. Beim Hinausgehen warf sie noch einen Blick in die Café-Lounge. Dort saßen drei alte Damen in Rollstühlen, während eine Mitarbeiterin Kuchen in die Vitrine stellte.
Sie überlegte, ob sie jemanden fragen sollte, doch etwas hielt sie zurück. Ihr ganzer Körper schwitzte. Sie musste raus.
Sie rannte den Weg zurück Richtung Stadt. Ihre Gedanken überschlugen sich:
„Ich muss noch das Auto holen und ich habe einen wichtigen Termin! Komm, du musst weiter, du musst den Termin schaffen!“
Abends auf dem Sofa wurde es still. Nur ihre Gedanken redeten mit sich selber und mischten sich ein.
Ich habe es versprochen! Ich erinnere mich. Frau Eck wollte das Heim wechseln, weil sie dort schlecht behandelt wird. Ich erinnere mich auch an die blauen Flecken an ihren Handgelenken... Was soll ich tun?“
Sie fasste einen Entschluss:
Ein Brief!
Sie nahm ein Blatt aus dem Notizblock, schrieb eine kurze Nachricht, steckte sie in ein kleines, violettes Kuvert – und warf es am nächsten Morgen in den Briefkasten des Altersheims.
Schönen Gruß, Frau Eck
Ich habe mein Versprechen nicht vergessen.
Nachwort:
„Manchmal begegnen wir einem Menschen nur kurz – und doch bleibt etwas hängen. Vielleicht ein Lächeln, vielleicht ein Versprechen. Und manchmal… verändert so ein Versprechen mehr, als wir ahnen.

