Kurzgeschichten-Stories
Autor
Schreib, wie du willst!
Startseite - Registrieren - Login - Kontakt - Impressum
Menu anzeigenMenu anzeigen
3xhab ich gern gelesen
geschrieben von Federteufel.
Veröffentlicht: 14.12.2022. Rubrik: Unsortiert


Das Mädchen


Ich steuerte den Wagen den Bergrücken hoch, durch gelichtetes Gehölz, himmelwärts – schon lag sie vor mir, die kleine Stadt „auf der kalten Haard“ (Höhe). Zu meiner großen Überraschung sah sie noch genauso aus wie damals, vor fast einem halben Jahrhundert. Ihr Anblick war noch genau so märchenhaft – zumindest auf den ersten Blick: Die schwarze Stadtmauer über dem gewölbten Wiesengrund, das Gewürfel ihrer Häuser, der spitze Kirchturm, alles unter schweren Wolkenkissen wie verängstigt zusammengedrängt auf der Bergkuppe. Ich hielt an und genoss den Anblick, eine Fata Morgana aus alter, längst vergangener Zeit. Nun ja, die Neubaugebiete sah ich nicht, die lagen hinter dem Berg. Einem hochweisen Stadtrat war es offensichtlich gelungen, diese Seite vor dem „Wachstum“ zu schützen.
Ich fuhr ins Städtchen und fand ohne zu suchen einen anderen meiner Sommerwege, eine alte enge Kastanienallee mit mächtigen Baumgestalten, deren Stämme und Kronen zu einem gotischen Hallenbau verschmolzen waren. Hier herrschte auch an hellen Sommertagen mystisches Dunkel. Ich war den Weg ein paarmal gegangen; wenn ich das Bedürfnis verspürte, aus der rasenden Helligkeit eines wolkenlosen Julitages in wohltuend feucht-kühle Dunkelheit einzutauchen und meinen Träumen nachzugehen. Ja, ich bin ein Träumer, der aber im Tagtraum nicht Müßiggang, sondern die Suche nach der anderen Seite der Münze sieht, die Realität heißt. Ich meine diese traumhafte Fähigkeit, Dinge wahrzunehmen, die andere anscheinend nicht sehen, dieses feine Gespür für Ereignisse, die noch weit in der Zukunft liegen; diese unbewusste Fähigkeit, persönliches Schicksal, von dem der Verstand noch nichts weiß, vorauszuahnen.
Und gerade dieser Weg, der dunkelste und gleichzeitig auch der hellste aller meiner Wege, sollte zeigen, dass meine Träume keineswegs Schäume waren. Obwohl ich ihn nie bis zum Ende gegangen bis, hat er mich doch in traumwandlerischer Sicherheit ans Ziel gebracht. Er war ein Teil des guten Weges, der mich durchs Leben führte.

Eines sommersonnendurchfluteten Tages, der unzählige Lichtpfützen auf den Boden der schattigen Allee zauberte, kam mir ein junges Mädchen entgegen, in einem geblümten Sommerkleid und mit ernstem Gesicht, einen großen struppigen Hund an der Leine. Das Tier, ein gutmütig-täppischer Geselle mit einem wachsbleichen Fell und einer Unzahl verschiedenrassiger Vorfahren, drängte mit allen Anzeichen der Freude zu mir hin, das Mädchen, etwa in meinem Alter, blieb stehen und sah mich fragend-lächelnd an. Auch ich blieb stehen und ließ den Hund schnüffeln.
Ich habe nie Angst vor Hunden verspürt, höchstens Unwillen bei lästigen Kläffern und Abscheu vor diesen nacktgesichtigen Kampfhunden. Wir schauen uns in die Augen, der Hund und ich, und wissen Bescheid. Nämlich, dass wir beide Träumer sind. Ja, manche Hunde träumen tief und gründlich, das hört man, wenn sie im Schlaf jaulen und stöhnen. Dieser Hund nun erkannte, dass wir beide, er und ich, von ähnlicher Empfindsamkeit waren: Auf beiden Seiten kam Sympathie auf, nur schwer konnte ich seine Liebkosungen zügeln. Wir schieden in der allerbesten Freundschaft. Und wieder, im Weggehen, lächelte mir das Mädchen zu.
Die Allee unterbrach sich am Friedhof des Städtchens, um am anderen Enden weiter zu führen. Ich trat aus der Dämmerung in die strahlende Tageshelligkeit wie der Schmetterling aus dem Kokon. Und auf einmal sah mir die Welt völlig verändert aus. Plötzlich war das Zauberreich der Natur ein schnöder Schein, ihre verwirrende Vielfalt ein falscher Rausch, der Gesang der Vögel ein hölzernes Klappern. Irgendetwas war mit mir geschehen, irgendetwas, das ich mir nicht erklären konnte.
Natürlich, heute weiß ich es. Das unbekannte Mädchen mit seinem Lächeln hatte meine Sinne betört, ihre freundlichen Augenküsse hatten in mir etwas geweckt, das ich bis dahin noch nicht kannte: Die Elementargewalt der Frauenliebe, gegen die es keine Versicherung gibt, es sei denn, man stirbt vorher. Jetzt, wo die Erinnerung aufsteigt wie Nebelschwaden aus feuchten Tälern, will ich nicht unbedingt behaupten, dass die Veränderung auf einmal geschah, wahrscheinlich vergingen Tage und Wochen. Doch eines zeigte sich schon wenige Stunden danach: Die Zeit der trägen Selbstversunkenheit war dahin.
Und noch etwas anderes löst aus dem Schutt der Alltags-Erinnerungen und kommt ans Licht des Wieder-Bedeutsamen.
Auf dem Friedhof fand gerade eine Beerdigung statt, die weihevoll-ernsten Worte des Geistlichen durchtönten die Luft. Ich wollte schon weitergehen – Tod und Sterben sind kein Thema für die lebensfrohe Jugend – da blieb ich erstaunt stehen: Da stand das Mädchen, mitten in der zahlreichen Trauergemeinde – ich sah deutlich das geblümte Kleid – und blickte zu mir herüber. Nun das Erstaunlichste: Mir kam es vor, als habe ich dieses Bild hier schon einmal gesehen, ein Déjà-vu-Erlebnis also, doppelt unerklärlich, denn ich war noch nie auf diesem Friedhof gewesen, und die Kleine war ja vor wenigen Minuten die Allee hinabgegangen. Während ich noch über diese seltsame Verwirrspiel nachdachte, geriet die Trauergesellschaft in Bewegung, auf das Grab zu; auch das Mädchen trat einen Schritt vor, und nun löste sich das Rätsel: Was ich für das geblümte Kleid gehalten hatte, war ein blühender Rosenstrauch gewesen. Und doch, ich verspürte weder Ernüchterung noch Enttäuschung, sondern die unbestimmte Vorahnung zukünftiger, noch unbenannter Ereignisse. Heute weiß ich: Ich, der jungalte Träumer, hatte, ohne es zu ahnen, in die Zukunft geschaut, denn ein paar Jahre später stand ich wieder auf diesem Friedhof, und mir gegenüber das Mädchen, jetzt wirklich.
Wir standen am Grabe ihres Onkels, einem meiner Lehrer, der an sich und unter seinem Beruf gelitten hatte. Ein einsamer, unverheirateter Mann, der in seiner Wohnung so viele Bücher stapelte, dass die Wände Risse bekamen. Unerklärlich war eine Art wortloser Übereinstimmung, die mich mit ihm, dem damals noch völlig Fremden, verband. Es wäre mir unmöglich gewesen dieses Gefühl zu beschreiben, geschweige denn zu begründen. Äußerlich war dieser Mensch in allem anders als ich: Stattliche Figur, gelbliche Gesichtshaut, schwarz-glänzende Haare, während ich eher zu den Bleichgesichtig-Unscheinbaren gehöre. Bei einem Verkehrsunfall hatte er ein Bein verloren, er trug eine Prothese.
Wieder sehe ich seinen unregelmäßigen Gang und höre das harte Aufsetzen des Prothesen-Schuhs. Woher also kam dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit, das auch der Grund war, warum ich mich als Vertreter der Schülerschaft bereit gefunden hatte, an der Beerdigung teilzunehmen? Heute weiß ich es. Es war die unbegründbare Ahnung, dass ich bald zu seiner Familie gehören würde. Doch auch er muss ähnlich empfunden haben. Er lieh mir Bücher aus, deren rauchiger Duft mir jetzt wieder in der Nase liegt, unter anderem einen schmalen Band mit eigenen Gedichten. Das spornte mich an, selbst zur Feder zu greifen, wie man so sagt. Heraus kamen jauchzend-betrübte Herzensergüsse, voll von oh und ach.
Doch zurück auf den Friedhof.
Auf der anderen Seite des Grabes also, mir gegenüber, steht eine junge Dame mit zwei großen, hellen Augen und kurzem leuchtendem Haar, das Gesicht voll verhaltener Trauer. Auch ich kämpfe mit den Tränen; nicht wegen des früh Verstorbenen, dessen unterrichtender Redeschwall mir nie behagte, sondern aus Ergriffenheit über die Worte des Geistlichen, einem Meister der Trauerrede. Ich hatte damals noch nicht Glück und Gelegenheit, das Wachsen und Erblühen eines weiblichen Körpers und die Veränderungen, die sich daraus ergeben, mitzuerleben, denn ich bin unter lauter Brüdern und Neffen aufgewachsen. Deshalb bleibt die junge Dame zunächst hinter dem Vorhang des Unbekannten verborgen (und ihr geht es, wie sich später herausstellte, auch nicht anders). Erst als sie zu mir herübersieht fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Es ist das Mädchen mit dem Hund. Und schon stellt es sich wieder ein, das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das Gefühl schicksalhafter Verbundenheit.
Jahre, Jahre später.
Mir gegenüber, an der Hochzeitstafel eines Studienfreundes, sitzt eine hübsche junge Frau mit zwei großen, hellen Augen und kurzem dichtem leuchtendem Haar. Wir blicken uns an, wir erkennen uns wieder – und schon springt der Funken über, der die aufgestaute Macht des Schicksals zur Explosion bringt.
Sechs Monate später sind wir ein Paar.

counter3xhab ich gern gelesen

Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

Einen Kommentar schreiben

geschrieben von ehemaliges Mitglied am 14.12.2022:

Viel fantasievoller und mit mehr Gefühl kann man diese Gedankenspiele über Tagtraum und Sehnsucht kaum beschreiben. Habe ich sehr gerne gelesen.*

Weitere Kurzgeschichten von diesem Autor:

Heriberts Fall und Verklärung
Kamingespräche 3
Eine Steinigung
Kamingespräche 2
Onkel Heriberts Auferstehung und vorläufiges Ende