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1xhab ich gern gelesen
geschrieben von Federteufel.
Veröffentlicht: 08.01.2023. Rubrik: Unsortiert


Der tödliche Kuss

Ha, das ist so ein Fall ganz nach meinem Gusto! Geschah´s letzten Dienstag – oder war´s schon Mittwoch? Jedenfalls so um Mitternacht, und jedenfalls auf der Tanzdiele „Zum hinkenden Henker“. Die Kripo war schnell mit einer Erklärung bei der Hand: Tod durch Ersticken infolge eines anaphylaktischen Schocks infolge eines Wespenstichs. O-Ton Polizeidirektion Eins. Herrschaften! Wo, um Himmels Willen, kommt um Mitternacht eine Wespe her, und dann, wie kommt sie auch noch in den smarten Hals einer jungen Frau?
Nun gut. Das tödliche Tier ist unbemerkt in eine geöffnete Coladose gekrabbelt und hat darin die Zeit verschleckert. Kommt ja nicht selten vor. Dann hat die Dame daraus getrunken um kurz darauf das Zeitliche zu segnen. Unmöglich ist das nicht, wenn auch höchst unwahrscheinlich. Erstens, weil um diese Zeit die Wespe eigentlich schon längst hätte ertrunken sein müssen, und zweitens, weil noch niemand an einem Wespenstich in den Rachen wirklich erstickt ist. Atemnot, ja, von mir aus schwere, auch ja. Aber gleich ersticken? Auch wenn man annimmt, dass das Gift dieser Biester aus irgend einem Grunde immer toxischer wirkt, so schwillt doch auch ein zarter Frauenrachen nicht ruckzuck total zu. Außerdem ist in dieser Stadt binnen sieben Minuten eine Ambulanz vor Ort, und solange hält jemand, der in der Lage ist, stundenlang wie besessen über die Dielen zu hüpfen, auch mit geschwollener Luftröhre durch. Also höchst unwahrscheinlich.
Außerdem hatte man nur die Coladose gefunden, nicht die Wespe.
Grund genug, dass in mir der Terrier erwachte. Gerade diese unklaren Fälle passen haargenau in mein Beuteschema. Nur, von der Kripo ist in solchen Fällen nichts zu erfahren, da kann man bitten und betteln wie ein ausgehungerter Köter.
Von mir aus. Ich hab da meine eigenen Informanten. Und die finde ich nicht bei der Polizei, sondern auf dem Friedhof.
Ja: Auf dem Friedhof. Präziser: Bei den Trauergästen, wenn der unklare Fall beerdigt wird.
Ich bekenne mit größtmöglicher Offenheit, dass eine Beerdigung die Form von Geselligkeit ist, die mir am meisten zusagt. Es gehört wohl zu meinem Naturell, dass ich ernste Worte mehr schätze als heitere, besonders wenn sie von einem Meister der Trost-Prosa in weihevoll-öligem Tonfall vorgetragen werden. Was ja auf Friedhöfen häufig geschieht. Manche dieser Prediger wissen die Worte derart beeindruckend zu setzten, dass selbst mir die Tränen kommen, der ich doch sozusagen nur aus sportlichem Interesse und nicht aus innerer Anteilnahme anwesend bin.
Doch diesmal konnte weder von Trostworten die Rede sein noch von trauernder Geselligkeit, wenn man von den paar Leuten, die um das Grab herumstanden, absieht. Das Wetter an diesem Morgen war schlecht, grottenschlecht, sogar die Krähen auf den Friedhofslinden schwiegen. Die Zeremonie selbst war schlicht und keineswegs ergreifend: Ohne Kapelle, Priester, Blumen, Pomp and Circumstanzes. Sofort fiel mir ein junger Mann auf, der etwas abseits stand, als gehöre er nicht dazu. Er war in einen dicken Wintermantel gehüllt und schien zu frieren. Nach alter Gewohnheit sah ich ihm auf den Mund, denn ein Mund verrät viel, auch wenn er gerade nicht spricht. An der Mundhaltung erkenne ich zum Beispiel, ob hinter der Trauermiene echte Betroffenheit oder nur gespielte Anteilnahme steckt.
Da war eines Tages der grau melierte Herr neben der smarten Dame im Trauerflor, dessen Miene einen Stein hätte erweichen können. Plötzlich, in einer unkontrollierten Sekunde, spitzte er den Mund wie zum Kuss, und die Witwe, von Trauer überwältigt, sank in seine Arme. Sofort meldete sich mein Bauch-Orakel: Aha!, wisperte es, der Liebhaber, der den Abgang seines Rivalen alles andere als beweint und möglicherweise sogar etwas nachgeholfen hat. Lag da ein Giftmord in der Luft, von wem auch immer? Ein wenig Aconitin oder Amanitin in den Tee . . .
Ich gab meinem „Freund“ bei der Kripo einen diesbezüglichen Hinweis – und siehe da: Der Gute wurde fündig. Allerdings, der Verblichene war tatsächlich eines natürlichen Todes gestorben, da hatte sich mein Orakel leider geirrt. Aber der grau Melierte erwies sich als ein von Interpol gesuchter Heiratsschwindler. Was soll´s. Orakel sind ja für ihre Ungenauigkeit bekannt.
In puncto Trauermund kenne ich mich also aus. Als ich nun den Mund des jungen Mannes sah wusste ich sofort: Da stimmt etwas nicht! Eine derartige Lippenhaltung hatte ich auf einer Beerdigung noch nie gesehen! Er hatte nämlich die Unterlippe so weit hochgeschoben, dass sie die obere vollständig verdeckte und die Nasenspitze fast berührte, wie ein Kind, das schmollt und dabei den Rotz einzieht. Aber er war kein Kind, und er schmollte auch nicht, vom Rotz ganz zu schweigen: Er wollte, unbewusst, seinen Mund den Blicken des Publikums entziehen.Sofort war mir klar, dass dieser Mund etwas mit dem Tod der jungen Frau, deren Leiche gerade in der Grabgrube versank, zu tun hatte. Natürlich hatte ich nicht die geringste konkrete Vorstellung. Es war wieder eines dieser unbestimmt-orakelhaften Bauchgefühle, die mich aus heiterem Himmel überkommen wie Sodbrennen, die aber manchmal sicherer ans Ziel führen als die kühnste Spekulation. Hätte mir jedoch jemand gesagt, wohin die Reise ging, ich hätte ihn einen Spinner gescholten.
Ich fragte einen der Umstehenden und erhielt zur Antwort, der Mann sei der Verlobte der Toten. Noch am selben Tag ließ mir eine Kopie des Berichts der Dienststelle, die den Todesfall untersucht hatte, kommen und las ihn sorgfältig durch. Eine halbe Stunde später saß ich vor dem Schreibtisch meines „Freundes“ bei der Kripo.
„Na, Sherlock“, brummte er und knatterte abweisend auf seinem PC herum, „was haben wir denn diesmal entdeckt?“ Dabei sah er mich mit einer Art Hassliebe an. Wie ein Arzt, der es nicht mag, dass der Patient die Diagnose stellt, so konnte es der Oberkommissar aufs Verrecken nicht ausstehen, wenn ich ihm einen angeblich unlösbaren Fall wieder vor die Füße warf. Andrerseits schätzte er meine Hinweise; denn, obwohl Meister auf der endlosen Klaviatur forensischer Spitzfindigkeiten, ihm fehlte das letzte Tüpfelchen, das aus einem fleißigen Kripo-Beamten einen genialen Kriminalisten macht: Die Intuition.
Ich kam sofort zur Sache. „Die junge Frau aus der Disko 'Zum hinkenden Henker'“, sagte ich, „ist laut Ihrem Bericht an einem schweren anaphylaktischen Schock infolge eines Wespenstichs gestorben. Dann müsste sie aber doch ein Gegenmittel bei sich gehabt haben, gerade zu dieser Jahreszeit, wo es von Wespen wimmelt. Ich denke dabei etwa an ein bestimmtes Adrenalinpräparat. In Ihrem Bericht taucht ein solches Mittel aber an keiner Stelle auf. Kann es sein, dass Ihre Leute da etwas übersehen haben?“
„Das würde mich doch sehr wundern“, grunzte er und starrte eine Weile auf seinen PC. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Nein ein solches Mittel wurde nicht gefunden, zumindest nicht bei der Toten. Und wenn es nicht gefunden wurde, dann war es auch nicht da. Darauf können Sie Gift nehmen.“ Er sah mich böse an. „Sagen Sie mal, Sherlock, woher wissen Sie eigentlich –“
„Ich weiß nicht, ich vermute“, log ich, „denn dieser Befund passt ausgezeichnet zu meiner Theorie.“
Er grinste unverschämt. „Soso, Sherlock hat eine Theorie, will sagen, er hält sich für schlauer als die Polizei.“
„Nicht unbedingt schlauer, aber freier im Denken.“
„Nun werden Sie mal nicht frech, Mann! Also eine Theorie haben Sie! Und die wäre? Vergewaltigung mit Todesfolge, Totschlag im Affekt, Mord zweiten Grades? Oder darf es noch was Besseres sein?“
„Das herauszufinden ist Ihr Job“, gab ich ruhig zurück, „außerdem ist die Todesursache ja bekannt, nämlich ein anaphylaktischer Schock aufgrund einer schweren allergenen Disposition. Meine Theorie bezieht sich auf den Auslöser dieses Schocks, denn an einen Wespenstich mag ich nicht glauben.“
Er sah mich verdutzt an. „Und was soll das nach Meinung Eurer Kompetenz gewesen sein?“
„Die junge Frau starb vermutlich an einem Kuss.“
Auf einmal leuchteten seine Ohren knallrot. Das nicht nur, weil sie außergewöhnlich dünn sind und gerade vom Fenster her das helle Tageslicht hindurchschien. Nein. Das tun sie immer, wenn er erregt ist, denn Aufregung schlägt ihm auf die Ohren.
„Das sollten Sie mir genauer erklären!“, rief er.
„Gerne.“ Ich hatte kaum den ersten Halbsatz in die Luft geblasen, das brüllte er los: „Herr, halten Sie mich für einen Idioten? An einem Kuss stirbt man doch nicht! Schon gar nicht in einer solchen Radaubude, wo jeder der will, auch kriegen kann, was er will! Dann müsste ja der Boden, als wir ankamen, mit Leichen übersät gewesen sein! War er aber nicht! Oder wollen Sie andeuten, dass meine Leute schon wieder was übersehen haben? Ich schlage vor, Sie lassen mich jetzt meine Arbeit –“
„Und ich“, schnitt ich ihm das Wort ab, „schlage vor, Sie halten jetzt mal die Beine still und hören mir ruhig zu, Ihrer Karriere würde es wahrscheinlich nichts schaden!“
Das wirkte. Das Wort „Karriere“ hat bei ihm die gleiche Wirkung auf wie beim Hund „Sitz“ oder „Platz.“
„Na schön. Ich gebe Ihnen eine Minute, dann verschwinden Sie!“
„Okay. Es kann Mord sein, oder ein tragischer Unfall. Gewissheit bekommen Sie, wenn Sie sich mal denjenigen vorknöpfen, der ihr den finalen Kuss verpasst hat.“
„Finaler Kuss? Herrgottnochmal, was soll das denn nun wieder?“
Ich berichtete ihm von meinen Beobachtungen auf dem Friedhof.
Als ich fertig war, zog er ein kariertes Taschentuch hervor und wischte sich die Stirn. „Mannomann, Sherlock“, stöhnte er, „Sie verlangen einem aber einiges an Gutgläubigkeit ab. Na schön, einen Versuch ist es allemal wert. Name, Adresse?“
Ich lachte ihn aus. „Bin ich die Kriminalpolizei?“

Lassen wir mal die Frage ungeklärt, ob jemand mit einer Toten noch verlobt sein kann. Fakt ist, dass der junge Mann ein volles Geständnis ablegte. Natürlich habe er von der hochgradigen Haselnussallergie seiner Verlobten gewusst, schließlich hätten sie beide nicht nur Händchen gehalten und in der Bibel gelesen. Aber er habe sie nicht töten, sondern nur mäßigen wollen. An dem Abend sei sie mit Gunstbeweisen ihren Bekannten gegenüber sehr freigiebig gewesen, daraufhin habe ihn eine starke Eifersucht ergriffen.
„Aber was haben Sie denn nun getan?“, röhrte der Oberkommissar ungeduldig.
„Ich wollte ihr, mit ein paar zerkauten Haselnussstückchen auf der Zungenspitze, einen oberflächlichen Kuss geben. Die leichte allergische Reaktion, die daraufhin eingetreten wäre, hätte sie gewiss nicht umgebracht.“ Hier brach der junge Mann in Tränen aus. Als er wieder sprechen konnte, schluchzte er: „Aber sie, in ihrer Kusswütigkeit, drückte mir ihre Zunge in den Mund, der noch voll von zerkauten Haselnüssen war. Wenn ich geahnt hätte, dass das Gegenmittel im Handschuhfach ihres Autos lag, wäre ich nie auf die Idee gekommen, so etwas Hirnverbranntes zu tun, so wütend ich auch war. Als sie dann keine Luft mehr bekam und sich herausstellte, dass sie das Präparat nicht bei sich hatte, rief ich sofort eine Ambulanz an, doch da lag sie schon mit blauem Gesicht auf dem Boden."

Tja, was war das nun? Ein verhängnisvoller Kuss mit tödlichem Ausgang? Oder gar Körperverletzung mit Todesfolge? Oder noch mehr? Ein verflixt unklarer Fall, denke ich. Doch das ist jetzt nicht mehr mein Bier.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von ehemaliges Mitglied am 08.01.2023:

Meine Meinung hierzu: Der Verlobte wuste von der Schwere der Allergie. Er hat mindestens einen Allergieschock in Kauf genommen. Seine Absicht also war, ihr Schaden zuzufügen. Er dachte aber wohl, dass sie ihr Notfallset dabei hatte - und nicht im Auto. Also ist eine Mordab- sicht nicht gegeben. Es bleibt bei Körperverletzung mit Todesfolge. Nach §227 STGB heißt das: Freiheitsstrafe nicht unter 3 Jahren. Leider ist das auch schon in der Realität tatsächlich vorgekom-men - allerdings unabsichtlich und zum Glück ohne Todesfolge, weil zufällig ein Arzt anwesend war.




geschrieben von Federteufel am 10.01.2023:

Hallo mueller-pioro, aus Kanada wird von einem ähnlichen Fall berichtet, bei dem es tatsächlich zu einem tödlichen Ausgang kam. Diese Meldung war übrigens der Anlass für diese Geschichte.

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