Ein freier Platz

Ich war jung und fuhr mit dem Bus nach der Schule nach Hause. Alle Plätze bis auf den neben mir waren besetzt. An der letzten Haltestelle vor meinem Dorf stiegen zwei Frauen ein, unzweifelhaft beide aus dem Dorf, aus dem Dorf, wo jeder jeden kannte, wie das in den Dörfern so üblich ist. Beide Frauen blieben vor dem leeren Platz neben mir stehen, die eine schnaufte - so sehr hatte sie sich also beeilt, den Platz zu ergattern, dass sie ins Schnaufen gerät, dachte ich - hielt sich mit einer Hand an der Haltestange fest und machte eine einladende Handbewegung zur anderen hin: „Bitte setzen Sie sich. Ich habe den Platz extra für Sie freigehalten."
Die andere hielt sich ebenfalls an der Haltestange fest, schüttelte aber den Kopf. „Nein, nein! Setzen Sie sich! Ich habe den Platz auch gesehen und wollte ihn für Sie freihalten."
„Das ist doch nicht nötig!" Die erste lächelte. „Kommt gar nicht in Frage! Das ist Ihr Sitzplatz."
Keine von beiden setzte sich. Die Fahrt dauerte fünf Minuten und ich fühlte mich an ein Theaterstück erinnert. Oder an einen Sketch, zum Beispiel „Der Kosakenzipfel" von Loriot.
Keine wollte nachgeben. Keine setzte sich.
Die Frauen stiegen zusammen mit mir aus. Die eine ging nach rechts, die andere nach links, in die gleiche Richtung wie ich. Auf einmal drehte sie sich zu mir um.
„Sag mal, Mädchen - hättest du nicht einfach aufstehen können?"

Weitere Kurzgeschichten von diesem Autor: