Veröffentlicht: 22.09.2025. Rubrik: Abenteuerliches
Kitty-Flip
Sonntagvormittag war für mich Samstagfrüh. Schlafen wollte ich nach der Ankunft in meinem Zimmer noch nicht. Ich hatte etwas vor. Die Ecstasy-Pillen hatte ich am Weg nach Hause in der Stadtbahn genommen. Als kurz nach dem ersten Espresso zu Hause die Wirkung einsetzte, war es Zeit für das Ketamin-Pulver im Schraubdöschen in der Schreibtischlade. Laut Broschüre der Drogenberatung der Stadtwerke war Emma plus Keta, dort trocken "Mischkonsum" genannt, mit wenig Risiko, jedoch nicht näher erklärten "Wechselwirkungen" verbunden. Die Wechselwirkung setzte nach einer Minute ein.
Plötzlich fand ich mich in einem Labyrinth aus Treppen und Zimmern, die nicht aus Rechtecken geformt waren, sondern aus unregelmäßigen Fünf- und Sechsecken. Zunächst hochinteressant, die für mich völlig neue Totalhalluzination. Alles sehr gepflegt und nagelneu. Ich schwebte an den Wänden hoch, bewunderte die Stukkaturen unter der Decke, soweit das Oben oder das Unten feststellbar war und bewegte mich voller Wonne - Stufen direkt vor der Nase - über die Holztreppen durch mehreren Zimmer, um sie näher zu betrachten.
Nach kurzer Zeit brach im Gebäude Unruhe aus und Lumpenproletarier, oder was die farblosen Gestalten darstellten, wurden immer mehr, um die Treppen hinunter zu eilen. Feueralarm oder so etwas. Die Kartoffelsack-Dressmänner mit grauen Gesichtern tummelten sich, waren jedoch nicht in Panik. Um nicht als Fremdling aufzufallen, schwamm ich einfach mit dem Strom unter ausgezehrten Diskont-Zombies. Ein paar Stockwerke weiter unten kam mir die eigene Seele fremdartig und überexponiert vor, was meinen letzten Seufzer und Verdacht auf Jenseits nahelegte.
Möglicherweise hatte mein neuartiger Aufenthaltsort nichts mit dem zu tun, was ich mir zuvor durch Mund und Nase einverleibt hatte - die Mittel waren bloß ein glücklicher Zufall - sondern mit dem gleichzeitig einsetzenden Weltuntergang. Glücklich war der Zufall mit den Mitteln, weil ich nie nüchtern hatte sterben wollen und gerade rechtzeitig für das Ende aller Tage gewappnet war.
Augenscheinlich handelte es sich beim Weltuntergang nicht um einen Asteroideneinschlag oder um einen Atomkrieg, sondern um eine paranormale Apokalypse aus einer Religion, von der ich noch nie gehört hatte. Für Reue war es jedenfalls zu spät. Falls die vielen losen, armen Seelen tatsächlich real und nicht auf die beiden Mittel zurückzuführen waren. Sehr mögbar kamen mir die anderen Teilnehmer am jüngsten Gericht jedenfalls nicht vor.
Die Widerlinge und ich versammelten uns in einer großen Halle mit riesigen Auslagenfenstern auf meiner linken Seite, durch die wunderbare Morgensonne hereinschien. Eigentlich kam der Weltuntergang ungelegen. Eigentlich wolte ich mehr vom hochinteressanten Labyrinth bewundern, möglichst allein. Außerdem erinnerte ich mich daran, dass ich in Weltuntergängen eine sehr schlechte Figur mache, wie überhaupt in gesetzlosen Situationen. Der jüngste Tag war mir ganz anders vermittelt worden als er sich darbot. Unabhängig von der Religion waren Aussichten auf Paradies oder Läuterung bei meinem Lebenswandel eher düster. Und das ewige Leben in Gesellschaft von Unsympathlern war nicht gerade eine Verheißung. Chefs oder andere Saufkumpane waren nirgends zu sehen.
Ich kenne einen Trick zum sofortigen Abbruch von Totalhalluzinationen oder Klarträumen, welche bei mir nie lange dauern. Bloß bis zu dem Moment, in dem mir der Gedanke kommt, die Bewohner der imaginären Welt sexuell zu missbrauchen. Der Gedanke tritt bei mir typischerweise innerhalb der ersten Minute ein und dann ist Schluss mit Vision oder Marienerscheinung. Richtig gehört: Marienerscheinung. Wegen meiner Manieren ist mir die heilige Jungfrau nur ein einziges Mal erschienen. Von mir hat sich die Mutter des Heilands nicht entjungfern lassen wollen. Wenigstens hat sie das gesagt, und es hat mich beleidigt. Bevor ich andere, Virgo-Intacta-konforme, Leibespforten vorgeschlagen habe, ist der Spuk vorbei gewesen und ich wieder im Wartezimmer der Vollstreckung des Finanzamts.
Falls der Trick nicht funktionierte, war wenigstens gesichert, dass mein Erlebnis mit der Wendung in den Weltuntergang tatsächlich in der allgemein anerkannten, mit allen Menschen geteilten, Realität stattfand und keine Totalhalluzination war.
Ich wandte mich an den nächstbesten Unsympathler, um ihn mit einem brutal unsittlichen Antrag zu überraschen. Der Unsympathler lachte mich mit Hinweis auf meine “Verwelktheit” aus. Abgeblitzt. Das beleidigte mich. Im nächsten Moment saß ich in meinem Zimmer am Sofa, allerdings in einer seltsamen Verfassung. Vom Zimmer waren Wände und Tür nur undeutlich zu erkennen. Klar erkennbar war ausschließlich der Ohrensessel vor dem dunkelbraunen Wandverbau, der sich wie im dichten Nebel abzeichnete. Durch die ungewohnt fernen Fenster auf meiner linken Seite kam wundervolle Morgensonne hereingeschienen. Rechts neben mir am Sofa erblickte ich die Tastatur. Klein und verzerrt wie durch ein verkehrtes Fernrohr. Ich nahm die Tastatur auf den Schoß. Die Tastatur war wie eine Gummimatte und bog sich links und rechts nach unten. Die Tastatur bestand vorwiegend aus den drei Lichtern für Block, Blättern und Ziffern. Das störte mich. Mein Sehsinn oder meine Finger oder beides waren dermaßen fehlgeleitet, dass es mir nicht gelang, die blöden Lichter auszuschalten.
Im Sitzen beugte ich mich vor, um etwas vom Bildschirm zu sehen und ein Infonet-Video zu suchen. Vielleicht japanische Mädchen in Computerspielfigurkostümen? Wie würden japanische Mädchen in Computerspielfigurkostümen auf mich wirken in der aktuellen Befindlichkeit? Rasch wurde klar: Mit der Aufgabe war ich überfordert. Ich verstand nicht einmal, was der Video-Katalog anzeigte oder wo die Knöpfe und Hyperlinks zu klicken waren. Porno versuchte ich erst gar nicht.
Dann war ich entsetzt über den Anblick meiner nackten Beine. Sie wirkten alt, spröde, mumifiziert und viel zu dünn. "Hallo Ötzi", murmelte ich und streichelte mich nicht lange, denn die Schenkel fassten sich an wie sie aussahen. Kein Wunder, dass sich mir der angequatschte Unsympathler verweigert hatte. In der aktuellen Anmutung hätte ich mich auch nicht ausreichend begehrt. Zum Glück waren keine Aromata in den Trugbildern.
Und nun? Ich traute mich nicht, mein Zimmer zu verlassen. Ich traute mich nicht einmal, aufzustehen, da sich mein Blutdruck anfühlte wie weit unter 100. Die Gefahr war groß, im Vorzimmer der Wohngemeinschaft auf Mitbewohnis zu treffen. Womöglich würde jemand einen Ambulanzwagen rufen. Und Sonntag ist der Tag, an dem der Vermieter gerne zu Besuch kommt und gärtnert. Spätestens, wenn er mich anreden würde, wäre meine Räumung aus dem Zimmer unausweichlich. Meinen Blutdruckmesser erfolgreich hervorzukramen, hielt ich für Fantasterei. So weit so fad.
Die Frage blieb: Was nun? Meine Einrichtung anstarren, die ich nicht einmal richtig sehen konnte? Mit meinen mumifizierten Zehen spielen? Nicht nur meine Beine fassten sich an wie Teile von Ötzi. Auf anregende Gedankenexperimente konnte ich mich nicht ausreichend konzentrieren. Außerdem war ich nach Samstagnacht mehr oder weniger vollständig gemolken. Ecstasy plus Ketamin unterhielt mich überhaupt nicht sehr gut. Ich fühlte mich müde, verbraucht und überfordert. Seit Freitagfrüh war ich auf den Beinen gewesen, bloß sporadisch auf allen Vieren im Rauchsalon des Orgienlokals für meine Lieblingskerle. Müde, verbraucht und überfordert?
Das war die Lösung. Einfach schlafen. Gleich am Sofa. Ich rollte mich im Liegen in die Embryohaltung. So wie in der Firma unter dem Schreibtisch, wenn mir die Mucken in meinen Computerprogrammen über den Kopf wachsen und nicht einmal weiteres Kiffen gegen die Überforderung ankommt. Unter dem Schreibtisch gehört zur professionellen Nervennahrung auch Daumenlutschen. Das wagte ich jedoch nicht, weil ich mich vor Ötzis Spinnweben- oder Aasgeschmack fürchtete. Es hat alles seine Grenzen.
Ich war sofort weg. Zur Zeit der Abfassung gibt es keine Erinnerung an Träume im Verlegenheitsschlaf. Heute ist Montag und es geht mir gut. Leider ist nichts mehr da von Pillen oder Pulver.
:wq

