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4xhab ich gern gelesen
geschrieben von Federteufel.
Veröffentlicht: 01.06.2025. Rubrik: Unsortiert


Ein warmer Regen

Unverhofft kommt oft, sagt man, doch auch meist zur falschen Zeit, und dann auch noch höchst ungelegen.
Jemand benutzte den Begriff 'warmer Regen', und schon war sie wieder da, die Erinnerung an eine Schandtat meiner frühen Jugend . . .
Es ist ein warmer Frühlingstag im Mai, ein Sonntag. Der Mittagstisch ist im Garten hinter dem Haus gedeckt.
Nach dem Essen fängt die Großmutter an zu erzählen. Ihr Singsang und der volle Bauch machen müde. Onkel Rudi hat die Hände über den Bauch gelegt und starrt mit glasigen Augen ins Weite. Roswitha, eine ältere Nachbarin, Kopf im Nacken, schnarcht mit offenem Mund. Tante Erna kratzt gerade mit Leidenschaft die Kompottschüssel aus. Meine Mutter und Tante Gattchen räumen ab.
Mir ist sturz langweilig.
Da steht der Birnbaum . . .
Er ist krumm und schief, gebeugt von Sturm, Alter und von von der Last der überquellenden Früchte, die ihn jedes Jahr beschweren. Sein Stamm ist so schief, dass ich ihn bequem und fast ohne Hilfe, allerdings unter ständigen Ermahnungen, nicht hinunterzufallen, besteigen kann. Ha! Typische Erwachsenenlogik: Als ob die hypothetische Gefahr, abzustürzen, den ideellen Zugewinn eines Blicks über den Tellerrand aufwiegen könnte! In der krummen Krone klemme ich mich in eine Astgabel. Ah, welch ein Ausblick! Herrlich! Und obwohl meine Sicht nur bis zu den Getreidespeichern am Hafen reicht, berauscht mich die unbegreiflichen Weite der Stadt. Auf einmal kommt mir die Welt unendlich groß und verlockend vor.
Ein leichtes Ziehen in meiner unteren Körperhälfte beachte ich nicht. Zu faszinierend ist der Blick ins Weite. Doch allmählich wird das Ziehen drängender, zwingender, despotischer. Ich kneife die Beine zusammen; es nützt nichts. Verdammt, ich muss mal pinkeln, und zwar dringend. Hab ja auch ordentlich Limonade getrunken. Doch jetzt den schönen Hochsitz verlassen? Der Abstieg den blank gewetzten Stamm hinunter ist eine lausemäßig unsichere Angelegenheit. Und weiß ich, ob ich noch mal hoch darf? Was mach ich bloß . . .
Ich blicke hinunter. Großmutter erzählt immer noch, als bekäme sie´s bezahlt; die Zuhörer schweigen andächtig, niemand kümmert sich um mich. Kein Lüftchen weht. Kurzentschlossen knöpfe ich mir die Hose auf und pinkele in hohem Bogen –
Ein heftiger Windstoß macht die träge Sonntagnachmittagsstimmung zunichte. Onkel Rudi springt entsetzt auf und betupft mit einem Taschentuch seine Glatze. Tante Erna erkennt als erste, woher der warme Regen kommt und läuft schimpfend ins Haus. Meine Mutter . . . Ich entsinne mich nicht mehr, was sie sagte, aber ich erinnere mich noch sehr genau an ihr böses Gesicht. Und auch an den Kommentar, den die Großmutter, die geborene Ostpreußin, abgab: „Dat Lorbass´che, nä, nä!“

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Kargut am 01.06.2025:

Wunderbar geschrieben und sehr gerne gelesen.
LG Kargut




geschrieben von Babuschka am 01.06.2025:

Es ist zwar vorher schon zu erahnen, wie die Geschichte ausgeht, aber das Ende dann mit Genuss zu lesen erschien mir herrlich pikant.
LG Babuschka




geschrieben von Jens Richter am 02.06.2025:

Hallo Federteufel, konnte mich beim Lesen des Textes richtig in Deine Gedanken hineindenken.
Hab jetzt noch ein Schmunzeln im Gesicht.
Viele Grüße von Jens




geschrieben von Federteufel am 02.06.2025:

Ich danke euch für eure Kommentare. Waren mir ebenfalls ein Genuss.
LG, Federteufel

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