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geschrieben 2018 von Ada Eritrea (Ada Eritrea).
Veröffentlicht: 08.05.2020. Rubrik: Unsortiert


Counterclockwise

Ann sitzt am Küchentisch und trinkt ihren Kaffee. Schwarz. Ohne Zucker, ohne Milch. Das Wetter draußen verheißt nichts Gutes.
Der Himmel ist mit dunklen, grauen Wolken verhangen und bald würde es bestimmt anfangen zu regnen. Gleich wird sie aufstehen und den leeren Becher zur Spüle tragen. Dann wird sie den Schlüssel von der Anrichte nehmen, sich den Schal um den Hals legen und zur Arbeit fahren. Jeden Tag derselbe Ablauf, dieselbe Routine. Heimkommen um 17:00 Uhr. Essen. Abspülen. Sauber machen. Vielleicht noch einen Kaffee, vielleicht auch nicht. Um 18:00 Uhr beginnt ihre Lieblingssendung. Um 19:30 sieht sie sich die tagesaktuellen Nachrichten an. Danach kommt das Wetter für die nächsten Tage. Nach der Wettervorhersage geht sie zu Bett. Ann hasst diese Routine. Sie wollte immer Abwechslung in ihrem Leben haben. Jeden Tag Neues erleben, nie wissen was der Tag bringt.
Jetzt sitzt sie hier und sinniert über ihre derzeitige Situation. Eigentlich kann sie sehr zufrieden mit sich sein. Sie ist jung, hat einen fixen Arbeitsplatz und hin und wieder kann sie sich auch einen Urlaub gönnen. Obwohl sie kaum Sport macht, hat sie einen gut geformten Körper. Nicht zu viele Kurven, aber auch nicht zu wenig. Trotzdem würde sie gerne etwas sportlicher sein. Wer weiß wie lange die guten Gene für sie mitspielen und ihre Figur sich nicht verschlechtert. Doch sie konnte sich nie durchringen wirklich ins Fitnessstudio oder laufen zu gehen. Auch wenn sie ein komplettes Sportoutfit besitzt, hat sie es bisher nur einmal benutzt. Ann ist nie wirklich zufrieden mit dem, was sie gerade hat. Mit 16 sehnte sie sich nach einem fixen Freund, mit dem sie glücklich sein konnte. Bald darauf lernte sie Ben kennen, mit dem sie lange zusammen war. Aber nach sechs Jahren Beziehung fragt sie sich allmählich, ob es wirklich Liebe war, die sie zusammenhält, oder vielleicht doch einfach nur die Routine. Aber sie schob den Gedanke, wie so viele andere auch, beiseite. Ann graute es vor Veränderungen. Einerseits möchte sie einiges in ihrem Leben anders machen, andererseits kann sie sich nicht dazu aufraffen etwas daran zu ändern. Wer weiß ob die Veränderung im Nachhinein das Beste gewesen war? Danach konnte sie nichts mehr rückgängig machen und musste sich einen Fehler eingestehen. Daher beließ sie meist alles beim Alten. Bis Ben für Veränderung sorgte, indem er sie mit seiner Arbeitskollegin betrog und für sie verließ. Die Tatsache, dass er ihr die Entscheidung abnahm wie es weitergehen wird, half ihr die Beziehung schnell zu überwinden. Sie hatte nur für kurze Zeit Liebeskummer. Um Ehrlich zu sein, war sie sich gar nicht sicher ob es Liebeskummer war oder nur die Tatsache, dass sich ihre Routine jetzt doch ändern würde. Sie seufzte. Das war vergangen. Die Beziehung war schon einige Monate vorbei und eine neue Routine zog ein. Welche sie wiederum nicht wirklich leiden konnte.
Sogar ihren Namen mochte sie nicht. Ann. 3 Buchstaben, nur zwei davon verschieden. Somit der langweiligste und monotonste Name der ihr einfiel. Ihre beste Freundin heißt Valentina. Schön, exotisch und trotzdem wohlklingend. Die schöne Valentina, deren Leben ein Abenteuer ist. Die beiden kennen sich seit dem Kindergarten. Valentina macht stets was ihr gerade in den Sinn kommt, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Manchmal hat sie das schon in Schwierigkeiten gebracht, aber bereut hat sie keine ihrer Taten. Ann hingegen geht gerne auf Nummer sicher. Lieber kein Risiko eingehen. Zwar hat sie ein paar Hobbys angefangen, aber die meisten davon hat sie schnell wieder aufgegeben. Ihr fehlt einfach die Disziplin und der Ehrgeiz um etwas von Anfang bis Ende durchzuziehen. Daher befinden sich in ihrer Abstellkammer diverse Musikinstrumente, ein Handbuch zum Gärtnern, sowie diverse Fachliteratur über Aquarellmalerei. Zu mehr als den Ankauf der Bücher ist es aber nie gekommen. Meistens verhält es sich bei Ann mit einem neuen Hobby so: Sie recherchiert im Internet, kauft sich teure Fachliteratur oder Utensilien, um sie dann nach ein- oder zweimal ausprobieren wegzulegen. Die teuerste Anschaffung war eine professionelle Fotokamera in ihrer kurzen Karriere als Fotografin. Sie wollte sich eingehend mit der Kamera beschäftigen und schöne Naturfotos machen. So hätte sie ein neues Hobby und wäre auch noch an der frischen Luft. Aber wie das eben so ist bei Ann hat sie das Fachbuch zur Kamera nur durchgeblättert und als sie einmal ihre Kameraeinstellungen derart verstellt hatte, dass man kaum noch ein normales Foto machen konnte, legte sie sie frustriert zurück in den Karton und in die Abstellkammer. Also bedient sie sich jetzt wieder ihrer normalen, kleinen Digitalkamera. Zum hundertsten Mal spielt Ann mit dem Gedanken, was sie alles in ihrem Leben satt hat und ändern will.
Als Kind war es ihr Traum gewesen Ärztin zu werden und den Menschen in Not zu helfen. Als Jugendliche war sie auch Teil einer Jugendgruppe der Rettungshilfe. Später aber dachte sie, es wäre besser etwas stabileres zu wählen also studierte sie Betriebswirtschaft, obwohl sie Rechnungswesen hasst. Doch etwas Besseres fiel ihr damals nicht ein und irgendwie fand sie danach keine Zeit mehr für die Ausbildung zur Rettungshelferin. Die Studienzeit wollte Ann aber nicht missen, daher konnte sie es auch nie bereuen das Studium begonnen zu haben. Mit einigen Studienkollegen ist sie auch heute noch in engem Kontakt und wenn sie sich treffen ist es, als wäre die Studienzeit noch gar nicht vorbei. Ein kleines Lächeln formt sich auf Anns Lippen, als sie an die Zeit zurückdenkt. Damals war die Realität noch weit weg. Nun sitzt sie hier an ihrem Küchentisch und wünscht sich die Zeit würde einfach stehen bleiben. Sie hat noch 15 Minuten bevor sie zur Arbeit muss. An sich gefällt ihr ihre Arbeit. Sie hat nette Arbeitskollegen und ein solides Einkommen. Trotzdem fehlt ihr manchmal die Abwechslung. Jeden Tag der gleiche Ablauf, dieselben Tätigkeiten, dieselben Leute. Ob dass das Leben ist, von dem alle immer träumen? Solides Einkommen. Ein, zwei Hobbys und irgendwann wird geheiratet. Dann kommen die Kinder. Die Kinder werden groß, ziehen aus. Man geht in Rente, kümmert sich um den Garten, die Blumen im Haus. Beschwert sich über den Nachbarn und die hohen Kosten für Lebensmittel und irgendwann zieht man um in ein Altersheim, wo man sich dann darüber beschwert, dass niemand einen besuchen kommt, obwohl du eigentlich auch niemanden sehen willst. Bis man dann aus Langeweile stirbt. Bei mir wird es wohl so sein, dachte sich Ann. Sie unternahm ja auch nicht gerade viel um dem Entgegen zu wirken. Noch zehn Minuten. Ann war gut darin ihr Leben in alle Einzelheiten zu zerdenken und in „Was-wäre-Wenn“-Fragen auf zu bröseln. Was wäre wenn sie ihren Job kündigen würde und endlich ihre Ausbildung als Rettungshelferin antreten würde? Oder wenn sie dem Scheitern ihrer Beziehung zu Ben auf den Grund geht und dahinter kommt, dass sie nie füreinander bestimmt waren. Was wäre, wenn sie Schluss gemacht hätte? Wäre sie dann frei oder merkt sie irgendwann, dass er doch das Beste in ihrem Leben ist und sie nie so glücklich war als mit ihm? Ist es nicht ohnehin zu spät dafür? Es ist immer dasselbe Spiel mit Anns Gedanken. In der ersten Stufe redet sie sich ein, dass sie total unglücklich ist und alles was sie nicht hat sie bestimmt glücklich machen würde. Im zweiten Schritt zweifelt sie an allen Schritten die sie setzen müsste um eine Veränderung einzuleiten. Man kann ja nie wissen, ob die Veränderung gut ist oder nicht. Daher lieber beim Bewährten bleiben und nicht daran rütteln. Im dritten Schritt redet sie sich ein, dass alles nur an ihren blöden Eigenschaften liegt. Wäre sie nicht so voll von Selbstzweifeln und ständig unzufrieden, wäre das Leben bestimmt leichter für sie. Dann wäre sie bestimmt zufrieden mit dem was sie hat. Einen guten Job, nette Kollegen, ein paar Freunde. Eigentlich ein lebenswertes Leben. Doch so ist Ann nun mal nicht. Diese tollen Eigenschaften hat sie von ihrer Mutter geerbt. Auch sie wollte ständig mehr, ständig weiter rauf und vor allem ständig weiter weg. Und sie möchte dasselbe für Ann. Damit setzt ihre Mutter sie ständig unter Druck. Ann konnte nie herausfinden, was sie eigentlich will und was sie ihrer Mutter zuliebe gemacht hat. Immer wenn sie einen Weg einschlägt und eine Entscheidung treffen muss, fragt sie sich: Will ich dass wirklich oder will ich es weil meine Mutter es von mir verlangt? Sie wusste es wirklich nicht. Seit Jahren war sie Aussagen ausgesetzt wie: Du musst mehr wollen. Du musst mehr sein. Sei Selbstbewusst. Sei anders. Sei besser. Sei herausragend.
Diese Zurechtweisungen bewirken bei Ann nur, dass sie sich wie das genaue Gegenteil fühlt. Sie weiß, dass ihre Mutter es eigentlich nur gut meint mit ihr. Aber würde es jemals reichen? Würde ihre Mutter jemals stolz auf sie sein? Könnte sie denn überhaupt selbst stolz auf sich sein? Derzeit war sie es auf jeden Fall nicht. Ihr Leben ist monoton und unspannend. Sie ist Single, was sie nicht unbedingt stört, aber sie ist allein. Zwar genoss sie die Zeit mit sich allein, sobald sie in einer Beziehung war. Wenn sie jedoch dazu gezwungen ist allein zu sein, fehlt ihr jemand an ihrer Seite. Ann schüttelt ihren Kopf und steht auf. Sie stellt die Tasse in die Spüle und nimmt den Schlüssel. Während sie sich den Schal um den Hals schwingt und die Jacke vom Haken nimmt, hört plötzlich die Wanduhr auf zu ticken. Ann blickt auf. Diese plötzliche Stille in ihrer Küche war etwas unheimlich. Die alte Uhr gehörte ihrer Oma, die sie ihr nach ihrem Tod vor drei Jahren vermacht hat und seitdem in ihrer Küche hängt. Ann liebt alte Sachen an denen Erinnerungen hängen und diese Uhr war eine besondere Erinnerung an ihre Oma. Die beiden hatten zwar kein Bilderbuch Verhältnis, Anns Oma backte nie Kekse und erzählte auch kaum von früher. Aber sie hatten einen Draht zueinander und verstanden sich gut. Ihre Großmutter fehlte Ann sehr und daher war die Wanduhr ein großer Trost für sie. Dass sie jetzt aufhörte zu schlagen war, als fehlt etwas in der Wohnung. Sie geht zur Uhr und betrachtet sie genauer. Da sie nichts kaputt machen wollte, beschloss sie die Uhr später zu einem Uhrenmacher zu bringen. Als sie fasst an der Tür war, hört sie wieder das vertraute Ticken. Doch diesmal ist es etwas dumpfer als sonst. Sie dreht sich erneut zur Uhr um. Sie läuft wieder. Doch gegen den Uhrzeigersinn. Ann glaubt ihren Augen nicht. Sie geht zur Uhr und betrachtet sie für eine ganze Minute, als würden die Zeiger bald aus dem Uhrwerk springen. Sie tickt normal vor sich hin, nur dass sie gegen den Uhrzeigersinn läuft. Das ist doch verrückt. Normalerweise hören Uhren auf zu schlagen, aber das hier? Zuerst stoppt sie und fängt dann rückwärts an zu schlagen? Das ergibt doch keinen Sinn. Ann verlässt die Wohnung und geht zu ihrem Auto. In Gedanken ist sie immer noch bei der Uhr an der Wand. Schon ein komischer Zufall, dass sie so plötzlich aufhört zu funktionieren und dann verkehrt rum schlägt.. Eigentlich eher untypisch für ein antikes Werk. Auch während Ann im Auto sitzt, wandern ihre Gedanken immer wieder zu der kaputten Uhr zurück. Seit die Uhr stehen geblieben ist und rückwärts läuft, umringt sie ein komisches Gefühl. So als wollte die Uhr ihr etwas sagen. Ann schüttelt wieder einmal den Kopf. So ein Blödsinn. Was sollte eine kaputte Uhr ihr schon sagen? Wahrscheinlich war etwas im Zahnwerk kaputt gegangen und lässt sie deshalb gegen den Uhrzeigersinn laufen. Es gibt bestimmt eine logische Erklärung dafür. Ihre Gedanken wandern weiter zu ihrer Großmutter. „Die Uhr zeigt einem manchmal den Weg“, hatte sie einmal gesagt. Ann verstand damals nicht, was ihre Großmutter ihr zu sagen versuchte und auch jetzt erscheint es ihr mehr als wäre es ein kryptischer Rat einer alten Frau als wirkliche Weisheit. Vor ihr springt die Ampel auf rot und Ann steigt scharf in die Bremse. Ann atmet durch. Plötzlich hört sie das vertraute Ticken der Heizung, kurz bevor sie sich ausschaltet. „Blödes Ding“, sagt Ann zu sich selbst und klopft mit der flachen Hand gegen die Heizung. Ihr altes Auto hat so einige Tücken und die Heizung fiel immer dann aus, wenn es draußen kalt war. Ann beginnt es bereits zu frösteln, daher zieht sie die Jacke enger um sich und legt wieder einen Gang ein. Da sie noch einen weiten Weg zur Arbeit hat, wird es zunehmend kälter im Auto. Ihre Scheiben beginnen anzulaufen und sie sieht nur mehr schlecht auf die Straße. Sie kneift die Augen zusammen und wischt mit dem Handrücken immer wieder über die Scheibe, um etwas zu Erkennen. Plötzlich steht ein Hund mitten auf der Straße. Ann tritt sofort auf die Bremse. Ihre Reifen schleifen über den glatten Boden und Verlängern so den Bremsweg. Obwohl Ann klar war, dass sich der Bremsweg für den Hund nicht mehr ausgehen kann, hofft sie inständig, dass er die Gefahr erkennt und zur Seite springt. Als der Wagen steht, traut Ann sich nicht die Augen zu öffnen. Als Ann jedoch aufblickt, ist kein Hund zu sehen. Weder vor ihrem Auto noch sonst irgendwo. Sie steigt aus dem Auto, um sich zu vergewissern. Dreimal umrundet sie ihr Auto, doch es war kein Hund zu sehen. Sie fragt auch ein paar Passanten, aber niemand hat einen Hund gesehen. Ann beginnt schon zu glauben, sie hat sich den Hund nur eingebildet, aber das konnte nicht sein. Erneut schüttelt sie den Kopf über ihre eigene Verwirrtheit: “Jetzt werde ich schon verrückt”, sagt sie zu sich selbst und steigt ins Auto. Der Motor ist bei der Aktion abgestorben und Ann versucht ihn wieder zu starten. Jedoch vergeblich. Wahrscheinlich hat sich die Batterie entleert. Ann schlägt gegen das Lenkrad. Wütend und verzweifelt trommelt sie immer wieder auf das Steuer. „Was für ein Scheiß Tag“, schreit sie in die Luft. Während Ann so in ihrem kaputten Auto, mit ihrer kaputten Heizung und dem kaputten Leben sitzt, laufen ihr bald Tränen über die Wange. Sie hat einen Punkt erreicht, an dem sie nicht mehr weiter kommt und sie hat nicht mehr die nötige Kraft, um weiter zu machen. Warum soll sie sich über ihr kaputtes Auto aufregen, das sie zu einem Job bringen soll, den sie gar nicht machen will? Sie fragt sich, wie es dazu kommen konnte. In jungen Jahren war sie ein lebensfroher, glücklicher Mensch gewesen und voller Tatendrang blickte sie den Aufgaben des Lebens entgegen. Doch irgendwann schlichen sich der Alltag und die Trostlosigkeit bei ihr ein und blieben. Eine Zeit lang versuchte sie dem zu Entkommen, doch egal welche neue Sportart, Ernährungsform oder Hobbies sie probierte, irgendwann gewann die Trostlosigkeit wieder Oberhand und die Sachen landeten im Schrank. Sie hatte genug davon. Genug von ihrem Alltag, dem Leben in Trostlosigkeit und ihrer fortlaufenden Verbitterung. Es war genug. Ann kam ein Gedanke. Vielleicht sollten das alles Zeichen sein. Erst die Uhr, dann die Heizung und schließlich der Hund, der plötzlich gar nicht mehr da war. Eigentlich glaubt Ann nicht an Zeichen und Vorhersehung. Welcher Gott hätte schon so ein Leben vorhersehen wollen? Aber seit die Uhr in ihrer Küche stehen geblieben ist und angefangen hat Rückwärts zu laufen, umringt Ann ein komisches Gefühl. Etwas ist anders an diesem Tag. Alles fühlt sich seltsam an, als läge etwas in der Luft. Etwas regt sich in ihr. Etwas verändert sich. Ann ist an einem Punkt in ihrem Leben angelangt, wo sie nicht mehr weitermachen kann. Plötzlich wird ihr klar, dass sie den Weg zur Arbeit heute nicht fahren wird. Abgesehen davon, dass ihr Auto sowieso streikt. Sie hat schon ein paar Mal in Zeitungen davon gelesen. “Weckruf”, nannten die Autoren dieses Phänomen. Wenn Menschen nicht mehr weiterkommen und in ihrem Leben gefangen sind, geschieht plötzlich ein Ereignis, dass sie wach werden lässt. Danach haben sie die Kraft und den Mut ihr Leben in die Hand zu nehmen – etwas zu verändern – und sich wieder aufzurappeln. Gut, meistens waren es Drogenabhängige oder Opfer von Missbrauch deren Geschichten da erzählt wurden und der Weckruf bestand meistens aus einem total aufregenden Erlebnis. Das sie einen anderen Menschen das Leben gerettet haben, oder Verstorbene im Traum wieder getroffen haben. Solche Dinge eben. Coole, draufgängerische Geschichten, die den Leser dazu bringen, Hoffnung zu haben. Bei Ann ist es eine rückwärtslaufende Uhr, eine kaputte Heizung und ein wahrscheinlich imaginärer Hund. Sei’s drum. “Weckruf ist Weckruf.” sagt Ann zu sich selbst und steigt aus dem Auto. Sie atmet die frische, kalte Luft ein und macht sich nicht einmal die Mühe das Auto abzusperren. Sollte die alte Klapperkiste jemand stehlen, war er selbst schuld. Von ihrem Handy aus ruft sie in der Arbeit an und meldet sich für den Tag krank. Da sie noch nie krank gewesen war, musste sie nicht lange einen Husten vortäuschen. Wahrscheinlich glaubten ihre Kollegen sie würde bald sterben, wenn sie wirklich mal nicht in der Arbeit erschien. 5 Jahre arbeitet Ann nun in dieser Firma und eigentlich wusste sie nie, warum sie sich derart hinein steigert. Die Arbeit macht ihr zwar Spaß, aber es war nie ihr Traumberuf gewesen. Trotzdem hängt sie sich jeden Tag rein, als wollte sie eines Tages die Firma übernehmen. Ann kommt es vor als verschwendet sie ihre ganze Energie für Dinge, die sie eigentlich gar nicht machen will. Damit ist jetzt Schluss. Sie geht in das kleine Café an der Ecke. Jeden Tag fährt sie auf dem Weg zur Arbeit daran vorbei und hat es dennoch nie geschafft reinzugehen. Sie wollte schon längst mit einem Kaffee am Tisch beim Fenster Platz nehmen und die Leute beobachten, die vorbei gehen. Da ihr Tag bisher eine so undefinierbare Wendung genommen hat, wollte sie nun endlich mal etwas machen, dass sie wirklich machen will und nicht weil es von ihr erwartet wird. Bevor sie ins Cafe geht, ruft sie noch den Abschleppdienst an und organisiert den Abtransport ihres Autos. Keinen Meter wollte sie mehr damit fahren. Im Cafe angekommen, bestellt sie einen Cappuccino und macht es sich am Fenster mit einer Zeitung gemütlich. Sie liest jedes Mal die Stellenanzeigen für Jobs und sinniert darüber ihre Arbeit zu kündigen und in einer neuen Firma anzufangen. Nicht dass sie es wirklich in Erwägung zog, aber man konnte sich ja mal informieren. Eine Anzeige jedoch ließ sie genauer lesen: „Starte jetzt deine Ausbildung als Rettungshelfer. Wir brauchen Dich!“ Ohne wirklich zu wissen, warum sie das tat, wählt Ann die angegebene Nummer in der Annonce. Sie wollte sich ja nur mal informieren. Muss ja nicht gleich heißen, dass sie es macht. Der Kurs würde einiges Kosten, aber Ann hat bereits gut gespart. Sie ist sehr sparsam mit ihrem Geld. Auch wenn sie nicht wirklich weiß, warum. Es war ja nicht so, dass sie auf etwas Konkretes spart. Aber sie hatte es so von ihren Eltern gelernt, also macht sie es auch. Zufällig war der Beginn des Kurses auf heute Nachmittag angesetzt. Daher glaubt sie nicht, dass noch Plätze frei sind. Doch die Dame am Telefon meint, sie hat Glück. Gerade hat noch kurzfristig jemand abgesagt, daher wäre noch ein Platz frei. Ohne wirklich zu überlegen, sagte Ann zu und legte auf. Obwohl es jetzt an der Zeit war all ihre Gedanken und Entscheidungen zu hinterfragen und zu Grübeln, ob es wirklich die richtige Entscheidung gewesen war sich krank zu melden und einen Kurs als Rettungsschwimmerin zu starten, kommen diesmal keine Zweifel auf. Als gäbe es nichts worüber sie sich Gedanken machen sollte. Also belässt sie es dabei und trinkt weiter ihren Kaffee und beobachtet die Leute, die sich geschäftig auf den Weg zur Arbeit oder sonst wohin machen. Sie nimmt auch ein kleines Mittagessen im Cafe ein und verbringt den ganzen Tag am selben Tisch. Liest Zeitung und beobachtet die Menschen. Sie hat sich noch nie so seelig und befreit gefühlt. Sie verlässt das Cafe erst, als es Zeit wird den Kurs zu besuchen. Der Einführungskurs dauert bis zum späten Abend. Insgesamt würde er drei Wochen dauern und da hauptsächlich berufstätige Menschen den Kurs absolvieren, ist er auch immer abends angesetzt. Das würde eine anstrengende Zeit werden, aber Ann freut sich darauf. Endlich ändert sie etwas in ihrer täglichen Routine und sie hat wieder entdeckt, wie sehr ihr die Arbeit als Rettungshelferin Spaß macht. Am Abend als sie erneut von ihrem Kurs nach Hause geht, überkommt sie ein seltsames Gefühl. Sie möchte unbedingt Ben von ihrem Kurs erzählen. Ohne groß nachzudenken wählt sie seine Nummer. Er ist überrascht von ihr zu hören, aber freut sich. Sie unterhalten sich eine Weile und machen ein Treffen für den nächsten Tag aus. Sie freut sich Ben wieder zu sehen. Sie hat ihn sehr vermisst, muss sie sich eingestehen. Er sieht gut aus, als er ins Cafe kommt und wirkt auch froh darüber, sie zu sehen. Sie unterhalten sich offen und ungehemmt über alles Mögliche. Ann konnte nicht sagen, ob sie jemals zuvor so ein Gespräch mit Ben geführt hat, als sie noch zusammen waren. Bens Beziehung, für die er Ann gehen ließ, zerbrach nur wenige Wochen danach. Als sich auch bei ihnen der Alltag breit gemacht hat, merkte er, dass er sie nicht liebte. Ann tat es leid. Sie wollte nur, dass er glücklich war. Egal ob mit ihr oder sonst jemanden. Sie beschließen Freunde zu bleiben und weiterhin in Kontakt zu bleiben. Nachdem sie sich eine Woche lang jeden Tag sahen, wollten sie ihrer Bezi
Die drei Wochen vergingen wie im Flug und Ann absolviert mit Auszeichnung. Als die Auszeichnungen vergeben werden, tritt der Kursleiter an sie heran und fragt sie, ob sie an einem Auslandsaufenthalt für ein paar Monate in einem Krankenhaus in Ecuador interessiert wäre. Viele Menschen ertrinken dort, weil sie nie schwimmen lernen und die Hilfsorganisation hat genug Geld gesammelt, um einen Kurs dort anzubieten. Der Trip ist für 3 Monate geplant und sie suchen noch Freiwillige. Ann zögert. Das war genau wonach sie immer gesucht hat und ein lang gehegter Traum. Doch könnte sie das wirklich durchziehen? Sie muss dafür ihren Job kündigen. Sie bezweifelt, dass ihr Chef Verständnis dafür haben wird und ihr die Auszeit einfach so genehmigt. Obwohl Ann einer seiner besten Mitarbeiter ist, war ihr immer klar, dass er für keinen eine Ausnahme machen würde. Was würde Ben zu dem Ganzen sagen? Er hat sie immer bei ihren Vorhaben unterstützt, vermutlich aber weil er wusste, dass nie etwas Konkretes daraus wird. Schon gar nicht wenn es um einen längeren Aufenthalt am anderen Ende der Welt geht. Sie wollte aber auch nicht unhöflich sein und gleich absagen, daher wollte sie es sich überlegen. Damit gab sich der Ausbilder vorerst zufrieden. Als Ann an diesem Abend in ihre Wohnung kommt, fällt ihr zum ersten Mal seit Wochen auf, wie Still es ist. Die Uhr! In der Aufregung der letzten Wochen hat sie vergessen, sie zum Uhrmacher zu bringen. Eigentlich ist sie schon zu müde, aber sie hat ein schlechtes Gewissen und fährt sofort mit der Uhr los. Der Uhrmacher den sie im Internet gegoogelt hat, hat noch offen, aber sie muss sich beeilen. Der ältere Herr betrachtet mit großer Anerkennung das Wertstück und fragt Ann, was sie dafür verlangen würde. Ann kann sich niemals vorstellen sich von der Uhr zu trennen, egal wie viel Geld ihr jemand dafür anbietet. “Sehen Sie das? Sie läuft rückwärts. Zuerst hat sie gestoppt, doch nach ein paar Minuten lief sie wieder, aber gegen den Uhrzeigersinn und es hat sich nicht mehr geändert seitdem.” Der Uhrmacher beschäftigt sich eine halbe Stunde eingehend mit der Uhr, doch er konnte einfach keinen Fehler finden. Alles war in tadellosem Zustand und er kann sich selbst nicht erklären, warum die Uhr gegen den Uhrzeigersinn läuft. Etwas enttäuscht fährt Ann zurück in ihre Wohnung. Sie hat so sehr gehofft, dass die Uhr wieder zu reparieren ist. Irgendwie hat sie ein schlechtes Gewissen deswegen. Als ist es ihre Schuld, dass die Uhr aufgehört hat zu ticken und jetzt falsch läuft. Wenn sie den Worten ihrer Oma Glauben schenkt, würde es bedeuten die Uhr hat ihr etwas zu sagen. Was es wohl sein könnte? Ann ließ ihren Grübeleien freien Lauf, aber sie kam nicht dahinter. Doch irgendwann lichtet sich der Nebel ihrer Gedanken. Sie hat es im Trubel der letzten Wochen fast vergessen, aber der Tag an dem sie ihr Leben änderte, war auch der Tag an dem die Uhr anfing, rückwärts zu laufen. Das konnte doch kein Zufall sein. Doch eines führte zum Anderen. Erst die Uhr, dann die Heizung und schließlich der Hund. Es waren Zeichen. Da ist Ann sich nun absolut sicher. Und solange sie ihren Weg nicht gefunden hat, wird die Uhr weiterhin rückwärts laufen. Die Uhr und die Tatsache, dass der Uhrmacher keinen Fehler finden konnte, bestärkte sie in ihrem Glauben. Solange sie weiter daran arbeiten wird ihr Leben so zu leben wie sie es sich vorstellt, war sie auf dem richtigen Weg. In dem Moment wird ihr klar, dass sie das Angebot nach Ecuador zu gehen, annehmen wird. Zwar wird es für ihre Beziehung mit Ben nicht leicht, aber wenn sie füreinander bestimmt sind, dann werden sie es schaffen. Da ist Ann sich sicher. Voller Vorfreude auf das neue Abenteuer, wurde Ann warm ums Herz. Es fühlt sich richtig an. Ein Lächeln trat auf Anns Lippen und sie fährt nach Hause.
Ihr Chef hat wie erwartet wenig Verständnis dafür, dass Ann die Welt retten will und daher einigen sie sich auf eine einvernehmliche Kündigung. Doch er lässt ihr die Option offen, jederzeit zurückkommen, falls sie es sich anders überlegt. Ann bedankt sich und lehnt das Angebot sogleich ab. Genau diese Optionen hat sie immer in ihrem Leben gebraucht. Einen Weg zurück. Alles ungeschehen machen, falls es sich doch als Fehler herausstellt. Diesmal jedoch wollte sie keine Option zurück. Ben war überrascht über ihren plötzlichen Sinneswandel, versucht aber so gut er kann sie zu unterstützen. Sie würden das schon irgendwie schaffen sagte er zu ihr und Ann glaubt ihm. Der Tag ihrer Abreise ist schneller da als gedacht und Ann freut sich wie schon lange nicht mehr. Endlich bricht sie auf in die Abenteuer von denen sie sonst immer nur in Büchern liest oder von anderen hört. Mit dieser neu gewonnenen Energie macht sie sich mit ihrem Team auf nach Ecuador. Dort ist sie in einer anderen Welt. Sie hilft wo sie nur kann. Jeden Tag ist sie von morgens bis spät in der Nacht im Krankenhaus oder beim Schwimmkurs und fällt danach wie ein Stein ins Bett. Aber sie ist glücklich. Sie hat es endlich geschafft etwas durchzuziehen und nicht nur darüber nachzudenken. Sie merkt wie sich etwas in ihr verändert hat im Laufe der Wochen. Die Arbeit in Ecuador und die Tatsache, dass hier Leute sind die auf ihre Hilfe angewiesen sind, sorgt für eine innere Ruhe, die sie seit Jahren gesucht hat. Endlich ist sie angekommen. Und plötzlich erscheinen ihr all die Zweifel und Ängste von früher nichtig und klein. Mit ein bisschen Mut zur Veränderung kann man so viel Erreichen und jahrelang hatte sie solche Angst davor. Wie lächerlich ihr das jetzt vorkommt. Jetzt wo sie weiß wie dieses Gefühl ist, wenn man das tut was man liebt, würde sie nie wieder vor Veränderung zurückscheuen. Sie freut sich darauf, ihr Leben nun endlich in die Hand zu nehmen. Es müssen nicht immer so große Dinge sein, wie die Reise nach Ecuador. Auch kleine Veränderungen im Leben können etwas ausmachen. Jeden Tag versucht Ann etwas Neues auszuprobieren. Etwas wovor ihr sonst immer gegraut hat oder sie einfach nie die Zeit fand es durchzuziehen. Schritt für Schritt beginnt Ann einiges in ihrem Leben umzukrempeln und auch Ben gefällt diese neue Seite an ihr. Endlich können sie gemeinsam aktiv sein. Zum ersten Mal seit langer Zeit ist das Leben für sie voller aufregender Sachen und Ann freut sich jeden Tag aufzustehen. An einem Morgen sitzt Ann in ihrer neuen Küche am Küchentisch und trinkt ihren Kaffee. Ohne Zucker, ohne Milch aber mit einer gesunden Portion Schlagsahne obendrauf. Sie hat sich einen neuen Anstrich für die Küche gegönnt. So sieht es heller aus und Ann fühlt sich um einiges wohler darin. Heute ist das Wetter schön. Die Sonne kommt langsam zwischen den Wolken hervor und wärmt Ann das Gesicht. Es versprach ein herrlicher Frühlingstag zu werden. Sie hat es endlich geschafft ihren Hintern hoch zu kriegen und ihre Träume zu verwirklichen. Manchmal muss man auch Rückschläge erleiden, damit man aus den Fehlern lernen kann und es danach besser macht. Ann hat das alles schon hundert Mal gehört, gesehen oder gelesen. Aber diese Erfahrungen selbst zu machen, ist ein enormer Unterschied. Sie hat endlich erkannt was ihr im Leben fehlt und was ihr Gut tut. Es hat sie enorm viel Kraft gekostet soweit zu kommen, aber es war das Ganze wert. In ein paar Minuten wollte sie zu ihrer neuen Arbeit aufbrechen. Sie verdient ein gutes Stück weniger als vorher, aber das war okay. Sie wird sich langsam vorarbeiten müssen und es wird noch ein langer schwieriger Weg werden, aber schon jetzt hat sich die Ausbildung für Ann gelohnt. Sie fühlt eine innere Selbstzufriedenheit wie noch nie in ihrem Leben und jeden Tag verlässt sie gern die Wohnung, um in die Arbeit zu fahren. Ein Gefühl das sie vorher noch nie hatte. Jetzt würde alles Gut werden, dachte sich Ann. Endlich war sie stolz auf sich selbst. Sie hat endlich erreicht, wonach sie sich all die Jahre gesehnt hat. Mit einem Lächeln sieht sie zur Uhr. Noch immer läuft sie rückwärts, doch mittlerweile hat sie sich daran gewöhnt. Sie ist da, wo sie hingehört. Und damit ist Ann zufrieden. Sie genießt ihren Kaffee und lässt die Sonnenstrahlen ihr Gesicht wärmen.

Ann schüttelt abermals den Kopf. Das Lächeln in ihrem Gesicht verblasst etwas und verschwindet schließlich ganz. Der Himmel ist mit dunklen, grauen Wolken verhangen und als der Wind auffrischt, fängt es an zu regnen. Der schwarze Kaffee vor ihr wird langsam kalt. Sie betrachtet ihre triste Küche, mit der alten Farbe an der Wand. Wie ein Spiegel ihrer Seele, dachte Ann. Sie sieht zur Wanduhr ihrer Großmutter. Die Uhr tickt und tickt. Unaufhörlich und ohne anzuhalten machte sie im Uhrzeigersinn ihre Runde. Tick Tack. Tick Tack. Tick Tack. Ann seufzt. Sie muss aufbrechen, sonst kommt sie zu spät zur Arbeit. Ann erhebt sich von ihrem Tisch und stellt die Tasse mit dem kalten Kaffee in die Spüle. Sie nimmt den Schlüssel von der Anrichte und schwingt sich den Schal um den Hals. Bevor sie ihre Wohnung verlässt seufzt Ann. Sie hofft nur, dass ihr Auto anspringt und die Heizung nicht schlapp macht. Mit einem letzten Blick auf die tickende Wanduhr schließt sie die Tür hinter sich. Es würde ein Tag wie jeder andere werden.

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