Veröffentlicht: 02.05.2025. Rubrik: Unsortiert
Sehnsuchtsort
In diesem Teil der Altstadt von Marseille, zwischen Gare Saint-Charles, Vieux-Port und der Kathedrale La Majore, steigen vertraute Erinnerungen an eine lang zurückliegende Zeit in ihm auf; er meint den Herzschlag dieser faszinierenden Metropole wieder zu spüren, nicht im Original früherer Zeiten, aber doch mit hohem Wiedererkennungswert, getragen von einer intensiven Welle empathischer Nostalgie. Es ist sein Viertel, das Quartier Panier, durch das ihn sein täglicher Spaziergang vom alten Hafen aus führt - durch einen nie endenden Strom aus Stimmen, Farben und Düften. Schon nach wenigen Tagen seines Aufenthalts fühlt er sich fast wieder wie damals, in diesem pulsierenden Dialog zwischen Alt und Neu, zwischen Meer und Stadt, an dieser Schnittstelle zwischen Europa und Maghreb; es ist seine letzte Station auf der Reise an früher besuchte Sehnsuchtsorte.
Und auf einem seiner morgendlichen Spaziergänge stockt dem alten Mann der Atem. Unweit des Markts, Coquillages du Vieux-Port de Marseille, sieht er drei Personen auf sich zukommen: ein Mann mittleren Alters mit seinem Sohn sowie eine ältere Frau. Der Mann hat eine frappierende Ähnlichkeit mit seinem ältesten Sohn, das Kind ähnelt seinem Enkel enorm, und in der Frau glaubt er, nach mehrfachem Hinsehen, Ähnlichkeiten zu seiner damaligen Freundin Denise, mit der er hier unvergleichlich schöne Tage und Nächte verbrachte, zu erkennen; beglückende Gefühle einer früheren Zeit werden wiederbelebt. Er ist aufgeregt, traut sich jedoch nicht, die drei anzusprechen, zu überraschend das Ganze, und letzten Endes wohl auch zu vage. So folgt er ihnen, bis sie auf einem nahen Parkplatz in ein Auto steigen; die Zulassung des roten Peugeots notiert er. Bei einer Recherche über ein Zentralregister der Kfz-Versicherer gibt er vor, das betreffende Fahrzeug geringfügig beschädigt zu haben und würde gerne die Fahrerin des Wagens kontaktieren. So erfährt er Namen des ihm nicht bekannten Halters, wohnhaft in einem Marseiller Vorort.
Nach zwei unruhigen Nächten ringt er sich durch, zu der ermittelten Adresse zu fahren, wo er das gesuchte Fahrzeug tatsächlich vor dem Haus parken sieht. Es kostet den alten Mann enorme Überwindung, an der dortigen Haustür zu klingeln. Und die Überraschung ist groß: Die Frau, die ihm öffnet, ist von der gleichen Erscheinung, wie diejenige vorher am Hafen, der Mann, der aus dem Korridor in Richtung Eingang kommt, sowie dessen Sohn, entsprechen genau der Erscheinung der von ihm Gesuchten – nur, ihre Gesichter haben überhaupt keine Ähnlichkeit mit diesen. Unbeholfen entschuldigt sich der Alte und begibt sich auf den Weg zurück in die Altstadt – Verwirrung auf seinen Gesichtszügen.
Zwei Tage später am alten Hafen. Auf seinem Gang über den Fischmarkt sieht er erneut diese drei, diesmal wieder mit den erwarteten Gesichtern. Er folgt ihnen nun direkt mit einem Taxi, und sieht die Familie an ihrem Ziel den Hauseingang ansteuern. Er steigt aus, geht ihnen nach, spricht sie an, und als sie sich zu ihm umdrehen, blickt er in ihm unbekannte Gesichter, ganz so, wie einige Tage zuvor an gleicher Stelle.
Wenige Tage danach in der Ankunftshalle des Hamburger Flughafens nach Landung einer Maschine aus Marseille. Ein älterer Fluggast wird vom Bodenpersonals zu seiner Familie geführt: Zu einem Mann mittleren Alters mit seinem Sohn, sowie der Kindesmutter, die alle drei aufgrund ihrer offensichtlich vertrauten Erscheinung nach einigem Zögern ein Lächeln des Erkennens auf die Züge des Alten zaubern – mit den Personen in Marseille stimmen lediglich die Körperformen annähernd überein.

