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geschrieben von francois.
Veröffentlicht: 01.01.2021. Rubrik: Unsortiert


SILVESTERABEND

Was in der Silvesternacht geschehen kann in der Wochengeschichte aus meiner Feder:

Vor einem halben Jahr habe ich meine Strassenbahnführerprüfung mit der Bestnote abgelegt. Bin seither im Fahrdienst tätig. Ich liebe meinen Beruf. Den Tramzug durch das Gewusel der Innenstadt bis hin ins Grüne der Vorstädte zu fahren, ist immer spannend. Niemals langweilig. Die Landschaft ändert sich mit den Jahreszeiten. Mit den Wetterkapriolen. Mit der Tages- und Nachtzeit. Auch die Menschen, die ich befördere, bieten Abwechslung. An jeder Haltestelle steigen Schicksale zu und aus. Ich versuche dann, einen Passagier zu fixieren. Stelle mir vor, was er bereits alles erlebt hat. Der gebeugte Greis, der am Stock geht. Die Matrone, die ihren Begleiter laut ausschimpft. Der Schuljunge mit dem schweren Schulranzen, den er kaum tragen kann. Das engumschlungene Liebespaar. Jeder für sich mit Freud und Leid ein kleines Lebensuniversum. Immer wieder staune ich über die Vielfalt an Leben, die sich mir mit meinen Passagieren präsentiert. Und diese in meiner Fantasie zu erforschen, mir vorzustellen, was für Lebenswege, steinige und glatte, hinter der Fassade eines Mitmenschen steckt, ist ein Steckenpferd, dem ich trotz oder eben wegen der Hochkonzentration an den Schalthebeln meines kraftvollen Trams mit höchstem, stets wiederkehrendem Genuss huldige. Von einer Kollegin vernahm ich letzthin, dass die Greenhorns im Team für speziell unattraktive Einsätze ausgewählt würden. Heiligabend und Weihnachten sowie Silvester seien dabei die "Highlights" und erst als ausgereiftes Greenhorn mit Gelbstich werde man allmählich davon entbunden. Ich solle mich also darauf vorbereiten. Meine Familie warnen. Den Heiligabend verschieben, obwohl sie mir rate, nicht an einem Unheiligabend zu feiern. Das bringe kein Glück. Den familiären Jahresbeginn verzögern.

Dazu verzog die erfahrene, sehr attraktive Kollegin, die ihre Dienstmütze immer schräg auf dem Haupt trug, damit ihr blonder Schopf trotz allem zur Geltung kam, ihr Gesicht zu einem adretten Grinslein. Es Grinsen zu nennen, wäre unzutreffend und unhöflich gewesen. Und tatsächlich, als ich meinen Dezember-Dienstplan studierte, war mein Name an den Feiertagen eingetragen. Erleichtert stellte ich jedoch auch fest, dass am 24. Dezember der Betriebsschluss bereits auf 19 Uhr festgelegt war, sodass von Unheiligabend keine Rede sein konnte und meine Lieben auf mich warten würden. Anders an Silvester. Doch der Jahresanfang samt Feuerwerk, das ich ja im Führerstand miterleben konnte, ist menschgemacht, und ob ich den Jahresanfang am 30. Dezember vor-, oder am 1. Januar nachholen würde, spielte sicherlich keine grosse Rolle. Und ich konnte auf den Gelbstich zählen, der sich möglicherweise schon ein Jahr später einstellen würde.So absolvierte ich gelassen den hektischen Dienst am Heiligabend. Alle Passagiere wollten möglichst rasch ihr Ziel erreichen. Geschenkbeladen. Stressspuren und Vorfreude zeigend. Aber auch nachdenklich, weil an der Feier vielleicht ein bekanntes Gesicht fehlen würde.

Um acht Uhr abends wäre ich dann zu Hause und könnte mit dem erwartungsvollen Glitzern in den Augen meiner Kinder den heiligen Abend geniessen. Der Weihnachtstagesdienst verlief gemütlich. Einige Passagiere kredenzten mir Weihnachtsgebäck und von einer Dame erhielt ich einen Becher alkoholfreien Weihnachtspunsch. Alles in allem verlief der Tag heiter und selbst Autofahrer winkten mir freundlich zu. Die wohl verdiente Freizeit zwischen den Jahren genoss ich. Ein Privileg der Greenhörner, die Feiertagsdienst zu verrichten hatten, von dem mir meine Kollegin nichts erzählt hatte. Und trat meinen Silvesterdienst um 19 Uhr pünktlich und wohlgemut an. Die Betriebsleitung hatte uns per Anweisung zu besonderer Vorsicht angehalten, waren doch in der Nacht viele schwankende Fussgänger zu erwarten. Deshalb sollte das Fahrpersonal die Geschwindigkeit reduzieren und wenn notwendig im Schritttempo fahren, Fahrplaneinhaltung sei in dieser besonderen Nacht zweitrangig. Ich bereitete mich also auf einen gemütlichen Dienst vor, eine Thermoskanne heissen Kaffees im Rucksack. Und als ich diesen in meinen Befehlsstand stellte, fand ich darin auch zwei hübsch verpackte Glückskekse vor, auf denen in geschwungenen Grossbuchstaben vermerkt war: Erst um Mitternacht zu öffnen! Ich freute mich über dieses unerwartete Geschenk meiner Freundin und fieberte Mitternacht entgegen, um den Inhalt der kleinen Überraschung kennen zu lernen. Die Nacht war düster. Ich hoffte, dass kein Regen oder gar Schnee fallen würde, der das Silvester-Feuerwerk zum Ertrinken bringen könnte.

Gegen dreiundzwanzig Uhr kam Nebel auf. Meine Scheiben liefen allmählich an. Die Defrosteranlage begann zu surren. Ich fuhr zur Stadt hinaus. Schienen, die von der Strasse weg in eine eigene Trasse führten, machten das Fahren angenehm und entspannt. Ich musste nicht mehr auf den Verkehr achten. Konnte die Räder auch wieder schneller als Schritttempo drehen lassen. Jedes Mal, wenn ich hier vorbeifuhr, strahlte mein Fernlicht einen Maulwurfshügel an, der aus der Wiese herausragte, als sei er der Eingang dieser zum Palast des Maulwurfskönigs. Kleine Eiskristalle leuchteten jeweils darin auf, ein Naturschauspiel, das ich auch in dieser letzten Nacht des Jahres genoss. Doch bei der Durchfahrt um23.14 Uhr suchten meine Augen vergeblich danach. Die Wiese lag flach im Licht meiner Scheinwerfer. Der Maulwurfshügel war verschwunden. Da bereitet sich also auch der König auf ein neues Jahr vor. Entledigt sich aller Altlasten. Selbst seines Palasts, lachte die Schalkseele in meiner Brust belustigt auf. Gleich danach sah ich eine weisse wallende Wand auf mich zu kommen. Sie verschluckte mich mit Haut und Haar, Wagen und Passagieren. Auf einen Schlag waren alle Geräusche verschwunden. Selbst mein Seufzen erfolgte tonlos. Ohne jeden Schall. Ich verlangsamte unverzüglich die Fahrt. Reduzierte die Geschwindigkeit beträchtlich, um sicherzugehen, dass mir auf den Schienen nichts in die Quere kam. Die Sicht war auf beinahe Null gesunken. Schade, dass Strassenbahnen keinen Radar eingebaut haben, dachte ich. Nicht einmal ein Nebelhorn. Unvermittelt riss der Nebel auf. Der beinahe volle blassblaue Mond beleuchtete nun die Landschaft in gespenstischer Weise. Alle Konturenwirkten fremd. Unwirklich grüssten die Bäume und Wiesen. Und da kam erneut die dichte Nebelwand auf mich zu. Keine Sicht mehr. Anstelle des Nebelhorn trat ich auf die Aussenklingel. Liess diese nicht mehr los. In der Neujahrsnacht konnte ich wohl niemanden wecken.

Ich reduzierte die Geschwindigkeit auf das absolute Minimum. Fuhr nicht schneller als eine rote Schnecke. War doch egal. Die Anweisung lautete schliesslich, ich müsse den Fahrplan nicht einhalten, die Sicherheit ginge vor. Und wie Recht die Betriebsleitung hatte! Denn unvermittelt tauchten Schemen auf der Schiene auf. Durch die dichte Nebelsuppe erkannte ich sie im letzten Augenblick und drückte auf den roten Notbremsknopf, sodass mein Zug mit einem Ruck still stand. Vor mir standen zwei dick eingemummelte gespenstische Gestalten und winkten mir zu. Bewegten die Arme, wie um mich aufzuhalten. Ist das ein Überfall?, war mein erster Gedanke. Doch die beiden sahen friedlich aus. Keine Waffe in der Hand. Es waren, so viel konnte ich jetzt erkennen, ein bärtiger Mann, der mit beiden Armen eine Frau stützte. Mit ihr schien etwas nicht in Ordnung zu sein. Sie hing beinahe an des Mannes Gliedern. Zögernd öffnete ich die Fahrertüre. Der Mann kam näher. "Dürfen wir mitfahren?", fragte er mit einer sehr fremden, mir ungewohnten Aussprache, sodass ich ihn kaum verstand. "Zur Herberge", ergänzte er. Was soll das?, dachte ich. Wir haben auf unserem Netz keine Haltestelle, dieses Namens. Jetzt erkannte ich, dass die Frau schwanger sein musste. Oh je, fuhr mir ein Gedanke durch den Kopf, aber nicht in der Strassenbahn gebären! "Zur Herberge", wiederholte der Mann. Ich schüttelte den Kopf. Wollte die beiden dort lassen, wo sie sich befanden. Sollte doch ein anderer sich um die zwei kümmern! Die Frau stöhnte auf. Bog sich vor Schmerzen. Er stieg einfach ein und hob die Schwangere in seinen Armen über die Trittbretter. Legte sie auf den Boden der Tram, nachdem er seinen Mantel dort ausgebreitet hatte. Ich musste handeln.

Der Mann verlangte erneut nach der Herberge. Bemerkte, dass keine Unterkunft aus Angst vor Komplikationen sie aufnehmen wolle. Flüchtlinge seien ja nicht beliebt. Und erst recht nicht solche, die kurz vor dem Gebären seien. Er fürchte sich. Ich se seine letzte Hoffnung. Seine Frau habe bereits sieben Tage Verspätung mit der Geburt. Jetzt müsse es sein. Und erneut verlangte er, zur Herberge gefahren zu werden. Da riss erneut der Nebel auf. Ich traute meinen Augen kaum, denn die feuchte Luft zauberte einen Mondbogen von überirdischer Schönheit in den vollkommensten Farben an das Firmament. Als ich über meine rechte Schulter blickte, war von den zwei Hilfesuchenden keine Spur mehr zu sehen. Sie hatten sich in Luft aufgelöst. Und ein Gedankebegleitete mich die ganze Silvesternacht, ob ich wohl auf der dunklen Vorstadtwiese in ein Zeitlochgefallen, einer mystischen Begegnung anheimgefallen sei. Oder ob die zwei den Fahrplan wie ich nicht hatten einhalten können, der Anweisung ihrer Betriebsleitung Folge geleistet hatten ...

Einen guten Jahresbeginn ins 2021 wünscht François

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