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4xhab ich gern gelesen
geschrieben 2023 von Sprüngli (Sprüngli).
Veröffentlicht: 27.11.2023. Rubrik: Menschliches


Nebel

“Mutti, bist du schon wach?” Ute steckt ihren Kopf durch die Schlafzimmertür. Die Mutti liegt tatsächlich noch im Bett, aber hat das Gebiss drin.
“Na, du Schlafmütze.” Ute reißt das Fenster auf um den Geruch nach Schlaf und alter Frau zu vertreiben. Nicht nur das Gebiss ist schon im Mund, sondern die Mutti ist auch schon angezogen oder ist sie noch angezogen und das Gebiss noch drin.
“Nanu, was ist denn bei dir passiert? Du liegst ja angezogen im Bett.”
“Echt” die Mutti schaut genauso ungläubig auf ihren Körper wie Ute.
“Deswegen ist mir auch so warm.”
“Du hast auch die Heizung auf volle Pulle gestellt. Mensch Mutti, es ist doch erst Oktober. Was sollen wir denn erst im richtigen Winter machen?”
“Ach, es ist Oktober, dann habe ich ja bald Geburtstag.”
“Ja Mutti, nächsten Sonntag und da kommt auch Gerald und seine Familie.” Die Mutti lächelt, das tut sie immer, wenn sie von ihrem Sohn spricht. Zum Glück lächelt sie, denn der nächste Schritt ist immer der Schlimmste, besonders seit Ute sich beim Kirschenpflücken den Rücken angeknackst hat, aber vor ihrer Mutter weiterhin versucht die Starke zu mimen.
“Hau Ruck” sagt Ute, verzieht dabei noch schlimmer das Gesicht als die Mutter und doch sitzt sie. Wieder einmal! Auf die Beine kommt sie meistens noch alleine. Ute dreht sich derweil zum Kleiderschrank, sie will grad frische Kleidung raussuchen als ihr einfällt, dass die Mutter bereits angezogen ist.
“War Frau Schulze hier?” Ute späht in den Flur und sieht Fußstapfen und will gerade anfangen sich zu ärgern.
“Nein, ich glaub nicht.” Gut, wenn Frau Schulze noch nicht da war, konnte sie auch noch nicht geputzt haben. Aber würde ihr ähnlich sehen wieder die Spuren im Flur zu vergessen. Frau Schulze ist so faul und schafft nie Bad, Küche und Flur, obwohl sie jede Woche 20 € bekam.
Mit dem Stock humpelt die Mutter in die Küche. Ute ist schon längst da, hat den Wasserkocher angestellt.
“Was gab es gestern zu Essen?”
“Weiß ich nicht mehr, das schmeckt sowieso nicht und unfreundlich sind die auch.”
Ute sieht den Alubehälter von “Essen auf Rädern”, sieht nach Braten mit Bohnen und Kartoffelbrei aus und auch ziemlich leer. So schlecht kann es gar nicht geschmeckt haben.
“Wer hat es gebracht? Marco?”
“Nein, eine Frau, sie meinte, dass sie schon häufiger hier war, aber sie lügt. Ich habe sie noch nie gesehen.”
Tja, Marco macht immer einen besseren Eindruck, egal wie unfreundlich und gestresst er manchmal war. Über Marco freut sich die Mutti wie auf ein Rendez-Vous. Ein richtiger Mann, sagt sie immer. Obwohl Ute ihn mit seiner Glatze und der Plautze von jeder Bettkante gestoßen hätte. Aber Ute ist auch nicht Witwe seit 12 Jahren.
Ute gießt Teewasser auf, nur noch grünen Tee seitdem die Mutti so Probleme mit der Blase hatte. Apropos: “Mutti, musst du mal pullern?”
Ja, Mutti musste mal pullern, sie humpelt zum Bad. Ute atmet kurz durch und sieht die Krümel hinter der Spüle. Diese faule Frau Schulze.
“Ute, Ute!” ruft die Mutti aus dem Bad. Oh nein, was ist jetzt schon wieder?
Die Mutti sitzt auf der Kloschüssel und sagt: “Ich kann nicht pullern. Ich drücke, aber es kommt nichts.” Das ist neu, auch dass die Mutti sofort anfängt zu weinen. Ute kann gar nicht abschätzen, wie schlimm die Schmerzen sind. Sie streichelt den Kopf der Mutter und sagt “Ist doch nicht so schlimm, du kannst doch einfach noch ein bisschen auf dem Klo sitzen.” Immerhin das putzte Frau Schulze wirklich gründlich. Leider beruhigt sich die Mutti überhaupt nich. Fasst sich an den Unterbauch und heult fürchterlich. Für solche Fälle hat Ute die Nummer von Dr. Strobl in der Kurzwahl eingespeichert. Keine 20 Minuten später ist er da. Die Mutti hat sich auch ziemlich schnell beruhigt, nachdem klar war, dass Dr. Strobl gleich kommt. Der ist ein noch richtiger Mann in ihren Augen. Sie lag wieder im Bett. Der Arzt tastet den Unterleib der Mutter ab und meint, die Blase ist doch leer. “Waren Sie gerade erst auf der Toilette?” Er spricht sehr laut und sehr langsam. Ute nervt das, aber die Mutter wird bei männlichen Ärzten immer gleich zum kichernden Schulmädchen. "Das weiß ich nicht mehr.”
Dr. Strobl schickt Ute einen vielsagenden Blick, ja, sie merkt es ja auch immer deutlicher, geistig umnebelt. Zum Glück hat Dr.Strobl keinen langen Anfahrtsweg. “Ihre Tochter meinte Sie hätten geweint. Haben Sie Schmerzen?” - “Nein, nicht wenn Sie da sind. Wissen Sie, ich habe einen Sohn in Ihrem Alter.” Ute schmunzelt, okay, gleiches Alter aus Muttis Perspektive. Dr. Strobl ist wohl 15 Jahre jünger. “Ja, den Gerald kenne ich doch, wir haben doch ein gemeinsames Vorgespräch gehabt.” - “Echt.” Die Mutti schaut kurz irritiert und meint dann “Ach, ihr ward doch Sitznachbarn in der Schule.” Dr. Strobl nickt zustimmend und bittet Ute noch auf ein Wort nach draußen.
“Mit der Blase ist alles in Ordnung, ich denke, wenn sie weiter so engmaschig betreut wird, dann kann sie auch noch zu Hause bleiben.” Ute zwinkert ihre Tränen weg, denkt an ihren Rücken und nickt tapfer. Es ist ja ihre Mutter.
Das Telefon klingelt im Zimmer der Mutter. Es klingelt einige Male. Die Mutti hantiert umständlich an den Knöpfen und dann ertönt Geralds Stimme laut aus dem Telefon. “Na Mutti?”
“Ach Gerald, du bist es.”
“Wie geht es dir denn?” Zusätzlich spricht Gerald auch sehr langsam und laut ins Telefon, er ist im ganzen Haus gut zu hören.
“Wie soll es mir schon gehen. Ich bin alt und allein. Niemand kümmert sich um mich.”
“War Ute nicht da?”
“Pah, Ute hat mich schon seit Wochen nicht mehr besucht. Meinen Geburtstag hat sie auch vergessen.”
“Ach Mutti, der ist doch erst nächsten Sonntag und da kommen wir dich auch besuchen.”
“Ach so, es ist schon so neblig draußen, deswegen dachte ich, es ist schon November.”
Ute atmet einmal tief ein und aus, zählt bis drei, geht ins Nebenzimmer und sagt: “Tschüss Mutti, ich komme morgen wieder.”
Sie geht zur Mutti rüber, gibt ihr ein Küsschen auf die Wange und ruft laut: “Bis Sonntag Gerald.”
Und verlässt mit Dr. Strobl die Wohnung.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Christelle am 29.11.2023:
Kommentar gern gelesen.
Hallo Sprüngli, du schilderst eine Erfahrung, die viele mit ihren demenzkranken Angehörigen machen. So richtig aus dem Leben gegriffen. In diesem Fall kommt erschwerend hinzu, dass die Tochter ebenfalls gehandicapt ist.
Dein Bericht hat mir gut gefallen. Liebe Grüße C.




geschrieben von Marlies am 30.11.2023:
Kommentar gern gelesen.
Ich bin jetzt 71 und körperlich durch Krankheit auch gezeichnet. Meinen Töchtern habe ich verboten mich zu pflegen sollte es einmal notwendig werden. Ich war selbst in der ambulanten Pflege und habe häufig Töchter die ihre Mütter betreuten reden hören.Alle waren überfordert. Meine Töchter sollen sich an dem Leben dass ich ihnen geschenkt habe freuen .
Lieber sollen sie mich entspannt im Pflegeheim besuchen und dafür sorgen dass es mir dort so gut wie möglich ergeht.
Deine eindrucksvoll geschriebene Geschichte hat mich in meiner Meinung nur noch einmal bestätigt. Liebe Grüße Marlies

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