geschrieben 2024 von Stevie Tagwerker.
Veröffentlicht: 25.09.2025. Rubrik: Unsortiert
Jenseits der Schule
Jenseits der Schule
Die Zeit schreitet voran, der Kalender markiert Donnerstag, den 30. Oktober 2014. Mal wieder EH-Unterricht in meiner alten Schule im Olympischen Dorf. Vor einer knappen Stunde bin ich aus dem Poly raus, war eben noch die Lebensmittel für den anstehenden Unterricht einkaufen. Es gibt Sugo Bolognese, als Alternative kochen wir Soja-Gemüsesugo, natürlich mit Vollkornnudeln. Beilage grüner Salat, Dessert Vanilletopfencreme. Da haben nicht nur die Kids zu tun, sondern auch ich. Start um 14 Uhr 10, kurze Besprechung, Kluften anlegen, Hände waschen, Kluften und Hände kontrollieren, Einweghandschuhe für die Nagellackfraktion, Einweghandschuhe für jene Hände, die als Notizzettel und Keilrahmen zweckentfremdet wurden, erklären, waschen, putzen, schneiden, mixen, zupfen, kochen, garen. Servieren, gemeinsam essen, etwas Tischmanieren besprechen und demonstrieren, abräumen, abspülen, abtrocknen, verräumen. Um 16 Uhr 40 sollte dann die Küche wieder picobello sein. Ich parke meinen Fiat Marea direkt neben der Schule in der Kajetan-Sweth-Straße, benannt nach dem Sweth Kajetan, dem Schreiber Andreas Hofers. Von den Balkonen und Fensterbänken der umliegenden Häuser grinsen Kürbisschnitzereien und hängen Papierskelette, einige Balkone sind in Spinnweben gehüllt. Andere Urlaubsdomizile der teils unterprivilegierten Schicht dienen als Startrampe für kleine Hexen auf ihren Besen. Halloween steht kurz bevor. Allerheiligen. Samhain. Einst der Übergang ins neue Jahr, da, wo die Erntezeit endet, um dem nahenden Winter Platz zu machen. Tage und Nächte, in denen die Grenze zum Jenseits sehr dünn ist. Heute jährlich wiederkehrendes Konjunkturpaket für nichtsnutziges Zeug und kostümierte Kinder, die Süßigkeiten einsammeln. Das Wohnviertel im Olympischen Dorf ist eine der letzten Gegenden in Innsbruck, wohin die Besatzungsmacht der Kurzparkzonenautomaten noch nicht vorgerückt ist. Ich nehme die Einkaufstaschen aus dem Kofferraum und schleppe sie über den knochensteingepflasterten Vorplatz Richtung Eingang. Da kann man sagen, was man will, und vielleicht messe ich dem ganzen etwas zu viel Bedeutung oder was auch immer bei, aber jedes Mal, wenn ich zum Eingang gehe, frage ich mich: Wie abgefahren ist das eigentlich? Ich unterrichte doch tatsächlich in jener Schule, die ich selbst vier Jahre lang besucht habe! Das kommt mir schon ziemlich bedeutungsschwanger vor, da fehlen mir fast die Worte, wahrscheinlich, weil es alles andere als das ist. Aber jedes Mal, wenn ich über diesen Vorplatz gehe, fallen Erinnerungen aus allen Richtungen, von fast jedem Quadratmeter über mich her. Da, auf dieser Mauer sind wir gesessen und haben Tricotronicspiele gezockt. Donkey Kong, Bombsweeper, Life Boat und Punch Out. Es war das Zeitalter vor dem Gameboy. Dann, in der vierten Klasse, auf demselben Platz auf derselben Mauer dann die Gameboys: Super Mario, Zelda, Gargoyles Quest und natürlich Tetris. Mit dem Linkkabel konnte man das sogar gegeneinander spielen. Dort drüben habe ich Schläge bekommen, da hinten auch mal, und da vorne auch, dort habe ich Daniela, meiner Freundin aus Kindheitstagen, an einem dunklen Winterabend nach dem Maschinschreibunterricht einen Kuss auf die Wange gegeben. Dann sind wir einige Meter Hand in Hand, die Dunkelheit in Errötung erhellend, über den Platz gegangen. Und jetzt fällt mir gerade ein, wie ich als Zehnjähriger zum allerersten Mal an meinem ersten Schultag in der Hauptschule durch das gläserne Portal, der stählerne Rahmen dunkelblau lackiert, geschritten war. Ein Viertklässler, den ich bis dahin nicht gekannt hatte, der große Mitterbacher, zog die Tür auf und ich ging rein. Sehr nett, ich bedankte mich. Aber etwas zerrte plötzlich an meinem nagelneuen Schulrucksack, grob wurde ich nach hinten gezogen. Ich wurde mir eines violetten Meteoritenschauers gewahr, der mir von der grobschlächtigen Mitterbacherhandfläche ins Gesicht gewatscht wurde. Ich ging zu Boden, links und rechts strömte Gelächter an mir vorbei ins Schulhaus. Ja, ja, die gute alte Zeit.
Und ebendiese Tür will ich jetzt aufziehen, doch sie verweigert mir den Einlass. Ich rüttle daran, sie bleibt verschlossen. Wie jetzt? Ist etwa Wochenende? Was? Ich lehne meine Stirn an die Scheibe, verdunkle mit meinen Händen mein Blickfeld und linse ins Gebäudeinnere. Ziemlich dunkel. Keiner da. Wir schreiben eine Zeit, in der nicht nur in Tirol, sondern in ganz Österreich die Herbstferien noch nicht einheitlich geregelt sind. Einige Schulen halten ihre Pforten zwischen dem Nationalfeiertag am 26. Oktober und Allerseelen geschlossen. Wie anscheinend auch die Neue Mittelschule Olympisches Dorf. Andere haben normalen Schulbetrieb, wie das Polytechnikum Innsbruck, das nur wenige hundert Meter Luftlinie entfernt im Osten Pradls auf der anderen Seite des durchs Tirolerland mäandernden Inns liegt. Mir braucht ja keiner was zu sagen, ich bin hier ja nur - und das kann man ruhig so formulieren - eine vernachlässigbare Nebenlehrkraft, ich unterrichte drei Stunden pro Woche Kochen, und da auch nur jeweils eine halbe Klasse. Dann werde ich eben heute bei mir zu Hause recht viel Sugo vorkochen und einfrieren. Irgendwie bin ich gar nicht böse darüber, ein freier Nachmittag mehr. Denn so gern ich unterrichte, muss ich an dieser Stelle gestehen, nicht zu unterrichten und frei zu haben und in der wohligen Wärme meiner kleinen Küche zu arbeiten, ist mir noch ein Stück lieber. Obwohl die Mehrdienstleistungsstunden, die ich heute nicht halten würde, unbezahlt bleiben sollten. Ich gehe zurück zum Auto, lade die Einkaufstaschen wieder in den Kofferraum und gerade, als ich im Begriff bin einzusteigen, halte ich kurz inne. Es ist oktoberkühl, der Himmel blitzblau, rasterähnlich von hohen Kondensstreifen durchzogen, bunt das Laub auf den Bäumen, welk die Blätter, die feucht, aber nicht nass am Boden liegen. Vielleicht sperrt mein vernachlässigbarer Nebenlehrkraftsschlüssel ja nicht nur die Lehrküche, sondern auch den Eingang auf. Passt vielleicht noch in andere Schlösser. Und ich kann mich im leeren Schulhaus herumtreiben. In mein altes Klassenzimmer, den Werkraum, den Musiksaal, den Videoraum, den Maschinschreibsaal, die Turnhalle gehen. Und schauen. Und wirken lassen. In Erinnerungen schwelgen, mich ein kleines bisschen der Melancholie der gnadenlos vergehenden Zeit hingeben, die mit einer Selbstverständlichkeit dahinrinnt wie der Inn nebenan. Ich werfe die Tür meines dunkelgrünen Kombis zu, will mein Glück versuchen. Der Schlüssel entsperrt die Eingangstüre. Ich trete ein, versperre das Schloss hinter mir wieder. Stille. Ich weiß ja nicht, wie so ein leeres Schulgebäude auf andere wirkt, ich mag es jedenfalls. Das Gefühl ähnelt jenem, das man hat, wenn man eine leere Kathedrale betritt, leichte Schauer, die den Körper durchfahren. Die Energie ist nahezu unbeschreiblich. Ich fühle mich etwas verloren, klein, fehl am Platz. Das Echo von unzähligen Stimmen aus mehreren Dekaden, von Kindern, Teenagern, Lehrern und Eltern sirrt durch das Gebäude. Es wird durch die Mauern getragen und hallt unendlich kreisend vom Keller bis hinauf in den zweiten Stock und wieder herunter. Gebrabbel und Gefasel, Gelächter und Weinen, Geschimpfe und Gerufe, alles gleichzeitig, übereinander liegend, ineinander verworren, unwiderruflich und gespenstisch miteinander verflochten.
Wo fange ich an? Wohin zuerst? Ganz klar, ins Untergeschoß in die Garderobe. Der Schlüssel scheint tatsächlich für alle Schlösser zu passen. Hin zu meinem alten Garderobenkästchen aus Pressspan, wie alle in Gelb gehalten. Schon etwas in die Jahre gekommen, aber noch immer bemerkenswert gut in Schuss. Die Nummer 98. Es ist nicht belegt, ich öffne es. Wie oft habe ich hier wohl Schuhe an- und ausgezogen, gegen Hausschuhe gewechselt, Jacke hineingegeben und herausgenommen? Ich gehe rauf ins Erdgeschoß zur Aula. Hier finden die Konzerte der Neuen Musikmittelschule statt, außerdem zum Schulschluss die Ehrungen für jene Kids der Innsbrucker Schulen, die mit ausgezeichnetem und gutem Erfolg abschließen. Elternabende, Theaterstücke und was weiß ich noch alles, eine ziemlich lässige Location so alles in allem. Eine große Bühne, vor der sich ein gefühlter Abgrund von etwa zwei Metern auftut, steht der U-Form vor, von unten mit ansteigenden Stufen als Tribüne dienend, eine aus den Siebzigern entsprungene Mischung aus Atrium und Amphitheater. Einst hatte ich mit einigen Mitschülern vor dem Altbürgermeister Romuald Niescher und dem Altlandeshauptmann Alois Partl ein Theaterstück zur damals neu eingeführten Mülltrennung aufgeführt, graue Eminenzen, denen wir anschließend auch die Hände schütteln durften. An die Bühne schließt der Musiksaal an, den ich als nächstes betrete. Das alte Klavier steht noch immer da, Gitarren, Bässe, Pauken und vieles mehr. Da hängen Triangeln, dort drüben in einer Box werden die rundhölzernen Klangstäbe aufbewahrt. Ich sehe, wie unser Musiklehrer, der Singewald Hans, am Klavier sitzt und What shall we do with the drunken sailor in die Tasten haut. Ja, der Singewald Hans, eine echte Persönlichkeit. Einer jener Lehrer, der einen ganz besonderen Draht zu uns Kids hatte, streng und doch viel Verständnis für unsere Flausen obendrein. Wie alt er damals war, kann ich nicht mehr sagen, aber er war dem Sechziger sicher schon näher als dem Fünfziger. Geschieden, so viel wussten wir, und ich denke, er hatte da keinen besonders guten Schnitt gemacht. Gewohnt hatte er in einem Zimmer in der Pontlatzerstraße in der Pension Tyrol, auch das wussten wir. Der Reini aus der Nebenklasse hat uns das erzählt, der ebenfalls dort gewohnt hatte, weil seinen Eltern die Pension gehörte. Der Singewald Hans hatte immer etwas nach Bier gerochen, Okkular mit runden Gläsern, ein dunkler Schnauzbart, schlohweißes und sehr dichtes Haupthaar. Er hatte fast immer eine Zigarette zwischen seinen Lippen, eine "Ernte 23". Rauch und Zeit hatten den vorderen Teil seiner Haare mit einer leichten Vergilbung umwoben. Er war sehr viel in der Schule gewesen, meistens bis zum Abend, auch freitags. Wenn man ihn außerhalb der Heiligen Hallen traf, dann war er immer mit einem kleinen alten Rucksack auf seinen Schultern unterwegs. Und ich weiß nicht mehr, wie es dazu gekommen war, aber immer wieder mal durften wir in der dritten und später dann in der vierten Klasse an manchen Freitagnachmittagen im Musiksaal Partys feiern. Mit Cola, Fanta, Sprite, Chips und Gummibärchen. Eine gute Stereoanlage, Boxen mit etwas Wumms, Discokugel, farbige Glühbirnen und genügend Platz, zu Kuschelrock 3 und 4 eng an eng zu tanzen. She’s like the wind, Take my breath away, Sailing. Gerade in diesem Alter ist es ja immens wichtig, die ohnehin unkontrollierte Hormonproduktion noch zusätzlich anzukurbeln, am besten unterstützt durch Zucker. Der Singewald Hans hielt Aufsicht. Das hieß: Er war im Konferenzzimmer, tat, was auch immer er dort tat, kam ein, zwei Mal pro Stunde herüber, schaute in die Runde, und ging wieder. Meist fingen die Partys um fünf an, um acht war dann Schluss. Manchmal um halb neun. Danke an den Singewald Hans dafür. Der Singewald. Der Hans. Möge er in Frieden ruhen. Ich gehe weiter in den Werkraum und stelle fest, dass die Werkbänke neu sind. Sie kommen mir ziemlich klein und niedrig vor. Der Zugang zur Turnhalle bleibt mir verwehrt, schade eigentlich, auch wenn die Turnhalle mit ihrem harten Boden, den Ringen, Böcken, Kästen und Reckstangen nie zu meinen Lieblingsorten gezählt hatte, im Gegenteil. Dafür kann ich jene Tür öffnen, die in den alten, fensterlosen Videoraum führt. Mit dem alten Röhrenfernseher und dem Videorekorder, vor der weißen Wand, die als Leinwand gedient hatte, wenn noch ältere Lehrfilme, auf Rollen gebannt, mittels Laufbildprojektor durchgerattert waren. Das war einmal. Heute ein Lager für Kopierpapier, ausgediente Ordner und Büromaterial, ein Kabuff. Nicht weit davon der Maschinschreibraum. Auch den will ich mir ansehen. Heute mit zwanzig Stand-PCs ausgestattet, ein klassischer EDV-Raum. Seinerzeit zwanzig elektrische Schreibmaschinen, gusseisern und ohrenbetäubenden Lärm gegen die Walzen hämmernd. Wenn die Frau Egger dann im Dezember, als es draußen schon dunkel wurde, den Zentralschalter umgelegt hatte und wir die Schreibmaschinen einschalteten, ja, da konnte man meinen, dass in der nächsten Sekunde entlang der gesamten Kajetan-Sweth-Straße die Lichter ausgehen mussten. Und wie die zierliche Frau Egger dann ihren Teleskopzeigestock draußen geschwungen, damit zu ihrer lauten Stimme zackig Tippkommandos gegeben und den Lärm von zwanzig dieser Schreibmaschinen übertönt hatte, das war schon beeindruckend. A-S-D-F-rechts! J-K-L-Ö-links! A-S-D-F-rechts! J-K-L-Ö-links! Und wehe, einer hatte mal auf die Tastatur gelinst. Dann war sie plötzlich vor einem gestanden. Körperliche Gewalt hatte sie nie ausgeübt. Aber die Art, wie sie vor einem stand, mit ihrem Teleskopzeigestock, mit ihr und dem Stock wollte man sich nicht anlegen. Bei der Neuen Mittelschule Olympisches Dorf handelt es sich um eine Doppelschule, das heißt, zwei verschiedene Schulen an einem Standort, in ein und demselben Gebäude. Zum einen die Neue Musikmittelschule, in der ich eben diese drei Stunden Kochunterricht halte, zum anderen die Neue Wirtschaftsmittelschule, die ich seinerzeit besucht hatte. Damals war es aber nicht so, dass jede Schule einen eigenen Schwerpunkt hatte und die Neuen Mittelschulen hießen auch nicht Neue Mittelschulen, sondern einfach nur Hauptschulen. Die Neue Musikmittelschule war aber damals schon die Musikhauptschule. Und in jeder Hauptschule für sich waren die Kids in den Hauptfächern Deutsch, Mathematik und Englisch klassenübergreifend in Leistungsgruppen eingeteilt, eine erste, eine zweite und eine dritte. So waren die besten Schüler eines Hauptfaches aus den verschiedenen Klassen desselben Jahrgangs zu einer ersten Leistungsgruppe zusammengeführt worden und erhielten Unterricht auf Gymnasialniveau, so hieß es zumindest. Jene, deren Leistung und Verständnis beispielsweise in Mathematik nicht schlecht waren, sich aber eben nicht auf so hohem Niveau abspielten, bildeten die zweite Leistungsgruppe und in der dritten gab es Basicunterricht für jene, denen Verständnis für ein Fach fehlte, die Lernschwierigkeiten hatten oder eben andere Defizite aufwiesen. Um dieses Stigma der dummen Kinder zu verbannen, wurden 2012, nach einigen Pilotprojekten, aus allen Hauptschulen die Neuen Mittelschulen. Keine Leistungsgruppen mehr in den Hauptfächern. Alle in einer Klasse, dafür zwei Lehrpersonen, so kann man nämlich differenzierend und individualisierend auf alle Schüler eingehen und alle werden inkludiert. Das sei besser für die Entwicklung der Kinder, so die Theorie und die unterrichtspolitische Ausrichtung. Denn auch die leistungsstärkeren Kids würden davon profitieren, wenn sie gemeinsam mit leistungsschwächeren Kindern unterrichtet würden. Klar. Der FC Barcelona würde auch sehr großen Nutzen von einem Trainingslager mit dem FC Veldidena ziehen, jahrelang davon zehren. Sämtliche Spitzenvereine Europas reißen sich geradezu darum. Der Vergleich mag zwar schwer hinken, von Krücken gestützt, aber wie auch immer, die Schildermaler Österreichs freuten sich über Aufträge, und wohin die Entwicklung der Inklusionspolitik qualitativ gehen mag, wird man ja sehen. Und in wenigen Jahren werden die Schilder der Neuen Mittelschule wiederum erneuert werden müssen, wenn man sich in der Politik des Nonsens gewahr werden würde, dass das mit der Neuen Mittelschule irgendwann ausgedient hätte, weil Neu bleibt eben nicht immer neu. Und die Neuen Mittelschulen würden dann einfach nur mehr Mittelschulen heißen. Nachvollziehbar wäre es, wenn es bereits andere Mittelschulen in Österreich gegeben hätte, was aber nicht der Fall ist. Das kann man vielleicht bei Flugzeugherstellern machen, wenn es beispielsweise um eine Weiterentwicklung geht, wie beim Airbus A320, der zum A320 Neo wurde. Das „Neo“ bedeutet beim A320 aber nicht nur schlicht und einfach „Neu“, es ist auch eine Abkürzung und steht für „New Engine Option“. Oder der VW Golf, aus dem der VW Golf Plus einst hervorging. Aber der Sinn im Sprung von der Hauptschule zur Neuen Mittelschule entzieht sich hier jeglichen Verständnisses.
Die Klassenzimmer der Neuen Musikmittelschule, mit der ich als Schüler mangels musikalischen Talents zu Zeiten der Musikhauptschule nie etwas zu tun hatte, sind auch heute noch im ersten Stock untergebracht. Die meiner alten Schule im zweiten, daher wandere ich gleich ganz nach oben. Ich umkreise das Treppenhaus auf den Alcatrazbalkonen, vorbei an den eingebauten Schaukästen mit den kreativen Ergebnissen der Kids, Gemälden, teils richtigen Kunstwerken, Werkstücken, Terrarien. Ich betrete das Klassenzimmer meiner alten 4d, die 4e war nebenan beherbergt gewesen. Es gab komischerweise keine 4a, keine 4b und auch keine 4c, was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einem verwaltungstechnischen Umstand geschuldet war. Ich setze mich auf meinen alten Platz in der zweiten Reihe. Ich weiß noch genau, wer hier wo gesessen hatte, ich sehe sie wieder, meine Klassenkameraden und auch unseren Klassenvorstand, die Riedmann Isolde. Die mochten wir auch wahnsinnig gerne, Biologin und Tierpräparatorin, was die immer alles in den Unterricht mitbrachte! War viel mit uns draußen unterwegs, Ausflüge, Exkursionen, Wandertage. Hatte immer gemeint, das Leben spiele sich draußen ab, außerhalb des Klassenzimmers. Ein Klassenvorstand, wie man ihn sich nur wünschen kann, mit einer Schönheit in ihrer Schreibschrift, die nicht in Worte zu fassen ist. An dieser Stelle muss ich schon sagen, dass der Singewald Hans und die Riedmann Isolde ganz sicher Persönlichkeiten sind, die mich bei der Suche nach einer Antwort auf eine für mich sehr wichtige Frage inspirieren: Welche Art von Lehrer will ich sein, werden, bleiben? Nach einiger Zeit verlasse ich die Geister der 4d wieder, gehe über den gemeinsamen Bereich vorbei an der Nebenklasse. Auf dem Boden haben wir in den großen Pausen Supertrumpf gespielt. Sportwagen, Flugzeuge, Trucks, Rennautos, Schiffe. Gibt es solche Karten eigentlich noch? Da, der Gruppenraum, da hatte ich Mathematikunterricht in der ersten Leistungsgruppe. Dort gehörte ich nicht hin, aber ich hatte partout nicht in die zweite Leistungsgruppe gewollt, das war für mich nicht in Frage gekommen. Lieber geißelte ich mich vier Jahre selbst und der Mathelehrer, der Taferner Manfred, hatte mir für mein Bemühen das "Genügend" im Jahreszeugnis für lau überlassen. Des Raumes daneben kann ich mich gerade überhaupt nicht entsinnen. Ich stecke und drehe den Schlüssel, drücke die Hartplastikklinke nach unten, ziehe die Tür auf. Ja, genau, dieser Gruppenraum war damals zum ersten EDV-Raum der Schule umfunktioniert worden. Die ersten acht PCs waren hier dann untergebracht. Freigegenstand "Informatik", den ich natürlich besucht hatte. Mit MS-DOS und Logo programmierten wir dann irgendwelche Linien, die die Turtle über den Monitor zog. Mir fällt ein, dass dann irgendjemand eine erste Version von Prince of Persia und Indiana Jones – Jäger des verlorenen Schatzes installiert hatte. Wer auch immer das war, Schüler war es keiner, niemand von uns war ein Digital Native, wie auch? Es hatte dann aber unter den Lehrern helle Aufregung gegeben, da bei Indiana Jones plotbedingt Nazis vorkommen. Da hieß es dann, wir dürften aus diesem Grund das Spiel nicht mehr spielen, von wegen Geschichte des Landes und Wiederbetätigung. Das hatte uns aber nicht davon abgehalten, während des Unterrichts heimlich zu zocken. Dann war es plötzlich nicht mehr da, deinstalliert. Einige Wochen später aber hatte es irgendein Gönner wieder draufgespielt. Irgendwie hatte keiner von uns Interesse daran, Koordinaten einzugeben und dann zuzuschauen, wie irgendwelche Linien vor unseren Augen entstanden.
Ich trete wieder hinaus und frage mich, was sich da hinter der Ecke noch verbirgt. Gespannt gehe, schleiche ich fast in den dunklen Gang. Geographiekabinett. Abgefahren. Ich sperre auf und betrete eine eigene kleine Welt, in der zig Wandkarten aufgerollt an deren Haken an entsprechenden Halterungen hängen. Karten, thematisch sortiert. Auf dem Sideboard liegen durchkopierte geographische Umrisse Tirols, mehrere verschiedene Stapel. Einer mit eingezeichneten Flüssen und Seen, einer mit Pässen und Gebirgszügen, daneben der mit den neun Bezirken und deren Eckdaten, Flächen, Einwohnern. Ein ganz eigener Geruch erfüllt den Raum, die Luft von jahrzehntealtem Papyrus getrocknet, die Rollen beflankt von massiven Rundholzstäben. Heute unter Sammlern vielleicht gar nicht wenig wert. Da sämtliche Weltkarten, politische, geographische, klimatische. Europakarten, sogar noch welche aus der Zeit des real existierenden Kommunismus, UdssR, CSFR, DDR, Berlin mit Ostberlin, Jugoslawien. Karten, bedruckt mit Darstellungen verschiedener Epochen und Zeitalter, DIN A4-Halbrundstempel verschiedener Kontinente und Länder, Staaten, Gebirgszüge und Gewässer zum Ausmalen und beschriften. Die dazu passenden Stempelkissen, vertrocknet, vergessen. Relikte aus längst vergangenen Dekaden. Atlanten aus den Siebzigerjahren, mittlerweile darf man ja auch Atlasse sagen, mit Notizen der Schüler von damals, in schönster und akkurater Schreibschrift. Wurden vermutlich abgewatscht, wenn sie nicht lesbar geschrieben hatten. In meiner Schulzeit gab es weniger Ohrfeigen, mehr Tritte in unsere Hintern und Schlüsselbunde, die gegen unsere Köpfe flogen. Und einmal, direkt vor dem Geographiekabinett da draußen, ja, das war eine denkwürdige Aussage meines Schulfreunds Wallner zum Brunner Hans, strenger Englischlehrer, Ende Vierzig damals, Anfang Fünfzig vielleicht. Wie doch einige Pädagogen damals, und wenn ich es so recht bedenke, auch heute noch, dem Alkohol nicht abgeneigt. Raucher gibt es nicht mehr so viele unter ihnen wie damals, als noch überall in der Schule Aschenbecher vor den Klassenzimmern an den Wänden montiert waren. Wenn man genau hinsieht, kann man noch die Stellen der alten Bohrlöcher für die schwarzroten Ascher unter der Spachtelmasse und den zwei, drei Schichten darübergeklatschter Farbe ausmachen. Da kam es schon mal vor, dass der Brunner oder der Singewald während des laufenden Unterrichts die Tür öffneten, raustraten, sich eine Zigarette ansteckten und dann so von draußen rauchenderweise ins Klassenzimmer herein unterrichteten. Der Brunner Hans jedenfalls war schwer allergisch dagegen, wenn wir in den Pausen durchs Schulhaus gerannt waren. Heute verstehe ich den Grund dafür, damals haben wir solche Anweisungen und Regeln nicht einmal ignoriert. Und eines Tages, es war in der vierten Klasse, waren der Wallner und ich durch die Gänge getigert, er voraus, ich hinterher. Er überragte schon seit dem Kindergarten alle Gleichaltrigen um mindestens einen Kopf und mit vierzehn war er gleich groß wie ein ausgewachsener Mann, von athletischer und bulliger Statur obendrein, ein bisschen wie der litauische Fußballer Valdas Ivanauskas, auch Ivan der Schreckliche genannt. Und wie wir da im Tempo eines Gerhard Rodax um die Ecke vor dem Kabinett gelaufen waren, da prallte der Wallner doch tatsächlich frontal gegen den Brunner Hans, sodass dieser, selbst groß gewachsen, alle Mühe hatte, nicht zu Boden zu gehen. Wir blieben in Schockstarre stehen, wohl wissend, was jetzt zu folgen hatte. Der Brunner war außer sich und schrie: "Wallner, du Volltrottel!! Her da, sofort, Antreten zur Gnaggwatschn!!" Und in einem Anfall von jugendlicher Überheblichkeit, Naivität und Respektlosigkeit lachte der Wallner nur und rotzte: "Ja, aber zwei Stück bitte!" Der Brunner machte drei, vier schnelle und entschlossene Schritte auf den Wallner zu, drehte ihm sein Ohr um, sodass der in die Knie ging und verpasste ihm mit der Handkante zwei Schläge ins Genick. Jaja, der Brunner Hans. Der liebe Gott hab ihn selig. Und während ich so ins Narrenkastl schaue, schleicht sich ein altes Wählscheibentelefon von irgendwo hinten aus einem Regalfach im Kabinett in mein Blickfeld. Ich überlege, ob ich es noch hinkriegen würde, mit einem solchen Apparat jemanden anzurufen. Telefonnummern hatte man damals im Gedächtnis aufbewahrt oder in ein Büchlein geschrieben. Während ich den klobigen Hörer anstarre, mache ich eine Stimme aus. Da spricht doch irgendwo jemand. Eindeutig. Aber irgendwie doch nicht eindeutig. Wo kommt die Stimme her? Sie ist definitiv männlich und es scheint sich um einen Monolog zu handeln. Ja, da telefoniert doch irgendwo jemand. Abgesehen von der Stimme ist es totenstill im Haus. Eine tiefe Stimme, die ich kenne, an die ich mich erinnere. Ist das ... was? ... nein, kann nicht sein ... Wo kommt sie her? Sie kriecht durch die Wände, streift zwischen den Karten herum und spaziert wieder ins Mauerwerk. Jetzt kann ich die Stimme eindeutig zuordnen. Sie gehört dem Singewald Hans. Ich bekomme Gänsehaut und mir läuft es kalt den Rücken runter. Kurze Stille. Dann wieder die unvergleichliche Sprachmelodie, die einen selbst bei einem normalen Gespräch wissen lässt, dass das Organ eine trainierte Gesangsstimme ist. Zu Höherem geboren als nur zu unterrichten, aber irgendwann abgebogen, in die Zahnräder des Systems geraten und hängengeblieben. Ich versuche, den Inhalt des Gesprächs zu erfassen, ich muss mich schwer konzentrieren, damit mir das gelingt. Der Singewald scheint mit einer Jugendherberge oder einem Busunternehmen zu telefonieren, es geht um eine Landschulwoche. Ich nehme einzelne Schlagworte wahr, Satzfetzen, Konzentrationslager Mauthausen, Reiterhof, Floßfahrt, Gold sieben. Die Schauer, die über meinen Rücken jagen, werden kälter und kälter, mein seit einigen Jahren dünner werdendes Haar unternimmt verzweifelte Versuche, zu Berge zu stehen. Die Stimme Singewalds streift nicht mehr nur zwischen den Karten herum, sie kesselt mich ein, sucht sich durch meine Haut ihren Weg in die Tiefe, bis sie sich im Knochenmark entfaltet und von da aus jede einzelne Körperzelle vereinnahmt. Was ich da höre, ist, wie der Singewald Hans die Landschulwoche unserer Abschlussklasse organisiert. Mir wird auf einmal heiß. Dann wieder kalt. Anussausen. Harndrang. Sofort raus hier. Ich eile aus dem Kabinett, versperre die Tür hinter mir nicht einmal mehr, renne zu den Treppen, laufe nach unten, die letzten drei Stufen nehme ich vor jedem Abbiegen im Sprung, so wie damals, als der asoziale Kleissl und der hinterhältige Winkler mal wieder hinter mir her waren und jede Sekunde Vorsprung darüber entschied, ob ich mit oder ohne Veilchen zum Essen daheim sein würde. Erdgeschoss. Stimme höre ich zwar keine mehr, seit ich aus dem Kartenraum gestürzt bin, nur meine Schritte, die die Stufen nach unten hasten, begleitet von einer Atmung, gleich jener von Spitzensportlern in der anaeroben Phase. Das letzte Halbgeschoss hinunter, Sprung und raus. Ich laufe gegen die Tür. Die habe ich nach dem Eintreten ja zugesperrt. Genau das, was ich jetzt brauche. Hastig fummle ich den Schlüssel aus meiner Hosentasche. Mit zitternder Hand sperre ich auf, trete nach außen, helfe dem Türschließer kräftig nach und versperre die Tür wieder. Ich checke noch zwei-, dreimal, ob sie sich auch ja nicht öffnen lässt. Ich setze mich auf die Mauer, dorthin, wo ich einst Donkey Kong, später dann Tetris gezockt hatte.
Langsam, sehr langsam fange ich mich wieder, ich spüre, wie mein Gesicht wieder Farbe bekommt und der Adrenalinausstoß nachlässt. Irgendwann stehe ich auf, gehe zu meinem Auto. Es wird Zeit, nach Hause zu fahren. Ich muss heute noch jede Menge Sugo kochen.
(von Stevie Tagwerker)

