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2xhab ich gern gelesen
geschrieben 2025 von GooR (Goor).
Veröffentlicht: 20.11.2025. Rubrik: Menschliches


Der Junkie und der Alkoholiker - Eine Weihnachtsgeschichte

Prolog

Es juckte. Clifford Rojinski kratzte sich zum wiederholten Mal unter seinem üppigen falschem Bart.
Das war der unangenehme Teil seines Jobs: das Kostüm war ihm zu eng und wärmte ihn auf wie eine 100-Watt-Glühbirne. Schlussendlich war es in der Mall viel zu warm und die vielen Weihnachtslichter trugen wohl noch zusätzlich dazu bei.
Ansonsten genoss er seine Arbeit sehr, auch wenn sie schlecht bezahlt wurde. Das schlimmste war jedoch, dass sie auf einen Monat befristet war, Ende des Jahres war leider wieder Schluss.

Nachdem er fertig war, spülte er die Toilette und zog sich mit Mühe die Hose wieder an. Sie hatten ihn ja wie schon in den Jahren zuvor auch wegen seines stolzen Umfangs engagiert, aber er hatte es in letzter Zeit wohl mit dem Junkfood übertrieben.
Kurz bevor er die Tür öffnen wollte, musste er sich erneut kratzen, dieses Mal am Nacken. Dabei erinnerte er sich, dass er sich die Hände noch nicht gewaschen hatte, und ging zum Waschbecken hinüber.

Er sah in den Spiegel und das Bild, das sich dort reflektierte, machte ihn nicht besonders stolz. Ein Junkie. Seit er damals im Vietnamkrieg gewesen war, verfiel er den Drogen, seit nun fast zwanzig Jahre, auch wenn er seit längerem nur noch ein wenig Gras rauchte. Höchstens 1-2 Mal am Tag.
Liebend gerne würde er behaupten, es läge am Dauerbeschuss der Vietcong, an den vielen Toten und Verletzten um ihn herum, doch das wäre gelogen. In Wahrheit war er kein einziges Mal in der Nähe der Front gewesen, vielmehr hatte er aus sicherer Distanz als Logistiksoldat dabei geholfen, den Nachschub für das sinnlose Gemetzel zu koordinieren.
Nein, es war eher getrieben von purer Langeweile und jugendlichem Leichtsinn.

Schon ein paar Tage nach seiner Ankunft hatten ihm seine Kameraden Cannabis angeboten, später kam spottbilliges Opium hinzu, das praktisch überall erhältlich war, wo sich seine Landsleute aufhielten.
Am schlimmsten war jedoch das synthetische Speed, das die Soldaten von der Front mitbrachten, die ihnen die US-Armee grosszügig zur Leistungs-steigerung verteilte (1). Zunächst wurde es nur bei Pokerspielen eingesetzt oder im Gegenzug für ein paar Zigaretten feil geboten, doch bald wechselten Millionen dieser ‚Teufelstabletten‘ für nur ein paar Cent die Hände.

(1) Nach wahre Begebenheit: die US-Armee verteilte vom 2. Weltkrieg bis hin zum Irakkrieg diverse Amphetamine, vor allem an Piloten und Spezialeinheiten als Leistungssteigerung und damit sie bei langen Missionen wach blieben. Ein US-Militärbericht von 1971 schätzte, dass allein im Jahr 1970 rund 225 Millionen Amphetamin-Tabletten an US-Soldaten im Vietnamkrieg ausgegeben wurden

Wie viele seiner Kameraden wurde auch er schnell abhängig. Allerdings hatte er stets das Gefühl, die Situation unter Kontrolle zu haben, und war fest entschlossen gewesen, damit aufzuhören, sobald er wieder zu Hause war.
Ironischerweise war es dann ausgerechnet die Regierung Nixons, die ihm mit der „Operation Golden Flow“ die Rückkehr ins Heimatland verweigerte und ihn in ein Entziehunsprogramm steckte.
Das war dann wohl der Anfang vom Ende, denn danach war er in seinem Heimatland vollkommen stigmatisiert. Fortan wurde er von seinen Landsmänner nicht nur als Mörder unschuldiger Menschen, sondern auch als ‚Suchti‘ beschimpft.

Er schüttelte die Gedanken ab. Das war etliche Jahre her und die Vergangenheit konnte er ohnehin nicht mehr ändern.
Dann trocknete er sich die Hände ab, prüfte noch einmal, ob sein Gürtel nicht doch ein weiteres Loch hatte, das er vielleicht übersehen hatte, und ging dann wieder zurück zu seinem Arbeitsplatz.

Früher konnte er Kinder nicht besonders leiden, doch das änderte sich, als er merkte, wie wenig Vorurteile sie ihm gegenüber hatten. Ein schäbiges Weihnachtsmannkostüm reichte und er war ihr Held. Gewiss, einige Bengel konnten einem ganz schön auf die Eier gehen, aber meist reichte ein kleiner Zaubertrick oder ein Lolli und spätestens, wenn sie eines dieser nutzlosen Spielzeuge in bunten Geschenkpapier bekamen, waren alle happy. Bisher konnte er eine hundertprozentige Erfolgsquote aufweisen: noch nie war eines der Kinder ohne mindestens ein breites Grinsen fortgegangen.
Bis heute, Dienstag den 15. Dezember 1992.

Der Kleine fiel ihm schon am Ende der Warteschlange auf, weshalb konnte er nicht genau in Worte fassen. Vielleicht weil er und seine Eltern den Eindruck hinterliessen, als würden sie lieber woanders sein, weit weg von allem. Er hatte schon Erwachsene beobachtet, die stinkesauer mit ihrem Nachwuchs waren, oder die Feierlichkeiten von Grund auf hassten. Aber diese Leute waren irgendwie anders, kalt, distanziert, emotionslos.

„Wie heisst du Grosser?“, fragte er ihn, als der Junge schliesslich an der Reihe war sich auf sein Schoss zu setzen. Sie liebten es, wenn er „Grosser“ sagte, viel besser als „kleiner Mann“ oder ähnliche herablassende Worte.
„Leonard“, murmelte er kaum hörbar, wegen des ganzen Hintergrundgeräusches.
Das Kind war vermutlich nicht älter als acht Jahre und sagte seinen vollen Namen, nicht Leo, nicht Leoni. Cliff wusste, dass er tief in seiner Trickkiste graben musste.
„Weisst du was Leonard im fernen Norden bedeutet, da wo ich herkomme?“
Der Junge blieb still, vermied weiterhin Augenkontakt und starrte stattdessen lieber seine bunten Schuhe an.
„Der zum Mond fliegt“, improvisierte Clifford. Er musste kurz schmunzeln. Sein Grossvater stammte zwar aus der Slowakei, er wuchs aber keine zehn Kilometer von der Mall entfernt, in Upper Brooklyn. Nicht gerade die schönste Gegend. Wenn sich dort jemand mit Vornamen ‚Leonard‘ vorstellte, öffnete das wohl eher die Tür zu einer Tracht Prügel.
Der Junge schaute ihn kurz an.
„Wirklich?“, fragte er unsicher.
Clifford war ein wenig stolz. Er würde es sogar schaffen, ein Iceberg in kochendes Wasser zu verwandeln. Die Socken des Kleinen mit den Raketen hatten ihn auf die Idee gebracht. Er nickte nun, wie es nur ein weiser Weihnachtsmann tat und fügte dann hinzu:
„Nimmst du mich mal mit? Ich verrate dir etwas… nur unter uns zwei. Mit den Rentiere komme ich nicht wirklich so hoch. Es reicht gerade mal für die Wolkenkratzer hier, dann wollen sie wieder zurück auf festen Boden.“
Jetzt hatte er definitiv die Aufmerksamkeit seines Gegenübers.
„Klar, Mr. Santa. Ich nehme dich mit“, antwortete der Junge, und für einen kurzen Moment leuchteten seine Augen auf.

Jemand räusperte sich laut vor ihnen.
Vermutlich war es der Vater gewesen. Zwar sah man es ihm nicht gleich an, aber bei genauerer Betrachtung merkte Cliff, dass er nervös war. Sehr nervös. Am liebsten hätte er ihm eine ins Gesicht geschlagen. Mit seiner teuren Brille und seinem biederen, abgeleckten Aussehen war er wohl einer dieser Wallstreet-Idioten.
„Also, ‚Rocketman‘, was wünschst du dir? Und sag bitte nicht nicht ‚eine Rakete‘, die passte heute Morgen nicht ins Sack“, witzelte er und tätschelte ihm kumpelhaft auf den Kopf.
„Nichts…“, erhielt er lediglich als Antwort.
Hatte ihm jemals ein Kind das entgegnet?
Der Junge schaute derweil zu seinen Eltern hinüber, dann wollte er aufstehen.
Instinktiv packte Clifford ihn am Arm.
„Warte kurz, warte. Jeder will... jeder braucht etwas“, insistierte er.
„Ja, aber das hast du nicht in deinem Sack“, flüsterte der Junge ihm zu.
„Ich bin der Weihnachtsmann. Versuch es…“
Der Junge schaute jetzt sichtlich nervös zu seinen Eltern hinüber. Seine Mutter bemerkte das wohl und kam ihnen gleich entgegen.
Bevor sie ihn schnappte, flüsterte der Kleine ihm noch etwas ins Ohr, etwas dass ihm sogleich eine Gänsehaut bescherte und in den nächsten Tagen nicht mehr aus den Kopf gehen würde.

Zu gerne hätte er ihm wenigstens noch ein Lollipop mitgegeben, doch es war zu spät. Wie von Wespen gejagt, floh die Familie davon und verlor sich in der Menge…

Kapitel 1

Jeff Freeman kullerte mit den Augen. Langsam aber sicher konnte er es sich nicht mehr anhören, sein Mitbewohner wiederholte seit Tagen immer wieder dasselbe, wie eine kaputte Schallplatte.
Seitdem er bei ihm eingezogen war, gab es immer irgendetwas. An einem Tag verdächtigte er den Postbote seine Pakete zu klauen, dann wieder die Frau von der Wäscherei, seine Klamotten bewusst zu tauschen. Oder wenn er gar nicht gut drauf war, war die Regierung mal wieder hinter ihm her, weil er jahrelang anonyme Briefe an Zeitungsredaktionen geschickt hatte, in denen er das Militär beschuldigte, das grosse Geld mit Drogen zu verdienen.
Und dann war da noch seine Vorliebe für Weihnachten. Das war vermutlich das Schlimmste, denn er selbst fand es zum Kotzen. Als wäre man gezwungen, an Weihnachten fröhlich zu sein. Und noch dazu taten alle so, als hätten sie eine liebenswerte Familie denen sie beschenken wollten.
Er nickte seinem Gegenüber noch einmal zu und fügte ein nichtssagendes „Ahem“ hinzu. Ein wenig Mitleid hatte er schon, denn der jahrelange Drogenkonsum hatte ihm sichtliche Spuren hinterlassen, physisch wie mental.
Ihm ging es ehrlich gesagt auch nicht besonders viel besser, bei ihm war es allerdings der Alkohol. Ein Junkie und ein Alkoholiker... die perfekte WG.

„Das muss nichts bedeuten, an deiner Stelle würde ich es einfach sein lassen. Du wirst wieder ganz nervös, Mann!“, tadelte er ihn schliesslich. Und wenn er zu lange nervös wurde, dann könnte er wieder Rückfällig werden, wusste er nur zu gut.
„Aber wer soll ihm dann sonst helfen? Vielleicht ist er wirklich in Schwierigkeiten. Nein, ich bin sogar ganz sicher dass er in Schwierigkeiten ist!“
„Es ist ein Kind. Die denken sich die ganze Zeit solchen Bullshit aus… vermutlich wollte ihm Papa einfach kein Fahrrad schenken. Bang! Weltuntergang!“, versuchte er ihn endlich zu überzeugen. Wäre die Wohnung nicht so klein, würde er sich jetzt woanders hinsetzen. Zwei kleine Zimmer, ein winziges Bad und schliesslich eine offene Küche, die an das mickrige Wohnzimmer angrenzte. Insgesamt stolze 45m2.
‚Wenn er nicht bald aufhört gehe ich heute noch bei Tageslicht zu Bett‘, hörte er sich denken.

„Mach, dass diese böse Menschen verschwinden. Das sind nicht mein Papa und Mama…“, wiederholte Clifford es doch wieder.
Jeff wusste, es war wohl Zeit für ihn, wegzuziehen. Er befürchtete er würde noch verrückt werden, wenn er länger mit ihm einen Raum teilte.
„Okay Cliff, hör mir zu Mann… ich meins ernst. Hör auf mit dem Scheiss. Du solltest dich lieber schon mal auf die Suche nach nem neuen Job machen, sonst kannst dir nicht mal dieses Drecksloch leisten.“
„Du hast sein Gesicht nicht gesehen. So schaut kein Achtjähriger drein, ausser es ist was passiert. Was Schreckliches!“, insistierte Clifford und fuchtelte dabei wild mit den Armen.
„Ok, das wars! Ich leg mich jetzt hin“, beschloss Jeff und stand auf.
Sein Mitbewohner tat es ihm gleich.
„Ich bin mir ziemlich sicher. Hättest du nur die Frau gesehen! Die kann mit ihrem Blick kochendes Wasser zu Eis gefrieren lassen. Jemand mit so einer schlechten Aura bin ich noch nie begegnet!“
Jeff seufzte.
„Hast du dich schon mal im Spiegel gesehen? Lass mich durch, ich muss mal kacken…“
Nachdem Jeff die Tür hinter sich geschlossen hatte, nahm Clifford einen Stuhl und setzte sich direkt vor die Toilette.
„Ich glaube, ich weiss, was ich morgen tun werde. Ich werde mir die Videoaufnahmen geben lassen und du hilfst mir dann, sie dem FBI zu übergeben. Was meinst du?“
Als Antwort hörte er nur, wie Jeff die Dusche anliess…

Am nächsten Tag nahm Jeff wahr, wie Clifford die Eingangstür aufschloss. Er tat sofort so, als wäre er beim Fernsehen eingeschlafen. Das war durchaus realistisch, bei dem Mist, den sie mal wieder ausstrahlten. „Santa Barbara“ hiess die Serie, und die Ankündigung, dass sie nach über zwei Tausend Episoden sie bald aus dem Programm nehmen würden, munterte ihn auch nicht besonders auf. Höchstwahrscheinlich würde es eh nur durch Schlimmeres ersetzt werden, wenn das überhaupt möglich wäre.
Er hörte nun wie Clifford seine Schuhe auszog und gleich darauf in die Küche ging, um sich ein Glas Wasser zu nehmen.
Dann war es längere Zeit still. Allzu lange konnte er es nicht mehr aushalten. Seine Augenglieder zitterten schon, als würden sie ihm nicht länger gehorchen wollen. Draussen heulten währenddessen wieder die Polizeisirenen auf der Interstate 95 laut auf. Auch im achten Stock hörte man sie noch gut, genauso wie das ständige Gehupe der nahegelegenen Hauptstrasse.

‚Vielleicht ist er mittlerweile sich hinlegen gegangen?, hoffte er. Er musste die Augen aufmachen… Mist, der Kerl lehnte sich nur am Kühlschrank.
„Ach du bist wach?“, bemerkte er sogleich.
Jeff konnte sofort erkennen, dass der heutige Tag nicht gut gelaufen war, sein Mitbewohner sah wie ein Häufchen Elend aus.
„Leider…“, antwortete Jeff schliesslich. „Lass mich raten: die wollten dir die scheiss Bänder nicht aushändigen, stimmt's?
„Ja, Sherlock… Sie haben mir sogar noch gedroht mich rauszuschmeissen. Nach fünf verdammte Jahre, glaubst du das?“
„Also eigentlich waren es eher fünf Monate“, korrigierte er ihn. Dann setzte er sich aufrecht hin und fasste sein Mut zusammen.
„Clifford, hör mir zu. Nächsten Monat musst du wegziehen. Du bist schon mit drei Mieten im Verzug. Nimm es mir nicht übel, ‚Buddy‘, aber ein Kumpel von mir braucht dringend eine Bleibe… Die Kohle, die mir schuldest, kannst später mal zurückzahlen, okay?“
Clifford rutschte langsam mit dem Rücken die Kühlschranktür entlang, bis er unsanft mit dem Gesäss auf dem Boden klatschte.

„Wer denn? Du hast keine Freunde“, murmelte er nach einer bedrückenden Stille, während er aus dem Fenster starrte.
„Von früher. Du kennst ihn nicht.“

Wieder sagten sie sich lange nichts. Draussen dämmerte es rasch und bald projizierten die Fernsehbilder das einzige Licht in der Wohnung.
„Kein Problem. Ich finde schon was…“, sagte Clifford schliesslich und fügte dann hinzu: „Falls ich die Bänder kriege, hilfst du mir dann die Schufte zu finden?“
Jeff war sich sicher. Er würde bestimmt wieder anfangen zu trinken, ausser er würde seinen Mitbewohner aus dem Fenster schmeissen. Na ja, vermutlich würde er nicht einmal hindurchpassen. Für jemanden, der sich so viele Jahre mit Kriminellen beschäftigt hatte, musste er sich etwas Besseres einfallen lassen.
„Ja, natürlich“, hörte er sich sagen und wusste jetzt schon, dass er es bereuen würde.

Andererseits wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass sein bald ex-Mitbewohner erfolgreich war? Mit Sicherheit noch geringer als die, dass sie „Jeopardy” nächstes Jahr nicht mehr ausstrahlen würden...

Kapitel 2

Nach drei Tagen kehrte allmählich etwas Ruhe in die Rojinski-Freeman-WG ein. Jeff war erleichtert, dass sein Mitbewohner die Sache langsam ruhen liess und sich nun stattdessen etwas anderem widmete. Ständig machte er sich nun Notizen, vor allem während sie fernsahen. Er war sich sicher, dass er das Büchlein auch mit auf die Toilette nahm und nachts war sein Licht unter der Tür verdächtig lange an.
‚Lieber Gott, lass es Kreuzworträtsel sein‘, flehte er gen Himmel. Jedenfalls hörte er ihn nicht mehr über den Vorfall in der Mall reden, und das war gut so.

Am Abend hatte er, um ihn aufzuheitern, sein Lieblingsessen vom Dominikaner „Yolos“ um die Ecke bestellen lassen: „Arroz con pollo y habichuelas“. Jeff konnte es weder aussprechen noch essen. Ihm war eine gute amerikanische Pizza definitiv lieber, als das Gemansche aus Reis, Hühnchen und Bohnen.

Doch die Zeit verstrich und es gab kein Lebenszeichen von Clifford. Es war das erste Mal, seitdem er vor knapp vier Jahren eingezogen war, dass er nicht vor 20 Uhr zu Hause war. Meist war er pünktlich wie ein Schweizer Uhrwerk und kam um 19:40 durch die Tür, da er -aus welchem Grund auch immer-, stets denselben Zug nahm, auch wenn er nicht von der Arbeit kam.

Inzwischen war es nach 22 Uhr.
Nachdem er das Essen im Kühlschrank aufbewahrt hatte, beschloss er, ihn zu suchen. Er nahm seine Jacke und wollte gerade die Tür entriegeln, als er es sich anders überlegte. Wo sollte er ihn überhaupt suchen? Und schliesslich war der Vietnamveteran ja keine 18 mehr, eher 45.

Eine Stunde später lehnte er sich dann doch gegen die Wand am Eingang ihres Gebäudes. Er würde ihn nicht suchen gehen, aber allein der Weg von der Metro hierher war um dieser Uhrzeit voller Crackjunkies. Und von hier aus hatte er einen guten Blick auf den U-Bahn-Eingang…

„Verdammt noch mal, wo bist du geblieben?“ Jeff war diesmal tatsächlich beim Fernsehen eingeschlafen, vermutlich bei der Wiederholung von „Jeopardy!”. Er schaute auf die Uhr: 6:30 Uhr morgens. Obwohl er vor Müdigkeit noch alles verschwommen sah, wusste er, dass sein Gegenüber wie ein kleiner Bub grinste.
„Ich hab's!“, rief er überglücklich, holte eine VHS-Kassette aus einer grossen Einkaufstüte und zeigte sie stolz.
„Lass uns die schnell im Recorder angucken. Ich muss noch vor 10 Uhr meine Schicht wieder antreten.“
Jeff war noch total verwirrt.
„Seit wann haben wir einen scheiss Videorecorder?“, staunte er.
Clifford ging zum Fernseher rüber und holte einen grossen VHS-Recorder aus der Tüte.
„Seit heute!“
„Haben sie dir den einfach so mitgegeben?“, fragte Jeff, der das Prachtstück nun auch aus der Nähe betrachten wollte.
„Nein, ich habe beides mitgehen lassen…“
„Du hast was?“, schoss es ihm heraus. „Bist du völlig verrückt geworden? Das ist die am besten bewachte Mall der Stadt, du Idiot!“
„Mach dir keine Sorgen, ich habe alles gut durchdacht. Das werden die nie merken. Und ich gebe es ja wieder zurück… in ein paar Tage", fügte er noch hastig hinzu und machte seinem Freund nur noch wütender, der mit rotem Kopf sich wieder auf das Sofa setzte.
„Vor ein paar Jahren hätte ich dich auf der Stelle eingebuchtet“, sagte er und zündete sich eine Zigarette an, in der Hoffnung sich abzuregen.
„Vor ein paar Jahren hatte ich 100 Pfund weniger auf den Rippen, und du würdest mich nicht einmal fangen... Schauen wir uns das kurz an, okay? Dann reden wir weiter.“
Jeff war dann doch neugierig und schaute sich die Aufnahmen an. Und obwohl er es sich nicht eingestehen wollte, sagte ihm sein Cop-Instinkt, nachdem sie die Aufnahmen aus verschiedenen Blickwinkeln gesehen hatten, dass mit den Herrschaften etwas komisch war. Aber komisch war noch lange keine Straftat.
„Zeigst du es ihnen? Du hast mir immer gesagt, dass sie mit der modernen Technologie heute jeden finden können. Also beweise es!“, forderte Clifford ihn auf.
„Ich schaue, was ich tun kann. Es ist nicht so, als würden sie mich mit offenen Armen empfangen. Aber der eine oder andere schuldet mir noch ein Gefallen…“, sagte er und zündete sich die nächste Zigarette. Es half ein wenig, aber sein Gehirn zeigte ihm immer wieder eine schöne Flasche Bourbon…

297 Pfund. Clifford stieg wieder von der ächzenden Waage und schwor sich, abzunehmen. Es war nicht einfach. Seitdem er nur noch selten Drogen konsumierte –gelegentlich rauchte er einen Joint auf dem Balkon, wenn Jeff nicht in der Nähe war– bekam er eine Fressattacke nach der anderen. Zu gerne würde er sich gesünder ernähren, aber das war teurer. Junkfood war nun mal das Einzige, was er sich in diesen Mengen leisten konnte.
Dabei mochte er es nicht einmal besonders, viel lieber genoss er traditionelles süd- und zentralamerikanisches Essen. Im Gegensatz zu seinem miesepetrigen Mitbewohner. Er war noch nie jemanden begegnet, der so viel Pizza und Donuts in sich hineinstopfen konnte. Und Weihnachten so sehr hasste.
Aber dafür hasste er auch Drogen, und das war einer der Gründe, warum er schon länger bei ihm wohnte. Er würde ihn windelweich prügeln, sollte er ihn mit irgendwelchen Aufputschmitteln erwischen.
Ironischerweise hatte Jeff seine Karriere als NYPD-Kommissar selbst durch Alkohol zunichte gemacht, und war nun gezwungenermassen früh pensioniert, mit erst 61. Er gehörte eben zu der Generation, die hartnäckig leugnete, dass Alkohol und Zigaretten Suchtmittel sind.

Ungeduldig setzte er sich auf das alte blaue Sofa, das sie von der Nachbarin, die in ein Heim gezogen war, sehr günstig erworben hatten, und wartete auf Jeff.
Er starrte den Videorecorder an. Jetzt, wo sie endlich einen hatten, könnte er vielleicht noch ein paar Münzen zusammenkratzen und einen Film in der Videothek unten ausleihen, überlegte er.

Es war definitiv einfacher gewesen, die Kassette und den Recorder zu stehlen, als befürchtet –wenn auch körperlich recht schmerzhaft–, aber er hatte es immerhin innerhalb relativ kurzer Zeit hinbe-kommen, dank minuziöser Planung.
Gleich nach Feierabend, war er nochmals mit einem Dutzend Donuts zu den Sicherheitsleuten gegangen, um sich dafür zu entschuldigen, dass er ausgerastet war, als sie ihm die Aufnahmen nicht mitgeben wollten. Das kam wie erhofft gut an.
Doch statt den Raum danach wieder zu verlassen, versteckte er sich im grossen Schrank im Vorraum. Dort fand er gerade noch genug Platz, wenn er den Bauch einzog, und war froh, dass sie keine Regale montiert hatten, sondern die alten Recorder einfach übereinanderstapelten.

Dann hatte er nur noch warten müssen. Lange. Erst eine Stunde später, um 23:00 Uhr, schloss die Mall, dann würde der Sicherheitsmann die Kassetten für den morgigen Tag vorbereiten.
Nach zwanzig endlosen Minuten war es dann endlich soweit und er war allein. Mit Schmerzen in jedem einzelnen Gelenk holte er sich die Kassette und sah sich die Aufnahmen an. Er hatte schliesslich genug Zeit, erst um 5:30 Uhr würden sie wieder zurückkommen. Und wegen der Alarmanlage konnte er sowieso den Raum nicht vorher verlassen, was bedeutete, dass er sich wieder in den Schrank einquetschen musste.
Als Entschädigung würde er einen der noch unverpackten Videorecorder mitgehen lassen, überlegte er spontan, um sich aufzumuntern...

„Sag schon! Wie war’s? Hat’s geklappt?“, fragte Clifford ganz aufgeregt, als sein Mitbewohner spätabends zurückkam.
Jeff verzog keine Miene und setzte sich auf das Sofa.
„Was soll ich dir sagen...“, begann er verhalten, nur um dann breit zu grinsen und fröhlich zu verkünden: „…ich hab’s wohl noch drauf, der alte Jeff hier!“
Sein Gegenüber platze förmlich vor Freude und klopfte ihm energisch auf die Schulter.

„Du bist Spitze! Ich kann's immer noch nicht fassen… Die werden den Jungen tatsächlich suchen? Ehrlich gesagt habe ich mir nicht viel Hoffnung gemacht, Jeff!“, log er.
„Ich glaube, ich habe mir eine schöne Pizza verdient, nicht wahr, Cliffy? Du weisst schon, welche… und ein grosses, kühles Bier“, antwortete er und rieb sich genüsslich die Hände.
Er wusste natürlich, welche Pizza er meinte und bekam sofort eine Gänsehaut: die ‚Meat Lovers Pizza‘, vom Italiener eine Strasse weiter. Nur Jeff konnte eine Pizza mit Schinken, Bacon und fettiger Wurst verschlingen.
„Okay, aber das Bier kannst du vergessen... Wenn ich schon runtergehe, kann ich auch nen Film mieten. ‚Lethal Weapon 3‘, was meinst?“, fragte er und stand mit erstaunlicher Energie auf.

Das Telefon klingelte. Gerade jetzt, wo er dabei war, sich Pancakes zum Frühstück zuzubereiten. Wer rief überhaupt so früh an einem Samstag an? Und wo war Jeff eigentlich? Nachdem es 20-mal geklingelt hatte, nahm er widerwillig ab.
„Hör zu, Cliff! Verdammt… Du hattest recht!“, tönte es von der anderen Seite.
„Was?! Wer ist da?“ Die Verbindung war wieder einmal grottenschlecht.
„Ich bin’s. Jeff!“
„Jeff? Warum rufst du an? Meine Pancakes fackeln gleich ab!“
„Ich bin hier im Präsidium. Musste dir das noch sagen, bevor du zur Arbeit gehst… Scheisse! Die wurden am Flughafen geschnappt! Anscheinend haben sie das Kind in Wisconsin entführen lassen und wollten jetzt mit ihm nach Europa abhauen…“, berichtete Jeff aufgeregt.
Nachdem er wieder Puste geholt hatte, fuhr er fort: „Dem Jungen geht’s gut... Hast du mich überhaupt verstanden? …Cliff?“
Clifford legte das Telefon auf. Dann ging er langsam zurück in die Küche und widmete sich wieder seinen Pancakes. Als er fertig war, roch er genüsslich daran, setzte sich schliesslich hin und genoss sein Gebäck mit einer extra grossen Portion Ahornsirup.

„Solltest du das Diebesgut nicht mal wieder zurückgeben?“, bemerkte Jeff, während er vor dem Fernseher einen Donut verspeiste.
Es war Weihnachtsabend und sie hatten das Glück, das letzte Exemplar von ‚Home Alone 2, Kevin allein in New York’ zu mieten.
„Nee. Ich denke nicht, dass die Stress machen“, antwortete Clifford und steckte voller Vorfreude die VHS-Kassette in den Recorder.
„Was macht dich so sicher?“
„Das wäre denen viel zu peinlich. Zu Weihnachten von einem Weihnachtsmann beklaut zu werden…“
Jeff musste schmunzeln. Wo er recht hatte, hatte er wohl recht.

„Wann kommt dein Freund vorbei?“, fragte Clifford nach einer Weile, und bemerkte dabei, dass ihm ein Stück Donut zwischen die Beine gefallen war. „Mach mal kurz Pause“.
Aus der, wie er fand eher mickrigen Belohnung des FBI, hatte er einen grossen beleuchteten Plastikweihnachtsbaum, eine nicht ganz so günstige Santa-Clause Büste und zwei Dutzend Donuts gekauft. Den Rest hatte er für die Miete aufbewahrt, die er Jeff schuldete.
„Wer…?“
„Du weist schon, der Typ der ab nächsten Monat einzieht?“
„Achso… der. Er hat neulich abgesagt. Habs wohl vergessen zu erwähnen. Hat was näher an der City gefunden“, antwortete Jeff und drückte wieder auf ‚Play‘.
„Wie heisst er eigentlich?“
„Bill.“
„Bill was?“
„Ach… Leck mich! Red kein dummes Zeug und reich mir lieber nen Donut rüber…“

Epilog

Jeff war selbst von seiner Grosszügigkeit überrascht. Die 1'000 Dollar schmerzten ihn zwar, aber er dachte sich: ‚Scheiss drauf, es ist Weihnachten.‘ Mit etwas Glück würde er eventuell sogar einen Teil davon zurückbekommen, schlussendlich schuldete er ihm ganze 1’200 Mäuse.
Aber wie er Clifford kannte, wohl eher nicht. Er war vielleicht nicht der Hellste, aber ein feiner Kerl, der leider auf die schiefe Bahn geraten war. Mit Geld konnte er aber definitiv nicht umgehen.
Erstaunlich, dass er bisher nur Weihnachtsdeko gekauft hatte und noch keine teure Uhr oder irgendetwas von diesem nutzlosen Star-Wars-Zeugs.
Egal, wenn er Cliff dabei helfen würde, seinen üblichen depressiven Zustand zu überspringen, in den er fiel, sobald er wieder arbeitslos wurde, dann hätte es sich schon gelohnt.

Aktuell lief es jedenfalls sogar besser als erhofft. Der Vietnamveteran schien wie ausgewechselt. Er roch seit einer Woche nicht mehr nach Gras, das er meist ‚heimlich‘ auf dem Balkon rauchte, und hatte sogar eine vielversprechende Diät angefangen. Die war auch dringend notwendig, denn wenn er so weitermachte, würde er nächstes Jahr in kein Kostüm mehr hineinpassen.
Auch er hatte seit ein paar Tagen nichts mehr heimlich getrunken, er fühlte sich irgendwie… zufrieden.
‚Der Ex-Junkie und der Ex-Alkoholiker‘, eine durchaus aussichtsreiche WG.

Nur ein Gedanke bescherte ihm manchmal einen unruhigen Schlaf. Was wäre, wenn diese merkwürdigen Leute mit ihrem sonderbaren Sprössling zufällig ihre Wege mit Cliff kreuzten? Letztendlich hatte sich herausgestellt, dass sie keineswegs Entführer, sondern tatsächlich seine leiblichen Eltern waren die einfach über die Festtage nach Europa reisen wollten.
Und diesmal hatte er sich definitiv bei seinen Kollegen blamiert, und zwar bis zu den Unterhosen. Sie würden ihm nie verzeihen, dass er ihre Zeit und sie ihre neue, teure Ausrüstung umsonst eingesetzt hatten.
Er zuckte mit den Schultern. Na ja, New York war riesig. Wie hoch war da schon die Wahrscheinlichkeit, dass er ihnen wieder begegnete?

Jedenfalls war sie definitiv kleiner als die Wahrscheinlichkeit, dass sie jemals noch einen weiteren Batman-Film drehen würden. Der letzte war richtig Scheisse gewesen...

ENDE

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