Veröffentlicht: 17.06.2025. Rubrik: Unsortiert
Adressiert an Mme Lefebvre
Die Junisonne tauchte die Stadt am frühen Morgen in ein goldenes Licht, wie es typisch ist für die Provence: Es ist nicht nur hell, es ist wunderbar hell.
Für Madame Lefebvre, wohnhaft in Avignon, nicht weit entfernt von der Hutgasse, warf der freundliche Morgen einen dunklen Schatten, als sie den Briefkasten öffnete und ihr zwei Briefe entgegenfielen. Der eine war ein Geschäftsbrief an ihren Mann, Monsieur Lefebvre, den ein Kunde versehentlich an seine Privatadresse geschickt hatte. Der andere Brief trug die Aufschrift „An Mme Lefebvre" und keinen Absender, weder auf der Vor- noch auf der Rückseite. Sie brachte beide Briefe ins Haus, warf sie auf den Küchentisch - den Geschäftsbrief würde sie M. Lefebvre später bringen - und öffnete den an sie adressierten Brief, entnahm ihm einen Zettel in DIN-A-Form, faltete ihn ungeduldig auseinander und las:
„Chère Madame Lefebvre,
Ihr Mann hat eine junge Geliebte! Ein Irrtum ist ausgeschlossen.
Eine Freundin"
Was für ein Unsinn. Mme Lefebvre seufzte. Hatten die Leute nichts Besseres zu tun? Sie würde sich mit M. Lefebvre zum Mittagessen in der Stadt treffen - das taten sie immer - und ihm beide Briefe mitbringen. Über den anonymen Brief würden sie sich beide amüsieren.
Für das Mittagessen machte Mme Lefebvre sich sorgfältig zurecht. Sie wählte ein hübsches Sommerkleid in gelber Farbe mit halblangen Ärmeln, die ihre nicht mehr ganz so straffe Haut an ihren Oberarmen gut versteckten. Mme Lefebvre war vor zwei Monaten 60 Jahre alt geworden, und sie hatte nicht vor, sich ihr Alter ansehen zu lassen. Sie schminkte sich (hatte sie wirklich so viele kleine Falten im Gesicht?), setzte den Sommerhut auf, den ihr Pierre, ihr gemeinsamer Sohn, zum Geburtstag geschenkt hatte, warf einen anschließenden Blick in den Spiegel und lächelte. Eine junge Geliebte? Pah. Als ob M. Lefebvre das nötig hätte.
Im Restaurant setzte sie sich an einen Tisch auf der großen Terrasse und konstatierte, dass jede Menge Touristen unterwegs waren, wie immer um diese Jahreszeit. Am linken Nebentisch sprach man Deutsch, am rechten Englisch; das Restaurant war gut gefüllt. Mme Lefebvre fiel eine junge Frau mit blonden langen Haaren drei Tische weiter auf, grazil, anmutig, ohne Zweifel eine Französin. Wenn M. Lefebvre eine Geliebte hätte, wäre es dieser Typ, überlegte sie, denn genau so hatte Mme Lefebvre in jungen Jahren ausgesehen. Wäre es möglich?
M. Lefebvre kam ins Restaurant, küsste sie zur Begrüßung auf die Wange und setzte sich.
„Chérie!" Mme Lefebvre lächelte.
„Wartest du schon lange?", fragte er.
„Nein. Ich habe etwas mitgebracht."
Sie reichte ihm den Geschäftsbrief über den Tisch. Den anderen würde sie ihm später zeigen. Heute Abend. Oder gar nicht. Warum sollte sie ihre Ehe damit belasten? Ausgeschlossen, dass M. Lefebvre eine Geliebte hatte, auch keine junge.
„Danke", sagte M. Lefebvre und steckte den Brief ein. „Hast du dir schon was ausgesucht?"
„Ich möchte nur eine Kleinigkeit", antwortete Mme Lefebvre. Bei junger Konkurrenz musste man wachsam sein. Ein paar Pfund abzunehmen konnte nicht schaden. Und schaute M. Lefebvre nicht ab und zu in die Richtung der jungen Blonden?
Von diesem Tage an betrieb Mme Lefebvre ein Schönheits- und Gymnastikprogramm. Sie ging jeden Tag zweimal joggen, in den Beautysalon und ließ sich die Haut an einigen Stellen am Körper straffen.
Dumm nur, dass ihr Herz, das ihr keiner hatte jünger machen können, das viele Joggen nicht aushielt und sie irgendwann tot umfiel - einfach so. „Herzversagen", sagte der Arzt zu M. Lefebvre, „sie hat sich in ihrem Alter einfach mit dem vielen Sport übernommen."
M. Lefebvre nickte bekümmert. „Ich habe ihr gesagt, dass sie übertreibt. Und dass sie das gar nicht braucht. Ich liebte sie doch so, wie sie war."
Ein Jahr später heiratete M. Lefebvre noch einmal: eine junge Blonde, mit straffem, durchtrainiertem Körper. Denn er hatte sich überlegt, dass eine junge, sportliche Frau sicher nicht vor ihm sterben würde.

