Veröffentlicht: 03.10.2025. Rubrik: Menschliches
Was macht uns Menschen menschlich?
Vorwort
„Der Mensch ist das grausamste Tier.“
– Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral
Zwischen Mitgefühl und Grausamkeit, zwischen Vernunft und Instinkt, stehen wir Menschen auf einer schmalen Grenze. Diese beiden Geschichten – eine hoffnungsvolle und eine radikale, düstere – wollen zeigen, wie nah wir dem Tierischen sind und wie schwer es ist, das Menschliche in uns zu bewahren.
Teil I – Die helle Geschichte
Es war ein gewöhnlicher Tag in der Stadt. Menschen eilten, kauften Brot, sprachen hastig in Telefone. Doch wenn man genauer hinsah, zeigten sich kleine Szenen, die das Wesen des Menschseins offenbarten.
Ein alter Mann saß auf einer Bank und fütterte Tauben. Neben ihm ein Junge, der Steine nach den Vögeln warf.
„Warum tust du das?“ fragte der Mann.
„Weil ich es kann“, sagte der Junge.
Am anderen Ende des Platzes schrie ein Autofahrer eine junge Mutter an. Zwei Menschen gerieten in Streit wegen einer Berührung im Gedränge. Und gleichzeitig half ein Fremder einer alten Frau, ihre verstreuten Einkäufe wieder einzusammeln.
Alles geschah gleichzeitig. Liebe und Hass, Zärtlichkeit und Rohheit, in ein und derselben Minute.
Der Beobachter, unsichtbar am Rande, dachte:
„Der Mensch ist das einzige Wesen, das beides tragen kann. Tierisches und Menschliches. Was uns unterscheidet, ist nicht das, was wir fühlen – sondern das, was wir wählen.“
Der alte Mann legte dem Jungen ein Stück Brot in die Hand.
„Probier es so“, sagte er.
Zögernd hielt der Junge dem Vogel die Hand hin. Als die Taube pickte, leuchteten seine Augen – nicht aus Macht, sondern aus Staunen.
Vielleicht liegt genau darin die Antwort:
Menschlich zu sein bedeutet, das Staunen zu bewahren – trotz allem.
Teil II – Die düstere Geschichte
Die Stadt roch nach Angst. Menschen schoben sich durch die Straßen wie Tiere auf der Jagd. Jeder Schritt war ein Kampf um Raum, jeder Blick ein stiller Angriff.
Es war nicht Hunger, der sie trieb. Es war ein unersättliches Loch in ihnen, das sie mit Geld, Status, Ablenkung füllen wollten. Doch je mehr sie verschlangen, desto leerer wurden sie.
So vergaßen sie, dass sie Menschen waren. Sie fletschten unsichtbare Zähne, bissen mit Worten, kratzten mit Urteilen.
Sie jagten einander durch Zahlen, Bilder, Likes auf Bildschirmen.
Manchmal sah man sie erschöpft zusammenbrechen – in Büros, auf Straßen, in Wohnzimmern.
Niemand hob sie auf. Denn jeder war selbst auf der Jagd.
Wer lange genug so lebt, vergisst, dass er je ein Mensch war.
Und eines Tages, wenn man durch die Ruinen solcher Städte geht, wird man vielleicht nur noch Kratzspuren finden, Zähne im Staub, und ein Echo, das flüstert:
„Hier wohnten einst Menschen. Sie hätten alles sein können.
Aber sie entschieden sich, nichts zu sein.“
Nachwort
Nietzsche nannte den Menschen „das grausamste Tier“.
Doch er sah auch die Möglichkeit, sich zu überwinden – zum „Übermenschen“, nicht als Herrscher über andere, sondern als Herr über sich selbst.
Menschlich werden wir nicht durch unsere Instinkte, sondern durch unsere Entscheidungen.
Wenn wir zuhören, wo wir sonst urteilen würden.
Wenn wir innehalten, wo wir sonst zuschlagen würden.
Wenn wir trotz allem noch staunen können.
Vielleicht ist das die Antwort:
Menschsein beginnt dort, wo wir uns weigern, das grausamste Tier zu bleiben.

