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geschrieben 2021 von Weißehex.
Veröffentlicht: 17.10.2021. Rubrik: Unsortiert


Die Nacht

Im Jahr 1970

Endlich Feierabend! Alice zog ihren weißen Kittel aus, hängte ihn ordentlich an den Haken, schlüpfte in ihre dünne Regenjacke und verabschiedete sich so schnell es ging von ihrer Chefin, in deren Lebensmittelladen sie seit einem Jahr ihre Ausbildung absolvierte.
Kaum war der Laden außer Sichtweite, fing Alice an zu hüpfen: drei Schritte mit dem linken Bein, drei Schritte mit dem rechten. Sie pfiff dabei vergnügt vor sich hin, hörte aber sofort damit auf, als eine ältere Frau sie von der anderen Straßenseite her erstaunt ansah.
„Ich bin wirklich zu alt, um mich so kindisch zu benehmen“, dachte sie und beeilte sich, zur Bushaltestelle zu kommen. Zu Hause hatte sie sturmfreie Bude, ihre Eltern waren gestern in Urlaub gefahren – der Vater mit einem glücklichen Ausdruck im Gesicht und die Mutter mit tausend Ermahnungen und Fragen an Alice. Ob sie wirklich eine Woche lang alleine zurecht käme, und sie solle daran denken, die Rollos hochzuziehen, ehe sie aus dem Haus ging. Falls es ein Problem gab, solle Alice direkt anrufen. Die Mutter hatte die Telefonnummer des Hotels aufgeschrieben und Alice gleichzeitig ermahnt, nicht aus Jux und Dollerei anzurufen – ins Ausland anzurufen, sei schließlich teuer, und nach Mallorca erst recht.
„Ich komme schon klar, Mama, ich bin schon 17“, hatte Alice lächelnd die Überfürsorglichkeit ihrer Mutter abgewehrt und ihren Eltern fröhlich nachgewinkt, als sie mit dem schwarzen Audi 80 vom Hof fuhren.

Alice hatte fast die Albrechtstraße erreicht, von der sie zur Bushaltestelle abbiegen musste, als sie hinter sich ein lautes Rufen hörte.
„Sie haben etwas verloren!“ Die Frau, die sie vorhin von oben bis unten gemustert hatte, hielt ihr einen lilafarbenen Schal hin. Alice warf einen Blick darauf und schüttelte den Kopf. „Der gehört mir nicht.“
„Sicher?“ Die Frau sah abwechselnd Alice und den Schal an. Alice schüttelte noch einmal den Kopf, diesmal nachdrücklich.
„Nein, der gehört mir wirklich nicht, vielen Dank. Entschuldigen Sie bitte, ich muss mich beeilen.“ Sie nickte der Frau freundlich zu und begann zu laufen. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber das Gefühl, schon reichlich Zeit verschwendet zu haben – mit dem Hüpfen auf der Straße und mit dem Gespräch mit der Frau. Normalerweise erreichte sie ihren Bus immer einige Minuten, bevor er losfuhr. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie heute viel zu spät dran sein würde.
Doch der Bus stand friedlich an der Bushaltestelle, und Alice erreichte ihn mühelos. Wortlos zeigte sie dem Busfahrer – es war ein anderer als sonst – ihre Monatskarte. Er warf nur einen gleichgültigen Blick darauf und Alice ließ sich in dem angenehmen Gefühl, für heute alles geschafft zu haben, auf einem weichen Polstersitz nieder. Kaum dass sie saß, fielen ihr prompt die Augen zu.

Sie erwachte erst wieder, als der Bus mit einem Ruck zum Stillstand kam. Verwirrt sah sie aus dem Fenster. Das war doch nicht ihr Heimatdorf?
„So, Fräulein, Aussteigen! Hier ist Endstation“, forderte sie der Busfahrer in einem nachsichtigen Ton auf.
„Aber das ist doch nicht Langerrath!“ Alice war jetzt wirklich erschrocken.
„Langerrath? Nee, da bist du hier ganz falsch. Da musst du in die andere Richtung. Hier ist Krumendorf.“
„Aber der Bus fährt doch sonst immer nach Langerrath“, sagte Alice kläglich. Der Busfahrer schüttelte den Kopf.
„Nee, das ist der Bus vor mir. Tut mir leid, da bist du wohl in den falschen eingestiegen.“
„Das darf doch nicht wahr sein“, flüsterte Alice, während sie mit den Tränen kämpfte. „Wie soll ich jetzt nach Hause kommen? Fährt hier noch ein Bus um die Uhrzeit zurück?“
„Schau mal auf den Fahrplan an der Haltestelle. Ich muss los, ich hab Feierabend und muss den Bus ins Depot bringen.“ Der Busfahrer trommelte jetzt mit den Fingern auf dem Lenkrad herum, und Alice, die diese Geste der Ungeduld verstand, blieb nichts anderes übrig als auszusteigen.

Der Fahrplan gab zur Auskunft, dass der letzte Bus Richtung Langerrath vor exakt 15 Minuten abgefahren war und der nächste um 6.15 Uhr am anderen Morgen fahren würde. Ratlos stand Alice an der Haltestelle. Eine Telefonzelle hatte sie nicht gesehen. Selbst wenn sie eine finden würde – wen könnte sie anrufen, der sie abholen könnte? Ihre Chefin? Alice verzog das Gesicht. Es musste noch eine andere Möglichkeit geben. Zu Fuß gehen? Dafür war es viel zu weit. An der Haltestelle ausharren, bis der Bus am nächsten Morgen kam? Unwillkürlich schlang sie die Regenjacke fester um sich. Das würde eine lange Nacht werden.
Der Gedanke, ein Taxi zu rufen, blitzte auf und verlöschte rasch wieder, denn für ein Taxi reichten die zwei Mark fünfzig, die sie im Portemonnaie hatte, sicher nicht. Und eine Telefonzelle müsste sie auch erstmal finden.
Ärgerlich stampfte sie mit dem Fuß auf. Mit dem Fuß aufzustampfen war besser als loszuheulen. Warum musste ihr das passieren?
„Weil du immer so zerstreut bist“, hörte sie die Stimme ihrer Mutter. „Ich wusste, ich hätte dich nicht alleine lassen sollen.“
Damit war die Sache entschieden, ihre Chefin würde sie nicht anrufen. Diese würde ihren Eltern alles erzählen und Alice hatte keine Lust, sich die dumme Angelegenheit monatelang anzuhören. Sie entschloss sich, einfach loszugehen, immer der Straße nach, es musste ja ein Weg zurück führen. Sie studierte noch einmal den Fahrplan, um sich die Orte einzuprägen, als ein Auto vor ihr anhielt und ein Mann das Fenster herunterkurbelte. Es war der Busfahrer.
„Fährt kein Bus mehr zurück heute Abend?“, erkundigte er sich.
Alice schüttelte den Kopf. „Ich gehe zu Fuß.“
Der Busfahrer lachte. „25 Kilometer? Da bist du morgen früh noch nicht zu Hause. Kann dich niemand abholen?“ Wieder schüttelte Alice den Kopf.
„Weißt du was? Ich fahre dich nach Hause. Steig ein!“, und als Alice zögerte, setzte der Busfahrer hinzu: „Ich weiß, deine Eltern haben dir sicher gesagt, du sollst nicht zu Fremden ins Auto einsteigen, und da haben sie auch recht. Aber soll ich dich jetzt etwa hier in der Pampa stehenlassen, wenn kein Bus mehr fährt? Da hätte ich ein schlechtes Gewissen.“
Alice überlegte ein wenig. Die Aussicht, die ganze Nacht an der Bushaltestelle zu stehen, war wahrhaftig nicht verlockend, und 25 km zu Fuß gehen? Sie stieg ein.

Im Jahr 2000

„Das Baby ist da! Wir haben ein Mädchen!“ Laut schallte Carstens Stimme durch das ganze Haus. Alice lief ihrem Sohn entgegen und umarmte ihn. „Herzlichen Glückwunsch! Ich freue mich ja so!“
„Und ich mich erst!“ Carsten lachte und wirbelte seine Mutter im Kreis herum. „Sagst du Paps Bescheid? Ich fahre jetzt ins Krankenhaus.“ Und schon war er zur Tür hinaus, ehe Alice antworten konnte.
Sie wählte die Handynummer ihres Mannes und platzte mit der Neuigkeit heraus, kaum dass er sich gemeldet hatte. Im Hintergrund waren Verkehrsgeräusche zu hören.
„Ist ja großartig!“ hörte sie Ralf ins Telefon brüllen, dann hörte sie die Stimme eines Fahrgastes, der nach Langerrath wollte.
„Da sind Sie hier im falschen Bus“, verstand sie, ehe Ralf sich wieder an sie wandte. „Das feiern wir heute Abend, Schatz!“
„Und wie!“ Alice legte auf, sah auf ihren Kalender, stutze ein wenig und lächelte. Es gab noch einen Grund zum Feiern: Heute vor 30 Jahren hatte sie ihren Mann kennengelernt.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Christine Todsen am 17.10.2021:

Hübsche Geschichte. Ein Detail scheint mir ein wenig unglaubwürdig: Die Eltern, sogar die als überfürsorglich beschriebene Mutter, lassen im Jahr 1970 die 17-jährige Tochter eine ganze Woche lang allein in der Wohnung? Damals war man erst mit 21 volljährig und also mit 17 noch längst nicht „erwachsen“. Nun ja, es ist ein Dorf, und vielleicht hätte Alice sich bei Problemen an Nachbarn wenden können… Aber wie gut, dass es heute Handys gibt!




geschrieben von Christine Todsen am 18.10.2021:

Nach meiner gestrigen Kritik nun auch ein Lob. Erst jetzt ist mir klargeworden, dass die Pointe wahrscheinlich in der Überschrift liegt…




geschrieben von Weißehex am 19.10.2021:

Hallo Christine, ja - stimmt mit der Pointe 😉 Stimmt auch, dass es nicht ganz zur überfürsorglichen Mutter passt, Alice allein zu lassen. Deswegen ist der Vater ja auch so glücklich, als sie fahren 🙂 Aber als ich 16 war, hatte ich eine Freundin, deren Eltern auch in Urlaub fuhren und sie alleine zu Hause ließen. Sie nutzte die Gelegenheit, jeden Abend alle Gleichaltrigen einzuladen und die Eltern bekamen das nicht mit. Danke für deinen Kommentar! LG Weißehex

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