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geschrieben 2018 von Michael Lutz (Michael Lutz).
Veröffentlicht: 03.07.2018. Rubrik: Nachdenkliches


Der Liebestrank

Lasset mich eine Geschichte erzählen. Eine, die sich zugetragen in der Stadt der Liebe. Und ich meine nicht Paris. Die Rede ist von der Stadt auf dem Wasser. Venedig! Wir schreiben das Jahr 1723. Der verehrte Leser möge alles vergessen, was er bisher gelernt. Es ist eine andere Epoche, wir befinden uns mitten im Barock. Zu jener Zeit hatte Venedig viel von seinem Glanz, der auf den politischen Einfluss als See-und Handelsmacht des 15. Jahrhunderts zurückzuführen ist, verloren. Im 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert in dem jene Geschichte stattfand, die ich zu erzählen gedenke, beriefen sich die Einnahmen Venedigs vordergründig auf die Produktion von Luxusartikeln, Schmuck und Spiegeln. Hier offenbarte sich der ganze Prunk und Protz des Barock. Feste wurden gefeiert, des Karnevals erfreute man sich, bei der Musik und dem Theater reihte sich eine Hochphase an die andere. Dieses feuchtfröhliche und kunterbunte Leben stellte jedoch nur die Fassade dar und spiegelte die grausame Wirklichkeit in keinster Weise wider, sondern leugnete diese vielmehr. Nur der Adel hatte Zugang zu einem Dasein in Saus und Braus. Der Großteil der Bevölkerung hauste unter den erbärmlichsten Umständen in völliger Armut und musste hart arbeiten, um das eigene Überleben zu sichern. Die Straßen Venedigs waren alles andere als sicher. Kriminalität war die logische Folge dieses menschenunwürdigen Lebens.
Der Leser möge sich bitte in jene Zeit hineinversetzen, sich die schönsten Gebäude und Kunstwerke, jedoch auch die verdreckten und vom elenden Gestank befallenen Straßen vorstellen. Die verwinkelten Gassen, das Plätschern des Wassers, dem geselligen Treiben auf unzähligen Festen, dem Wein, den Menschen verschiedenster Stände und nicht zuletzt den schönen Frauen.
In diesem Venedig des 18. Jahrhunderts lebte ein Mann, dessen Geschichte es wert ist, erzählt zu werden. Sein Name war Graziano Aldini, zweiundzwanzigjährig, obwohl sein Antlitz seinem tatsächlichen Alter nicht entsprach. Sein narbenübersähtes Gesicht, die fettigen schwarzen Haare, die in Strähnen herunterhingen, die winzig kleinen schwarzen Augen, der Buckel und die geringe Körpergröße legten die Vermutung nahe, er könne bereits das vierzigste Lebensjahr überschritten haben, ein sehr reifes Alter für die damaligen Verhältnisse, besonders für einen nicht dem Adel angehörigen Mann. Sicherlich sollte man Menschen nicht nach ihrem Äußeren beurteilen, er war jedoch ein Mann, dem die Bosheit ins Gesicht geschrieben stand. Wahrlich, der Held unserer Geschichte glich mehr einer Ratte als einem Menschen, was nicht zuletzt an seinem hinterlistigen Wesen lag. Die Erwartungen des geneigten Lesers muss ich somit unglücklicherweise enttäuschen. Der Held unserer Geschichte ist kein märchenhafter Prinz, kein edler Ritter, kein liebenswerter Geselle. Wir haben es mit einem durch und durch verkommenen Menschen zu tun, sowohl in Bezug auf seine äußere, ungepflegte Erscheinung, als auch auf sein Inneres. Dass er sein ganzes Leben in trauriger Einsamkeit verbringen musste verwundert nicht, wollte mit einem solchen Menschen doch niemand gerne seine Zeit verbringen. Venedigs Frauen nahmen Abstand von ihm, machten einen großen Bogen um ihn, ignorierten ihn und entfernten sich umgehend, kam er auch nur in ihre Nähe. Eine einzige Ausnahme bildete ein Mädchen aus einem armen Elternhaus. Ihr Name ist irrelevant für uns und soll uns daher auch nicht weiter interessieren. Jedenfalls verliebte sich dieses Mädchen in unseren Helden. Wie es zum Kontakt der beiden gekommen war und wie es überhaupt möglich war für einen solch verkommenen Menschen aufrichtige Gefühle zu empfinden, ist uns nicht überliefert (die Liebe ist eben unberechenbar). Wir wissen nur zweierlei. Nämlich, dass die Liebe nicht auf Gegenseitigkeit beruhte, da ein Monster wie Aldini so etwas wie Liebe niemals empfinden konnte und dass er das arme Kind am 17. Juni des Jahres 1720, also drei Jahre vor dem Beginn unserer Erzählung, kaltblütig ermordete. Vermutlich genügte sie seinen Ansprüchen nicht und musste dafür mit ihrem Leben bezahlen. Da die genauen Umstände jedoch unbekannt waren, ist diese Vermutung meinerseits mit Vorsicht zu genießen. Doch da ich weiß, wie Aldini war, ist diese Theorie durchaus angebracht. Die Leiche des Mädchens hatte man in einer der zahlreichen verwinkelten und dunklen Gassen Venedigs gefunden. Die Quetschungen und Schrammen an ihrem Hals legten die Vermutung nahe, dass der Unmensch, dieses Tier, sie erwürgt hatte. Morde waren damals in Venedig an der Tagesordnung und niemanden interessierte es wirklich, wer der Mörder war oder nach welchen Motiven er gehandelt hatte. Die Ermittlungen wurden nur halbherzig geführt, die Eltern des Mädchens hatten ihre Tochter alsbald vergessen und vermochten sich wenige Zeit später nicht einmal mehr an ihren Namen zu erinnern. Aldinis Verbrechen flog niemals auf. Für den Leser mag dies befremdlich klingen und auf Unverständnis stoßen, ich erinnere jedoch gerne nochmal daran, dass wir uns im 18. Jahrhundert befinden, in einer gänzlich anderen Zeit.
Unser Held verdiente seinen Lebensunterhalt als Zimmermann. Seine Dienste waren allerdings nicht erwünscht, weshalb er kriminell wurde, um an Geld zu gelangen. Für Aldini hatte die gehobene Gesellschaft Venedigs nichts als Abscheu übrig. Er war in der ganzen Stadt bekannt und jeder hielt sich von ihm fern. Seine große Leidenschaft, ja gar sein einziger Lebenssinn war das Studium der weiblichen Schönheit. Aldini bewunderte und begehrte die schönsten Frauen Venedigs. Er trieb sich heimlich auf Festen umher, heimlich, da er ein nicht gern gesehener Gast war, verfolgte junge Frauen auf der Straße, sah ihnen voller Begeisterung durch das Fenster beim Baden, dem Kämmen der Haare und dem darauffolgenden Ankleiden zu. Aus diesem Grund glaubte Aldini vieles über Frauen zu wissen, zwar noch nicht alles, doch sehr viel (alles zu wissen war natürlich sein großes Ziel). Er glaubte, sie in ihrem Denken zu verstehen, zu wissen, was sie begehrten und liebten, ihre verborgenen Bedürfnisse zu kennen.
Die Frauen des Adels bekam Aldini nie zu Gesicht. Sie ließen sich generell nie blicken, vegetierten die ganze Zeit über in ihren dekadenten Gemächern dahin. Daher musste sich unser Held mit dem Anblick bürgerlicher Mädchen begnügen was er auch tat, da sich unter ihnen durchaus ansehnliche Subjekte befanden. Besonders angetan hatte es ihm ein achtzehnjähriges Mädchen namens Antonia, die jüngste Tochter des Claudio, einem sehr angesehenen Schneider. Mit ihrem wallenden schwarzen Haar, den dunklen Augen und den blutroten Lippen gefiel sie Aldini gar so sehr, dass dieser völlig vergaß, dass es in Venedig noch viel mehr schöne unverheiratete Frauen gab. Auf einmal hatte er nur noch Augen für sie, beobachtete fortan ausschließlich sie beim Baden, Kämmen und Ankleiden. Aldini nahm an, dass das Feuer der Liebe in ihm entbrannt war, irrte sich jedoch, da er Liebe mit Wollust verwechselte oder gar gleichsetzte. Aufrichtig zu lieben war Aldini Zeit seines Lebens ein unmögliches Unterfangen. Er bewunderte und begehrte. Nichts weiter mehr! Trotzdem lebte er in dem Glauben, er sei unsterblich in dieses Mädchen verliebt. Übel nehmen können wir dies unserem Helden mit Verlaub nicht, denn Antonia war tatsächlich ein bildhübsches Mädchen, so voller Energie und Lebensfreude, dass es gar die Sonne zum Lächeln brachte, die behutsam auf das schönste Geschöpf, das sich unter ihrer Obhut befand, schien. Selbstredend hatte Antonia unzählige Verehrer. Die vielen Liebesbriefe und geschenkten Rosen untermauerten diesen Eindruck. Ihr Vater Claudio verfügte folglich über den großen Luxus, sich den künftigen Gatten seiner Tochter frei auswählen zu können. Aldini war doch tatsächlich selbstbewusst oder wohl eher töricht genug, einen Versuch zu wagen, die Schönheit für sich zu gewinnen. Sein eigenes Ansehen sollte doch wohl erheblich wachsen, wenn er ein solches Mädchen zur Frau nehme. In erster Linie dachte er jedoch einzig und allein daran, seinen geheimsten Leidenschaften nachzugehen.
Eines Morgens verließ Antonia alleine ihr Elternhaus und wurde von Aldini, der sie bereits erwachtete, abgefangen. Beim Anblick des berüchtigten Mannes erschrak sie, schämte sich jedoch dessen, weshalb sie prompt eine Entschuldigung folgen ließ. Sie war in der Tat die einzige Person, die mit Aldini vollkommen vorbehaltlos und unvoreingenommen ein Gespräch zu führen in der Lage war. Dies können wir getrost auf ihre reine Herzensgüte, ihre gute Erziehung aber auch ihre kindliche Naivität und Unerfahrenheit zurückführen, denn dass dieser Mann nichts Gutes im Schilde führte, war seinen garstigen Augen abzulesen.
Aldini entschuldigte sich seinerseits das Mädchen so überrascht zu haben und gestand ihr seine grenzenlose Liebe. Antonia teilte unserem Helden jedoch mit, dass sie dem Marco versprochen war und diesen in Bälde zum Manne nehmen werde. Als Entschädigung lud sie Aldini zu ihrer in wenigen Wochen stattfindenden Hochzeit ein. Auch dies lässt sich mit ihrer Unerfahrenheit erklären, denn einen Herumtreiber mit krimineller Energie lud man nicht ein, erst recht nicht zur eigenen Hochzeit.
Daraufhin fiel unser Held vor seiner Angebeteten auf die Knie und klagte über seinen Herzschmerz und dass er fortan nie wieder glücklich sein könne. Antonia tat es aufrichtig leid, ihn enttäuschen zu müssen und ging weiter ihres Weges, wenn auch etwas eingeschüchtert.
Unser zutiefst gekränkter und gedemütigter Held, der die Ablehnung keineswegs nachvollziehen konnte, begab sich zurück in die armselig eingerichtete Hütte am Rande der Stadt, die er sein Heim nannte. Diesen Ort verließ er für die nächsten Tage nicht, auch nicht um Antonia heimlich zu beobachten. Danach war ihm nicht zumute. Er dachte nach und überlegte, wie er diesen üblen Streich doch noch abwenden konnte. Antonia gehörte ihm und niemand anderem!
Kurz darauf trug sich zu, dass eine alte Frau nach Venedig kam, die von sich selbst behauptete, Wunder vollbringen zu können. Diese Unbekannte war infolgedessen das einzige Gesprächsthema in der Stadt. Über die bevorstehende Hochzeit der jüngsten Tochter des Claudio mit diesem attraktiven Manne höheren Standes, redete plötzlich keiner mehr. Von dieser alten Frau nichts mitzubekommen war unmöglich, denn selbst dem Aldini kamen ihre Wunder zu Ohren. Da er ein von Grund auf skeptischer und misstrauischer Mensch war, hätte er die Alte niemals aufgesucht, wenn sich nicht herumgesprochen hätte, dass sie tatsächlich Wunder vollbringen könne und alles der Wahrheit entsprach. Beispielsweise habe sie angeblich einem Blinden das Augenlicht geschenkt, Kranke geheilt und einem Bettler zu einem gut bezahlten Beruf verholfen. Dies erweckte Aldinis Neugier. Wem dem so sei könne die Alte bestimmt auch dafür sorgen, dass sich ein Mädchen in ihn verliebe. Dabei dachte er natürlich an ein ganz bestimmtes Mädchen...
Bei nächster Gelegenheit (man musste zunächst ein Treffen mit der Frau vereinbaren) suchte unser Held die Alte auf. Wie genau er von ihrem Standort erfuhr und wo sich dieser befand, ist leider nicht bekannt. Fest steht nur, dass man ihr eine Behausung zur Verfügung gestellt hatte, in der sie ihrer Arbeit ungestört nachgehen und sich einzeln mit ihren Kunden treffen konnte.
Aldini teilte der Alten, die tatsächlich sehr einer Hexe ähnelte und genauso hässlich wie er selber war, sein Anliegen mit. Diese reagierte verduzt und zeigte nicht viel Verständnis für diesen sonderbaren Wunsch ihres neuen Kunden. Sie meinte, dass Liebe nicht erzwungen werden solle, da dieses Gefühl von innen heraus komme und man die Menschen ihrer Fähigkeit aufrichtig zu lieben nicht berauben dürfe. Zudem sei ein Mensch nicht mehr frei, wenn man ihn wahrlich dazu zwinge, Gefühle zu entwickeln, die initiiert und nicht echt seien. Und außerdem sei es doch ohnehin nicht erstrebenswert von jemandem nur geliebt zu werden, weil dieser nicht anders könne und nicht etwa weil dieser sich aus freien Stücken dazu entschieden hätte. In solch hochkomplexe Prozesse dürfe man nicht eingreifen, menschliche Emotionen seien nicht dazu da, um manipuliert und ausgenutzt zu werden.
Doch Aldini bestand darauf, dass die Alte ihm helfen solle, da er totunglücklich sei und in seiner Verzweiflung keinen anderen Ausweg sähe. Von moralischen und ethischen Prinzipien verstünde er ohnehin nichts. Zudem bot er ihr einen ordentlichen Batzen Geld (natürlich gestohlen) und da die Alte neu in der Stadt war und daher nicht wusste, welch heimtückischen Menschen sie sich gegenübersah, willigte sie schließlich doch ein.
Die Hexe hatte Aldini einen Liebestrank gebraut (als letzte Zutat hatte sie eine Haarsträhne Aldinis benötigt, damit sich die Angebetete auch in ihn verliebte und nicht etwa in den nächstbesten Mann, den sie erblickte). Diesen Trank konnte er bereits drei Tage später abholen. Die rosarote Flüssigkeit befand sich in einem kleinen Glässchen. Die Alte erklärte, dass bereits ein Tropfen davon das Herz einer jeden Frau zum Schmelzen bringe, garantierte, dass es funktioniere und bat ihren Kunden, es mit Bedacht einzusetzen.
Eine Woche später an einem Mittwoch fand die Hochzeit statt und Aldini erschien wie vereinbart. Den Liebestrank trug er bei sich, denn auf diese Gelegenheit hatte er sehnsüchtig gewartet. Freundlich begrüßte er Antonia und wechselte einige Worte mit ihr. Die anderen Gäste reagierten überaus schockiert darauf, dass man ihn eingeladen hatte und wie immer ging ihm jeder aus dem Weg. Es waren viele Gäste eingeladen und in dem Getümmel gelang es Aldini, sich dem Weinglas Antonias zu nähern und heimlich ein Tröpfchen des Wundermittels als zusätzliche Zutat hinzuzugeben. Dann wartete er, wartete bis seine Geliebte, oder besser gesagt seine Begehrte endlich durstig wurde. Lange dauerte dies nicht. Noch bevor die Eheschließung mit ihrem Versprochenen vonstatten gegangen war, hatte sich Antonia unsterblich in unseren Helden verliebt. Es mag schwer zu glauben zu sein, doch ich versichere dem geschätzten Leser, dass dies wirklich der Wahrheit entspricht. Man bedenke, dass wir das Jahr 1723 schreiben und Wunder zur damaligen Zeit anscheinend möglich waren.
Ich vermag nicht zu berichten wie es Antonia gelungen war, die Hochzeit noch im letzten Moment zu verhindern oder wie sie es ihrem überaus verärgerten Vater (der sich Sorgen um sein eigenes Ansehen machte) begreiflich machen konnte, dass Graziano Aldini, dieses Scheusal von einem Mann ihr neuer Geliebter war, doch irgendwie war es ihr gelungen (wohl ebenfalls ein Wunder, das mit der magischen Kraft des Liebestranks zu erklären ist). Was aus dem armen Marco wurde, ist ungewiss. Sein Schicksal ist nicht überliefert und er wird uns in dieser Geschichte nicht mehr begegnen. Jedenfalls ist davon auszugehen, dass er alles andere als erfreut war.
Aldini hatte sein Ziel erreicht und lebte fortan mit dem schönsten Mädchen Venedigs zusammen. Mit ihr konnte er sein Studium des Weiblichen fortsetzen und zum Ende führen. Er traf sich noch einmal mit der Hexe, der er seinen Erfolg zu verdanken hatte und bedankte sich artig bei ihr. Diese sagte, dass die Wirkung des Trankes nur so lange anhielte wie sie am Leben war, dies jedoch ein Geheimnis war, das er für sich behalten solle. Aus einem unbegreiflichen Grund vertraute die Alte unserem Helden diese wichtige Information an. Demzufolge fanden all ihre vollbrachten Wunder ein jähes Ende, sobald sie verstarb. Da sie ja schon eine alte Frau sei und es ungewiss sei, wie lange sie überhaupt noch lebe, solle Aldini sein Glück genießen so lange er noch konnte. Diese Worte gaben unserem Helden sehr zu denken.
Wie genau er mit Antonia umging, ist uns nicht überliefert, wir können jedoch davon ausgehen, dass er das arme Mädchen nicht gut behandelte. Wahrscheinlich ist es gut, dass wir keine Details kennen. Sie diente schließlich nur der Erfüllung Aldinis triebgesteuerten Absichten. Einzig darauf reduzierte er sie. Doch sie ließ zweifellos alles mit sich machen. Erniedrigungen und Demütigungen seitens ihres Geliebten taten ihrer Liebe keinen Abbruch. Der Trank machte es ihr unmöglich sich der grenzenlosen, wenn auch unaufrichtigen Liebe zu entziehen, Aldini konnte tun was er wollte, sie würde niemals aufhören können, ihn zu lieben. Nicht etwa, weil sie aufrichtig liebte, sondern weil sie, ihrer Freiheit beraubt, nicht anders zu denken und zu handeln in der Lage war. Der Trank hatte ihre Sinne vernebelt, ihre eigenen Bedürfnisse unterdrückt, sodass sie sich Aldini vollkommen unterwerfen musste. Das Leben dieses bemitleidenswerten Mädchens wurde fremdbestimmt, sie war nichts anderes als eine Marionette, der Spielball eines Wollüstlings und dessen hilflos ausgelieferte Untergebene. Zwar machte ihre falsche, erzwungene Liebe es ihr unmöglich, unter Aldinis Launen zu leiden, weshalb sie die zahlreichen Misshandlungen, die zweifellos stattfanden, willenlos über sich ergehen ließ, doch es stand außer Frage, dass sie mit dem Verlust ihrer Freiheit und der Fähigkeit aufrichtig und selbstbestimmt zu lieben ihrer Menschlichkeit beraubt wurde, auch wenn sie dies in dem Moment selber nicht wahrnehmen konnte. Sie wurde von einem denkenden Subjekt in ein willenloses Objekt verwandelt, über dessen armselige Gefühle ohne Zustimmung bestimmt wurde. Sie existierte fortan nur eines bestimmten Zweckes wegen, ohne eigenes Streben nach Sinnhaftigkeit vollziehen zu dürfen. Das Schlimmste ist, dass sie nicht einmal darüber Bescheid wusste, dass sie unwissentlich litt, wie ein Kranker, der an einem Virus zugrunde geht, ohne dass irgendwelche Symptome ihn quälen. Der Verlust der Selbstständigkeit geht mit dem Verlust der Würde einher.
Eine ganze Weile ging dies so weiter, doch Aldini wurde Antonia jeden Tag, der verging, langweiliger. Dass er nicht um sie kämpfen musste, sondern dass sie sich unterwarf und völlig auslieferte, missfiel ihm sehr. Trotz ihrer schier unbeschreiblichen Schönheit und Weiblichkeit, die er so sehr begehrte, verlor sie ihren Reiz. Hatte man erstmal das, was man begehrte, pflegte es immer seine scheinbar magische Anziehungskraft zu verlieren. Einzig das Mysterium, das einen unbekannten Menschen umgab, machte diesen interessant und reizvoll. Ist die innigste Liebe nicht die unerfüllte? Macht die Unerfüllbarkeit der Liebe diese nicht erst so besonders? Liebte man nicht nur aufgrund eben dieser Unmöglichkeit und Unerfüllbarkeit seiner Liebe? Ist nicht die Ablehnung das einzig reizvolle?
Bei unserem Helden ist zwar an wahre Liebe nicht zu denken, doch letztlich verhielt es sich bei seiner Fleischeslust genauso. Es ist schwer zu sagen wie lange Aldini und Antonia zusammen waren. Überliefert ist nur, dass er das zur Liebe verdammte und verurteilte Mädchen kurz vor ihrer gemeinsamen Hochzeit verließ. Die Unglückliche versuchte mit aller Macht Aldini wieder für sich zu gewinnen, nicht weil sie wirklich wollte, sondern weil sie nicht anders konnte, ohne zu wissen, dass sie eigentlich nicht wollte. Schließlich lebte die Alte noch und somit auch die magische Wirkung des Liebestranks. Und er wirkte auch noch bis zu Antonias Tod. Die Ärmste sah in ihrer aufrichtigen Verzweiflung bedingt durch unaufrichtige Gefühle keinen anderen Ausweg als sich das Leben zu nehmen. Sie ertrank sich am 20. Februar des Jahres 1724.
Das tragische Schicksal seiner ehemaligen Angebeteten ließ den herzlosen Aldini vollkommen kalt. Vielmehr freute er sich, sie losgeworden zu sein, ohne sich die eigenen Hände schmutzig machen zu müssen, wozu er definitiv jederzeit bereit gewesen wäre, hätte sie ihn zu sehr belästigt. Endlich war er wieder ein freier Mann und nicht länger gebunden! Das Mädchen hatte ihm gute Dienste geleistet, war jedoch aufgebraucht und musste ersetzt werden. Die Worte der Alten beschäftigen ihn sehr. Wie lange diese solch alte Frau noch zu leben hatte, war ungewiss. Und dann war der Zauber vorbei. Für immer. Der Liebestrank würde mit dem Ableben seiner Erfindung ebenfalls sein Ende finden. Allein der Gedanke daran versetzte Aldini in solche Panik, dass er sich in den folgenden Monaten mit unzähligen Jungfrauen und den schönsten Mädchen Venedigs vergnügte. So lange der Trank noch wirkte und er jede Frau der Welt haben konnte, musste er dies ausnutzen. Und Aldini nutzte es aus. Er ließ seinen Trieben und verborgensten Wünschen und Fantasien freien Lauf, unterdrückte seine unstillbare Lust nicht länger, begehrte immer weiter und eilte von Frau zu Frau. Unbegreiflich wie er dies anstellte, doch irgendwie gelang es diesem hinterlistigen Mann immer seiner neusten Angebeteten etwas von seinem Wundermittels zu verabreichen. Langsam aber sicher wurde das Glässchen, das er stets bei sich trug immer leerer und leerer. Der Leser möge sich in Erinnerung rufen, dass ein einziger Tropfen pro Mädchen genügte, um ihr vollkommen den Kopf zu verdrehen. In Anbetracht dessen können wir uns gut vorstellen wie vielen Frauen unser Held das Herz gestohlen hatte, wenn der Trank schon fast aufgebraucht war. Tatsächlich gab es in Venedig keine Frau, mit der Aldini noch nicht geschlafen hatte (manchen Frauen verabreichte er sogar mehr als nur einen Tropfen seines Liebestranks, einfach um zu sehen, wie sie vor Liebe fast den Verstand verloren, woran er sich sehr erfreute). Keine begehrenswerte Frau war noch nicht seiner Verführung verfallen. Unser Held lebte seine eigenen Träume skrupellos und rücksichtslos aus und verspürte nicht im Geringsten Mitleid oder Reue mit seinen hilflosen Opfern. Natürlich gab es unzählige Selbstmorde junger Mädchen, denen Aldini mal wieder das Herz gebrochen hatte. Er hatte gar so viele Verehrerinnen, dass er sich einiger von ihnen selber entledigen musste. So wurde unser Held in der Tat zum Massenmörder. Er genoss seine Überlegenheit und erfreute sich der Aufmerksamkeit und Verehrung, die ihm jetzt zuteil und zuvor stets verweigert wurde. Dass diese Liebe und Zuneigung nicht auf wahren Gefühlen beruhte, sondern erzwungen und erkauft war, interessierte ihn nicht. Sein Wissen über Frauen war nun endgültig allumfassend, wie er glaubte, womit er sein größtes Ziel, seinen Lebenstraum erreicht hatte. Er betrachtete seine Aufgabe als abgeschlossen.
Von den unzähligen Orgien ermüdet, entschied sich unser Held, sich zur Ruhe zu setzen. Er musste Venedig schleunigst verlassen, denn man hatte Verdacht geschöpft. Ihm drohte der Tod, sollten seine zahlreichen Verbrechen auffliegen, was sehr bald der Fall sein konnte. Die Anzahl der Toten und Vermissten war derart gestiegen, das selbst die unfähigen Sicherheitsbeauftragten sich dazu gezwungen sahen, der Sache ernsthaft auf den Grund zu gehen, nicht zuletzt aufgrund dem Drängen und wachsendem Unmut innerhalb der Bevölkerung.
Der Liebestrank war mittlerweile aufgebraucht, der Frauenanteil der Bevölkerung drastisch gesunken. Das letzte Verbrechen, das Aldini beging, war der Mord an der Hexe. Auch sie hatte ihm gute Dienste erwiesen, wenn auch nicht in der Art wie die anderen Frauen. Doch sie hatte ihm all dies ermöglicht. Doch ihre Zeit war ebenfalls abgelaufen, denn sie wurde nicht länger benötigt. Aldini erstach sie im Schlaf mit einem Dolch. Er befürchtete sie könnte ihn verraten, da sie schließlich den Liebestrank gebraut und an ihn verkauft hatte, weshalb sie sich den Zusammenhang mit den zahlreichen Morden durchaus logisch erschließen konnte (sie war zwar naiv aber nicht dumm).
Zufrieden und im Reinen mit sich, schmiedete unser Held konkrete Pläne, Venedig, die Stadt der Liebe, den Rücken zu kehren. Irgendwo wollte er sich in einer ruhigen Ortschaft, weit weg von dieser Stadt niederlassen. Dort würde ihn niemand kennen und er könnte ein neues Leben starten. Er würde sich eine neue Leidenschaft zu eigen machen, denn Frauen hatten ihren Reiz für ihn verloren. Er wusste einfach schon alles über sie, wie er zumindest glaubte. So weit kam es jedoch nicht, denn was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste war, dass er sich von einer seiner endlosen Liebschaften die Syphilis zugezogen hatte. Die Krankheit brach unerwartet am Tag der geplanten Flucht aus und erschütterte unseren Helden bis ins Mark. In diesem Zustand war es ihm unmöglich, Venedig zu verlassen. Er wusste nicht wie im geschah und fühlte sich immer elender. Ich kann es zwar nicht genau bestätigen, vermutlich hatte Aldini sich jedoch noch mehr Krankheiten zugezogen, die ihm alle gleichzeitig schwer zu schaffen machten. Jedenfalls suchte er die besten Ärzte Venedigs auf, doch niemand war bereit, ihm zu helfen. Man schickte ihn weg, man lachte ihn aus, man ekelte sich vor ihm. Sein Zustand wurde gar ausgenutzt. Da er keinerlei Gegenwehr leisten konnte, stahl man ihm sein gesamtes Hab und Gut, prügelte ihn wie einen Hund vor lauter Hass und Ablehnung. Aldini bettelte um Hilfe und litt immer mehr unter seiner Krankheit, doch seine Bemühungen waren aussichtslos. Es ist gar anzunehmen, dass zu jenem Zeitpunkt jeder in Venedig wusste, dass er für all die Schandtaten verantwortlich war, man ihn jedoch nicht auslieferte, um zu sehen, wie er leiden und elendig auf der Straße sterben musste. An diesem Anblick erfreute sich das Volk jedenfalls. Nach einem zu jeder Zeit aussichtslosen Kampf ging unser Held vollkommen gedemütigt und seiner letzten Ehre beraubt an seinen Leiden zugrunde. Er starb am 30. Dezember des Jahres 1724, einsam und verlassen in der dunklen Gasse, jener, in der er damals seinen ersten Mord an dem jungen Mädchen begangen hatte. Die Leiche ließ man dort verwesen, die Ehre eines anständigen Begräbnisses erwies man ihm nicht. Sein Körper wurde von Maden befallen und von Ratten gefressen. Dies, verehrter Leser, war die Geschichte des Graziano Aldini, der in die Geschichte einging als der größte Liebende aller Zeiten, wobei doch wahrlich Verachter der menschlichen Würde und Dieb der Freiheit mehr zutrifft. Möge er in Frieden ruhen!

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