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1xhab ich gern gelesen
geschrieben 2013 von Markus Luthardt (Lutti).
Veröffentlicht: 11.10.2021. Rubrik: Grusel und Horror


EAST PARK

Genre: Horror

GRAUSIGER SCHOCKTOBER!

Ratternd raste der letzte Zug in dieser Nacht, durch einen der beengten Tunnel des städtischen U-Bahn-Systems. In Gedanken blickte Alice Winter von dem Display ihres Smartphones auf. Dieser Teil des U-Bahnzugs war fast verlassen. Nur eine einzige Person befand sich neben Alice noch in dem Wagon. Dem ungepflegten Aussehen nach zu urteilen, handelte es sich bei dem ältlichen Mann um deinen Obdachlosen, der mit der Bahn fuhr, um wenigstens für eine Weile der nächtlichen Kälte zu entfliehen. Sein grauhaariger bärtiger Kopf war mit geschlossenen Augenlidern nach vorne gebeugt, was darauf schließen ließ, dass er schlief. Obwohl der Alte ein ganzes Stück vor ihr saß, wehte der penetrante Geruch von auf der Kleidung verschütteten Alkohol zu Alice hinüber. Ein paar Tränen, die sie nicht länger zurückhalten konnte, rannen an den Wangen der jungen Frau hinab. Wütend auf sich selbst, biss Alice sich auf die Unterlippe. Dann blickte sie wieder auf das Photo hinab, das auf dem Display geöffnet war. Alice war dort in trauter Zweisamkeit mit ihrem Ex abgebildet. Beide schmiegten sich darauf eng aneinander und lachten glücklich. Jeder, der dieses Foto zu Gesicht bekam, würde glauben, dass die zwei Menschen darauf sehr ineinander verliebt waren. Was Alice betraf, war dies auch die Wahrheit gewesen. Dieser egozentrische Scheißtyp hatte es zu dem Zeitpunkt des Photos geschafft, sie glauben zu lassen, dass er ihr Traummann war, an dessen Seite sie alt werden wollte. Nur zwei Tage danach stellte Alice auf eine besonders schmerzhafte Weise fest, wie sehr sie sich getäuscht hatte. Dieses Arschloch hatte einfach so mit ihr Schluss gemacht. Als lapidare Begründung nannte er, dass es zwischen ihnen sowieso nie richtig gefunkt hatte. Als Alice daraufhin weinend zusammengebrochen war, hatte dies ihr Exfreund genutzt, um sich schnell aus dem Staub zu machen. Dies war nun auf den Tag zwei Wochen hergewesen. Eigentlich war Alice schon fast wieder über die Trennung hinweg. Heute hatte sie sich auf einen lustigen Abend auf der Geburtstagsparty von Rebecca gefreut, die Alice seit der Schule für ihre beste Freundin gehalten hatte. Die zweite große Täuschung, der sie in ihrem Leben erlegen war. Nicht nur, dass Rebecca ohne ihr Wissen ihren Ex zu der Party eingeladen hatte. Die beiden hatten unverhohlen und ohne den Ansatz eines schlechten Gewissens rumgemacht. Als Alice klar geworden war, dass Rebecca der Grund für Trennung gewesen war, hatte sie schäumend vor Wut die Party verlassen. Die Wut war schnell in Trauer und verzweifelter Enttäuschung umgeschlagen. Doch damit war nun Schluss! Alice wählte auf dem Smartphone einige Funktionen aus und drückte schließlich auf löschen. Sie schwor sich, dass gleiche mit allen Erinnerungen zu machen, die sie an die beiden besaß. Weder Rebecca noch ihr Ex waren es Wert, dass man ihnen auch nur eine Träne nachweinte.
Als Alice wieder aufsah, stellte sie fest, dass der heruntergekommene Mann aufgewacht war und zu ihr hinübersah. Sich an einer Stange neben seinem Sitz festhaltend, stand er auf, um dann langsam durch den fahrenden Zug auf sie zuzutaumeln. In seiner rechten Hand hielt der Obdachlose eine halbleere Schnapsflasche. Alice wich den Blick seiner graublauen Augen aus und packte das Smartphone in ihre Handtasche. Es verging eine gefühlte Ewigkeit, bis der bärtige Mann neben dem Doppelsitz auf dem Alice saß stehen blieb. Die Gerüche, die von ihm ausgingen, verursachten so nah bei der jungen Frau Übelkeit. Auf einmal bereute Alice es, dass sie Rebeccas Party Hals über Kopf verlassen hatte. Sie hätte erst einmal Wut und Enttäuschung herunterschlucken sollen und sich ein wenig Geld für ein Taxi von einem der anderen Bekannten auf der Party leihen sollen. Vielleicht hätte sie sogar jemand nach Hause gefahren. Für eine solche Überlegung war es jedoch längst zu spät.
„Haben Sie etwas Kleingeld für mich übrig?“, fragte der Alte, der einen zerlumpten Mantel trug.
„Sicher“, erwiderte Alice. Ohne zu dem Mann aufzusehen, griff sie in ihre Handtasche, bis ihre Hand das fast leere Portmonee ertastete. Sie öffnete es und griff in das Fach, in dem sich nach ihrem Wissen noch ein paar Centstücke befanden. Ihre Hand schloss sich zu einer Faust, in der mehrere der kleinen Münzen steckten. Mit einem unbehaglichen Gefühl richtete Alice ihren rechten Arm dem anderen Fahrgast hin. Als sich ihre Handinnenfläche langsam öffneten, fing der Alte die klimpernden Kleingeldmünzen mit seiner Hand auf. Gerade als Alice stinkendes Gegenüber auf das gute Dutzend Centmünzen in seiner Hand hinunterblickte, fuhr die U-Bahn in den Bahnhof East Park ein. Eigentlich befand East Park sich zwei Stationen vor der Station, die ganz in der Nähe ihres Apartments lag. Doch Alice verspürte auf einmal das Bedürfnis, nur schnell aus dieser Bahn herauszukommen. Also sprang sie, das Portmonee in der Hand haltend von dem Doppelsitz auf. Ihre Handtasche schulternd, drängte Alice sich eilig an den Mann vorbei, der dabei verdutzt zwei Centstücke aus seiner Hand verlor. Als Alice vor der nächsten Bahntür stehen blieb, sah sie wie die sich Fensterglas spiegelnde Gestalt des Fremden sich fluchend nach dem über den Boden rollendem Kleingeld bückte. Sie betätigte den leuchtenden Knopf an Tür, die sich darauf zu dem halbdunklen Bahnsteig aufschob. Da der nächtliche East Park Bahnhof noch verlassener wirkte, als die U-Bahn, überlegte Alice kurz, ob sie sich nicht doch besser umsetzen sollte, um die verbleibenden zwei Stationen doch noch weiterzufahren, doch sie entschied sich dagegen und stieg aus.
Nachdem sich die Schiebetür hinter ihr automatisch geschlossen hatte, drehte Alice sich um, um durch die Fenster der anfahrenden Bahn zu sehen. Ihr Blick traf den des bärtigen Mannes, der sich wieder aufgerichtet hatte. Etwas an den faltigen Gesichtszügen des Alten wirkte auf einmal beunruhigt, als ob seine Augen auf dem Bahnsteig etwas wahrgenommen hatten, was ihn erschrecken ließ. Besorgt sah Alice sich nach allen Seiten um, während die Bahn in den nachfolgenden Schacht wegfuhr. Was konnte der Mann so flüchtig gesehen haben, dass ihm sichtlich der Schrecken auf dem Gesicht geschrieben stand? Auf einmal bereute Alice ihren Entschluss auszusteigen. Es würde keine weitere Bahn mehr kommen. East Park war bekannt dafür, dass er nicht gerade im sichersten Stadtteil lag. Sie war gerade vor einem harmlosen alten Obdachlosen geflohen, von dem lediglich ein übler Geruchsmix ausging.
Alice rückte sich ihr hellblaues Abendkleid grade und steckte anschließend das Smartphone in ihre Handtasche zurück. Noch einmal ließ sie ihren Blick über den nächtlichen Bahnsteig schweifen. Der kleine Bahnhof mit den zwei Gleisen, schien immer noch menschenleer zu sein. Wer sollte sich hier auch noch aufhalten? Die letzte U-Bahn war vor einer halben Minute abgefahren. Außer ihr war niemand aus einem der beiden anderen Wagons ausgestiegen. Wahrscheinlich hatte der Blick des Obdachlosen nichts zu bedeuten gehabt. Dieser dauerbetrunkene Alte litt wahrscheinlich ständig unter irgendwelchen Halluzinationen. Die Vorstellung ein solches Leben führen zu müssen, weckte in Alice Mitleid.
Da es eine kalte Herbstnacht war, schloss Alice die Knöpfe ihres roten Mantels, den sie über dem hellblauen Abendkleid trug. Ihre Hände steckte die junge Frau fröstelnd in ihre Manteltaschen, während sie in Richtung des Südausgangs ging. Dort lag eine nach oben führende Treppe, über die man aus dem Bahnhof auf die Straße gelangte. Nachdem Alice ein paar Schritte daraufzugegangen war, fiel ihr Blick zu Boden. In einem Coffee to go Becher, der am Boden neben einem bis zum Rand überfüllten Mülleimer lag, steckte der Vorderkörper einer Ratte. Nur der Schwanz und das Hinterteil schauten aus dem großen Pappbecher hervor. Als das Nagetier die sich nähernden Schritte hörte, stieg es rückwärts aus dem Becher heraus. Die Knopfaugen der graubraunen Wanderratte blickten eine Sekunde lang zu Alice auf. Das Tier hatte sich wohl an einen Rest kalten Kaffees gütlich getan. Beseelt von einem Koffeinkick, rannte die Ratte zum Rand des Bahnsteigs, um dort mit einem Hechtsprung zu dem tiefer gelegenen Gleisbett zu gelangen.
Alice rümpfte kurz die Nase. Da die Ratte jedoch kaum zurückkehren würde, um sie anzuspringen, störte Alice sich nicht weiter daran. Wie in jeder anderen Großstadt gab es auch hier Ratten.
Nach zwei weiteren Schritten geriet Alice plötzlich ins taumeln. Nachdem die junge Frau sich gefangen hatte, sah sie an sich herab. Der Absatz ihres rechten Stöckelschuhs war abgebrochen. „Toll, das hat mir gerade noch gefehlt!“, fluchte sie. Bedauernd, dass sie sich an diesem Abend ausgerechnet für das billigste Paar aus ihrer kleinen Kollektion von Abendschuhen entschieden hatte, stellte Alice sich in Gedanken vor, wie sie nun auch noch barfuss durch die nächtlichen Straßen gehen musste. Zu allem Überfluss auch noch mitten im Herbst. Alle Entscheidungen die sie heute getroffen hatte, waren falsch gewesen. Es nutzte nichts, wenn sie diesen total verkorksten Abend hinter sich bringen wollte, musste sie weitergehen. Alice zog zunächst den rechten und dann den linken Schuh aus. Ein grelles Geräusch ließ sie urplötzlich aufschrecken. Ängstlich blickte Alice nach vorne, in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Es hatte sich so gar nicht nach dem Piepsen einer Ratte oder irgendeinem anderen tierischen Laut angehört. Viel mehr besaß es Ähnlichkeit mit einem wahnsinnigen Kichern, das sich kurz darauf noch einmal wiederholte. Hinter einer Säule, die sich in der Nähe des südlichen Treppenaufgangs befand, trat eine hochgewachsene Männergestalt in einem schwarzen Ledermantel. Das Gesicht des Mannes, der das unheimliche Kichern ausgestoßen hatte, war von einer Maske verhüllt. Es handelte sich um eine altmodische Theatermaske, die auf einer Seite ein lachendes und auf der anderen Seite ein weinendes Gesicht darstellte. Am bedrohlichsten aber war die lange Machete, die der maskierte Hüne in seiner rechten Hand hielt. Demonstrativ schwang der Fremde die Klingenwaffe durch die Luft, wobei der wahnsinnige Blick seiner dunklen Augen, Alice durch die Maskenschlitze anstarrte. Seine Maske, mit der lachenden und der weinenden Seite, schien dabei Alice mit ihrer aufkeimenden Angst zu verhöhnen. Auf eine schockierende Weise, wurde sich Alice dessen bewusst, was der Obdachlose aus der Bahn heraus gesehen hatte. Die Gestalt, die sich einige Meter vor ihr aufgebaut hatte, war kein aus einem Horrorfilm entsprungener Albtraum. Sie war real. Hinter ihrer verhöhnenden Maske lauerte pure Mordlust.
„Soll das da irgend so ein Halloweenscherz sein?“, fragte sie mit zitternder Stimme. Eigentlich wusste Alice, dass dies kein makaberer Scherz war, doch hatte sie keine Ahnung wie sie sich angesichts dieses offensichtlich verrückten Mannes verhalten sollte. War es besser beruhigend auf ihn einzureden oder sollte sie kehrt machen und schnell losrennen wie es ihr möglich war, in der vagen Hoffnung ihn irgendwie entkommen zu können. Vor ein paar Jahren hatte sie einmal einen Film aus der Horrorreihe Freitag der 13. gesehen. Darin hatte der wahnsinnige Maskenmann alle seine Opfer gekriegt, egal wie schnell sie vor ihm davongelaufen waren. Allerdings war dies kein Horrorfilm, sondern Realität. Eine Realität, die sich dem Anschein nach aus einem Albtraum manifestiert hatte, um in der furchtbarsten Nacht in Alice wahr zu werden.
Sein grelles Kichern ausstoßend, machte der Maskenmann einen einzigen Schritt auf Alice zu. Das genügte der jungen Frau, um sich schreiend umzudrehen und loszulaufen. Alice rannte über den Bahnsteig, der mit Sicherheit videoüberwacht war, was ihr in ihrer Situation allerdings nicht das geringste nutzte. Nicht ahnend, ob sie verfolgt wurde, hielt sie auf den entgegengelegenen Nordausgang zu. Aufgrund der Panik, die sie verspürte, merkten ihre nackten Füße nicht das geringste von der Kälte des Bahnhofbodens, über den sie lief. Ausgelöst von Alice Todesangst, wurde ihr Sichtfeld von einem einsetzenden Tunnelblick eingeengt, der geradeaus auf den Treppenaufstieg des Nordausgangs gerichtet war, den sie erreichen wollte. Sekunden vergingen, die sich wie eine nervenzerreißende Ewigkeit anfühlten. Endlich erreichte Alice die unterste Stufe. Hier wagte sie es ohne stehen zu bleiben ihren Kopf zuwenden und zurückzublicken. Der Maskierte mit der Machete folgte ihr zwar, aber in einem verhältnismäßig ruhigen Schritttempo. Er hatte nur die Hälfte des Bahnsteigs hinter sich gebracht und machte keinerlei Anstalten ihr hinterher zu rennen. Es schien so, als ob er sich keine Sorgen machte, dass sein Opfer ihm entkam. Wieder ließ ein Geräusch Alice abrupt herumfahren. Anders als wie beim ersten Mal handelte es sich um kein absonderliches Kichern. Das Geräusch klang auf eine eindringliche Weise metallisch. Starr vor Schrecken blieb Alice auf einer Stufe stehen und sah den Treppenaufgang zur Straße hoch. Ihre grünbraunen Augen weiteten sich bis zum Anschlag, denn eine zweite Maskengestalt kam die höhergelegenen Stufen hinunter auf sie zu. Statt einer Machete hielt sie in der linken Hand eine Eisenstange, deren oberes Ende sie immer wieder auf die vor ihr liegenden Stufen schlug. Auch in seinem sonstigen Erscheinungsbild unterschied der Linkshändler sich von dem Machetenmann. Seine Maske war weniger edel. Es handelte sich um eine Halloweenmaske aus Gummi, wie man sie in Ramschläden erhielt. Sie stelle eine monströse Clownsfratze dar, deren Schminke an verschiedenen Stellen zerlaufen war. Aus dem grinsenden Mund des Albtraumclowngesichtes stachen bestienartige Reißzähne hervor. Dazu trug der wesentlich kleinere Mann ein Clownskostüm mit roten Puscheln und an den Füßen ein Paar übergroße Schuhe. Die Augen, die aus den Maskenschlitzen auf Alice hinabstarrten, funkelten nicht weniger wahnsinnig.
Auf einmal wurde Alice sich bewusst, warum ihr Verfolger es gar nicht eilig gehabt hatte, ihr hinterherzukommen. Es waren zwei verrückte Maskenmänner, die zusammenarbeiteten. An diesem verhängnisvollen Abend voller Fehlentscheidungen, war Alice in ihre Falle getappt. Hatte sie nicht gestern in der Tageszeitung einen Artikel gelesen, dass zwei unzurechnungsfähige Geisteskranke aus einer geschlossenen Nervenheilanstalt geflohen waren? Vielleicht waren das genau diese beiden Männer?
Den Maskenclown nicht aus den Augen lassend, ging Alice rückwärts die Stufen hinab, wobei ihre Beine zitterten. Am unteren Ende der Treppe blieb sie stehen. Langsam wandte Alice ihren Kopf. Der erste Maskenmann war ein paar Meter von ihr entfernt stehen geblieben. Die Klinge der Machete ließ er in seiner behandschuhten linken Hand auf und abwippen. Weinend sah Alice von ihm zu dem Clown und wieder zurück. Sie war gerade Mitte zwanzig und der Gedanke von zwei verrückten Mördern aus ihrem jungen Leben gerissen zu werden, bereitete Alice einen Verzweiflungsanfall. In der Firma, in der Alice Winter seit etwas über einem Jahr arbeitete, standen ihr sämtliche Aufstiegschancen offen. Irgendwann musste es auch mit der Liebe klappen. Der Traummann würde ihr eines Tages über den Weg laufen. Doch auf einmal lösten sich alle guten Zukunftsaussichten wie eine Fatalmorgana auf. Alice fand sich in einem realen Albtraum wieder, dessen Überlebenschancen immer weiter sanken.
„Was wollt ihr Typen von mir?“, brach es aus ihr heraus. Ihre Stimme zitterte vor Angst. Obwohl die junge Frau wusste, dass reden sie nicht vor der Mordlust zweier Geisteskranker retten würde, sprach sie weiter. „Geld habe ich keins bei mir. Nur ein wenig Schmuck.“ Sie öffnete den obersten Knopf ihres Mantels und deutete auf eine Perlenkette. „Auf meinem Sparkonto müsste sich noch ein höherer Betrag befinden. Wir könnten zusammen zum nächsten Geldautomaten gehen. Ich hebe alles für euch ab.“
In ihrer Aufregung bekam Alice nicht mit, dass der Mann mit der Monsterclownmaske ihr gefährlich nahgekommen war. Er blieb auf der untersten Stufe stehen und schlug mit der Eisenstange nach Alice rechten Schienenbein. Ein atemraubender Schmerz explodierte an der Stelle, wo das Ende der Eisenstange sie traf. Schreiend brach Alice ein Stück ein, wobei sie sich an ihr rechtes Bein faste. Da sie keine Stöckelschuhe mehr trug, gelang es ihr das Gleichgewicht zu halten und nicht zu Boden zu stürzen. Das höhnische Gelächter der zwei Maskierten drang an Alice Ohren und verstärkten das immer intensiver werdende Verzweiflungsgefühl, das den physischen Schmerz in den Hintergrund treten ließ. Damit rechnend, dass der Maskenclown ein zweites Mal zuschlug, schloss sie krampfhaft die Augen. Kein Luftzug war zu spüren. Der Schmerz blieb aus. Stattdessen ergötzten die kalten Augen ihrer empathielosen Peiniger sich an ihrer Angst. Sie waren Schlächter, die sich mit ihrer Arbeit Zeit ließen, da ihnen das Leid ihrer Opfer ein diabolisches Vergnügen bereitete.
Alice führte sich vor Augen, dass, wenn sie überhaupt noch eine hauchdünne Überlebenschance besaß, dass sie irgendwie an den Machetenmann vorbei musste. Den pochenden Schmerz ihres rechten Beins ignorierend, lief sie erneut los. Dieses Mal rannte sie zurück in Richtung Südausgang, direkt auf den Maskierten mit der Machete zu. Als Alice in seine Nähe gelangte, versuchte sie einen möglichst hohen Bogen um ihn zu laufen. Der Maskenmann bewegte sich nicht auf sie zu, sondern verlagerte lediglich sein Gewicht in einem breitbeinigen Stand. In dem Moment, als sein Opfer an ihm vorbeilief, holte er zu einem blitzschnellen Hieb mit seiner Klingenwaffe aus. Die ausholende Machete traf den Körper der jungen Frau oberhalb ihrer rechten Hüfte. Die scharfe Klinge durchschnitt ihr Abendkleid und schrammte mehrere Zentimeter an der darunter liegenden Haut entlang. Ohne tief in das Fleisch einzudringen, hinterließ sie nur einen leicht blutenden Kratzer.
Neue Hoffnung verspürend, gelang es Alice ihr Tempo noch zu vergrößern. Sie war durchaus athletisch und ging zwei- bis dreimal in der Woche joggen. Ihre sportlichen Ambitionen kamen Alice nun zugute. Auf einmal glaubte Alice doch, ihren Verfolgern entkommen zu können. „Hilfe!“, schrie sie. Hier unten im Bahnhof war Alice mit den Maskenmännern allein, doch als der Treppenaufgang zum Südausgang näher kam, hoffte sie, dass ihr Schreien laut genug war, um von eventuellen Passanten oben auf der Straße gehört zu werden. Sie überlegte kurz und schrie dann statt Hilfe „Feuer!“. Alice erinnerte sich, einmal gelesen zu haben, dass das Wort Hilfe kaum noch beachtet wurde, während Feuer fast immer die Aufmerksamkeit von Passanten und Anwohnern erregte.
Alice erreichte die unterste Stufe der Treppe, die zum Südausgang hoch führte. Sie glaubte hinter sich die zornigen Laufschritte der Maskenmänner zu hören, die sie verfolgten. Ohne sich umzudrehen liefen ihre nackten Füße die Treppe weiter empor. Obwohl ihr Blick nach vorne gerichtet war, sorgten die angstbedingten Adrenalinausschüttungen ihres Körpers dafür, dass sie die vor ihr befindliche Umgebung nicht richtig wahrnahm. Erst nachdem Alice fast die erste Hälfte der Treppe hinter sich gebracht hatte, bemerkte sie die Gestalt eines Mannes, der nur zwei Stufen über ihr stand. Waren diese Kerle am Ende sogar zu dritt? Vor Schreck geriet die junge Frau ins taumeln und wäre um ein Haar rückwärts die harten Steinstufen hinuntergestürzt. Doch der Mann über ihr griff geistesgegenwärtig nach vorne und bekam Alice rechten Arm zu fassen. Er zog sie zurück. Wimmernd sah Alice zu dem Mann auf, der keine Maske trug. Er war Anfang vierzig und hatte kurzes schwarzes Haupthaar. Sein grauer Mantel war leicht durchnässt. Ein Zeichen dafür, dass es am regnen war.
„Alice Winter“, sagte eine wohlbekannte Stimme. „Warum sind Sie so aufgelöst?“
Nun erkannte Alice auch das Gesicht des Mannes, der sie vor dem Sturz bewahrt hatte. Es war John Born ein Kollege aus der Geschäftsführung, der sein Büro im obersten Stock ihrer Firma hatte.
„John!“, erwiderte Alice. „Bitte, Sie müssen mir helfen! Nachdem ich aus der U-Bahn ausgestiegen bin, wurde ich dort unten von zwei bewaffneten Maskenmännern verfolgt. Die wollten mich töten.“
Tröstend nahm John Born seine jüngere Kollegin in die Arme. „Keine Sorge, jetzt bin ich ja hier.“
„Warum sind sie hier?“, fragte Alice. „Die letzte Bahn ist schon seit Minuten fort. Haben Sie meine Schreie gehört?“
John Born schüttelte den Kopf. „Ich habe Mordlust und die daraus resultierende Todesangst gewittert. Auch wenn der Mond die meiste Zeit über von Wolken verhangen ist, heute ist eine Vollmondnacht. In solchen Nächten sind meine Sinne besonders reizbar.“
Alice löste sich aus der Umarmung und sah John verwirrt an. Von was redete er bloß? Als ob er wie ein Tier Angst und sogar die Lust am töten wittern konnte. Auf einmal fielen Alice wieder die Maskenmänner ein. Sie hatten bisher keine Anstalten gemacht, die Treppe zum Südausgang hochzukommen. Allerdings war es wahrscheinlich, dass die beiden Geisteskranken dort unten immer noch lauerten. „Wir müssen hier weg und die Polizei alarmieren.“
Wieder schüttelte John Born den Kopf. „Das halte ich für keine gute Idee.“ Ohne noch etwas hinzuzufügen, ging er an ihr vorbei, die Treppe zum Bahnsteig hinunter.
„John!“, rief Alice ihm hinterher. „Gehen Sie nicht dort hinunter! Diese zwei Männer werden sie umbringen!“ Doch John Born hörte nicht auf ihr Flehen. Eilig kramte Alice in ihrer Handtasche, bis sie ihr Handy fand. Sie nahm das Smartphone in die Hand und wählte die Telefonierfunktion. Gerade als Alice die Notrufnummer eintippen wollte, ließ ein von unten kommendes Geräusch sie aufhorchen. John Born war aus ihrem Blickfeld verschwunden, der von hier oben nur wenige Meter auf den Bahnsteig hinabreichte. Mit sich selber hadernd, blieb sie einen Augenblick lang untätig auf der Stelle stehen. Die Finger ihrer rechten Hand versteiften, unfähig die Notrufnummer der Polizei zu wählen. Ihre eigene Angst überwindend, ging sie ein paar der Stufen hinunter, bis ihre Augen sahen, was dort unten vor sich ging.
John Born und die zwei Maskenmänner standen sich jeweils in einigen Metern Entfernung gegenüber. Alice konnte es in den halbdunklen Licht nicht richtig erkennen, doch etwas ging mit John vor sich. Sein Körper begann sich zu krümmen und an verschiedenen Stellen zu zucken. Ein Verwandlung setzte ein, was auch die Maskenmänner vor Verwunderung erstarren ließ. Statt ihre Waffen gegen John anzuwenden, tauschten sie einander fragende Blicke aus. John Borns Gesicht, dessen Mund einen Schmerzensschrei ausstieß, veränderte sich. Seine Nase zog sich zurück, während sein schreiender Mund unnatürlich lang wurde. Beide Körperteile verschmolzen zu einem Maul mit spitzen Reißzähnen. Aus dem menschlichen Schrei wurde ein animalisches Knurren. Johns Ohren verloren ihre rundliche Form und wurden spitz. Genauso wuchsen die Finger an seinen Händen in die Länge, an deren Ende schwarze Krallen statt Fingernägel sprossen. Überall an John Borns Körper wuchsen übermenschliche Muskeln und eine dunkle fellartige Behaarung, was dafür Sorge trug, dass die Kleidung des Mannes immer mehr in Fetzen gerissen wurde. Am Ende wurde die Menschlichkeit aus John Borns Augen, von der bestialischen Wildheit eines jagenden Raubtiers verdrängt. Ein Fluch hatte von Johns Seele Besitz ergriffen, der heute wie in jeder Vollmondnacht aus seinem inneren Gefängnis ausbrach und eine körperliche Verwandlung in eine reißende Bestie verursachte.
Der Werwolf riss sein Maul auf, worauf zwei Reihen messerscharfer Reißzähne zum Vorschein kamen. Einen Schrei ausstoßend, schwang der Machetenmann seine Waffe nach ihm. Unbeeindruckt sprang die Bestie den Maskierten mit ihrem massigen Körper an. Die übermenschliche Kraft der Kreatur stieß den Mann mit dem unbekannten Gesicht um. Der zupackende Griff ihrer monströsen Hände verhinderte im selben Moment, dass er zu Boden fiel. Nur die Machete stürzte aus seiner schweißnassen Hand und gab ein metallisches Klirren von sich, als ihre Klinge auf den Bahnsteig landete. Speichelfäden liefen geifernd aus dem Maul des Lykantropen und tropften auf den Ledermantel des Opfers. Ein einzelner Arm der Bestie zog den sich windenden Maskenmann empor. Seine Angst riechend, die jede Pore auf der Haut des Mannes ausschwitzte, setzte ein dämonischer Blutdurst ein, der entgültig die Wolfsbestie entfesselte. Sie riss ihrem Opfer den Ledermantel vom Leib. Ihre Reißzahnkiefern verbissen sich in die linke Schulter des Maskierten und bohrt sich mehrmals hintereinander tief in das Fleisch. Von der Schulter blieb nicht als eine zerfleischte Masse über, aus der eine Blutfontäne spritze.
Paralysiert sah der Maskenclown anfänglich mit an, wie sein Kamerad, mit dem er vor zwei Tagen aus einer Irrenanstalt geflohen war, in die Gewalt der Wolfsmenschenbestie geriet und von ihr in die Schulter gebissen wurde. Dann gelang es ihm sich aus seiner Schreckenstrance zu befreien. Er warf die Eisenstange von sich und trat die Flucht in Richtung Südausgang an. Noch bevor sein erstes Opfer sein Leben völlig ausgehaucht hatte, ließ der Werwolf von ihm ab. Die Bestie sprang über den am Boden liegenden Maskierten, wo sich eine Blutlache zu bilden begann. Ein wölfisches Geheul ausstoßend, jagte sie hinter dem Maskenclown her. Es vergingen weniger als drei Atemzüge, bis der Lykantrop sein zweites Opfer einholte. Im Laufen wurde der Maskenclown von seinen Füßen gerissen. Unbarmherzig schlossen sich die Prankenhände des Ungetüms um seinen in der Gummimaske steckenden Kopf. Jene monströse Kraft, die von dem Lykantrop freigesetzt wurde, riss dem Opfer das maskierte Haupt vom Rumpf. Kopflos brach der Torso auf dem Bahnsteig zusammen. Blut quoll aus seinem Rumpf, das sich zu einer Lache ausbreitete. Einer Trophäe gleich, hob der Werwolf den abgetrennten Kopf des Maskenclowns in die Höhe, während er nochmals ein Heulen ausstieß.
Unfähig sich zu rühren oder gar die Flucht zu ergreifen, sah Alice die Bluttaten mit an. Ihr war, als ob eine unsichtbare Macht von ihr Besitz ergriffen hätte und sie lähmte. Alice wurde zu einer Zeugin, bis sie selber an die Reihe kam. Ihre Augen waren bis zum Anschlag aufgerissen. Ihr Mund, der vorher noch wie gelähmt gewesen war, öffnete sich nun doch. Unter einiger Kraftanstrengung ließ Alice den angestauten Schrecken heraus, indem sie einen Schrei ausstieß, der durch den unterirdischen U-Bahnhof hallte. Der Schrei lenkte die Aufmerksamkeit des Lykantropen auf sie. Die dunklen Augen der Bestie starrten die junge Frau durch das Halbdunkel an. Die Lefzen an ihrem Maul zogen sich knurrend zurück. Wie eine Bowlingkugel warf die Kreatur den Kopf aus ihrer Prankenhand davon. Dieser rollte ein Stück über den Bahnsteig in Alice Richtung. Als der Kopf liegen blieb, glotzte die monströse Clownsfratze Alice mörderisch grinsend an.
Dann kam die Werwolfbestie auf sie zugerast.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Susi56 am 12.10.2021:

Spannend geschrieben. Ein paar ungelenke Formulierungen... Da würde ich nochmal nachschleifen. Zum Beispiel würde die Machete nicht aus der Hand stürzen, sondern sie fällt. U.ä. Kleine Anmerkung: Wenn jemand mit nackten Füßen über einen Bahnsteig läuft, fühlt sich das nicht nur kalt an. Da liegt sicher Müll herum, Glasscheiben. Da ist der Boden sicher nicht eben, sondern es ragen vielleicht kleine Kanten nach oben oder es gibt flache Löcher usw. Grelles Graffiti würde evtl. die beängstigende Situation noch mehr illustrieren usw. Also, da könntest du noch mehr rausholen, denke ich. Trotzdem gern gelesen! 😀

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