geschrieben 2025 von Stevie Tagwerker (Stevie Tagwerker).
Veröffentlicht: 23.10.2025. Rubrik: Lustiges
Finnische Heavy-Metal-Bands, zwei Gründe Lehrer zu werden und das Jagdkommando
Ich fahre mit meinem Marea auf den Parkplatz des Supermarktes, um Lebensmittel für den Kochunterricht einzukaufen. Mal wieder. Die Sonne steht flach zwischen Patscherkofel und Serles, wandert aber jeden Tag gemächlich höher. Ende Jänner ist der Winter zwar noch lange nicht vorbei, man hat aber die Gewissheit, dass es nur noch ein paar Wochen dauern dürfte, bis zum ersten Mal der Frühling in der Luft liegen würde. Irgendwie hatte ich mir das zu Beginn meines Studiums, als ich mich für das Nebenfach Ernährung und Haushalt entschied, anders vorgestellt. Ich muss einfach mal anmerken, dass das alles recht viel Arbeit ist. Mengen ausrechnen, auch wenn dies eher Pi mal Daumen geschieht, das hat man ohnehin nicht in der Hand, ob die Mengen nun passen oder nicht. Man ziehe nur mal Menü 1 exemplarisch heran, Spaghetti mit Sugo. Man rechnet damit, dass ein Jugendlicher, voll im Wachstum stehend, etwa 250 Gramm Nudeln bei einer solchen Mahlzeit verdrückt. Als ich vor einigen Wochen das Menü in der Musikmittelschule im Olympischen Dorf, wo ich zusätzlich zum Polytechnikum unterrichte, mit zehn Kids zubereitet hatte, war das viel zu wenig. Die haben nicht nur die Nudeln, sondern auch beide Töpfe mit den Sugos, Fleisch wie Gemüse, komplett weggeputzt. Ebenso den Pudding. Sogar in der Salatschüssel schwamm kein einziges Blatt, kein einziges Stück Tomate mehr in der Marinade, ein paar kleine Zwiebelwürfelchen, durch die Gabelzinken gerutscht, wurden gleichgültig dem Tod durch Ertrinken überantwortet. Eine Woche später, dieselbe Menge an Kids, dieselbe Menge Nudeln. Gut die Hälfte blieb übrig. Das Soja-Gemüse-Sugo wurde de facto nicht angerührt, das Sugo Bolognaise mehr oder weniger ohne Nudeln gegessen. Die Nachspeise haben die runtergehauen, als hätten sie drei Tage lang nichts zu futtern gehabt, im Gegensatz zum Salat. Bloß keine Vitamine! Fleisch und Zucker, danach wurde gegiert, der Rest negiert. Ich war etwas ratlos. Lag vielleicht daran, dass der Großteil der Gruppe, wie mir die Klassenpetze später anvertraute, vor dem Unterricht beim Dönerstand um die Ecke gewesen war. Und danach stand ich in der Küche, hatte eineinhalb Kilo Nudeln übrig und keine Ahnung, was ich damit machen sollte. Mit nach Hause nehmen die Kids irgendwie prinzipiell nichts, das war bei uns damals anders. Das ist das eine. Das andere, die restliche Drumherumarbeit um den Kochunterricht, das sieht ja keiner. Das Listen schreiben, das Einkaufen fahren, die schweren Tüten vom Auto bis ganz nach hinten in die Küche schleppen, das Einlagern, das Vorabherrichten, das Ausmessen und Auswiegen der Zutaten, die ganze Abrechnerei und nicht zuletzt das Inschusshalten der Schulküche, das ist ziemlich viel Arbeit. Und jegliche Arbeit in der Küche muss sich innerhalb der Sicherheits- und Hygienevorschriften der Landessanitätsdirektion abspielen. Da wird ein Riesen Tamtam veranstaltet, damit sich ja keiner irgendwelche Salmonellen oder sonst was holt, das kann sich ja keiner vorstellen. Es ist sogar ein eigener Eiaufschlagplatz notwendig. Zugegeben, die Schulküche im Olympischen Dorf muss nicht ich in Schuss halten, da gibt es ja noch andere Ernährungslehrer an der Schule, die keine Aushilfslehrer sind und sich darum kümmern. Und am Schuljahresende dann noch Grundreinigung und Inventieren. Das kostet alles wahnsinnig viel Zeit. Das sieht dann schon lässig aus, wenn der Herr Lehrer mit seinem Halbtagsjob bereits um zwei im Supermarkt an der Kasse steht und seine Einkäufe erledigt, bevor er dann nach Hause fährt, um zu chillen. Die Realität sieht etwas anders aus.

Damals, als ich mich für diesen Beruf entschieden hatte, hatte ich bereits dreißig Sommer und Winter kommen und gehen sehen. Ich hatte weder das notwendige Studium, noch nicht einmal Matura, die wiederum notwendig war, um überhaupt studieren zu dürfen. Seit dem Abschluss der Handelsschule hatte ich viele Jobs, die meisten darunter empfand ich als nichts anderes als Prostitution zwecks Existenzsicherung. Ich beneidete jene Leute in meinem Umfeld, denen ihr Beruf Spaß machte. Noch mehr die, die ihren Beruf als Berufung sahen. Und noch mehr die paar wenigen, die ganz offensichtlich genau da waren, wo sie hingehörten. Das wollte ich auch. Eine sinnstiftende Berufung. Und da ich schon seit jeher einen Draht zu jungen Menschen hatte, lag die Entscheidung nahe. Und die Tatsache, dass man Sommerferien hätte, war auch nicht zu verachten. Und nach fünf kurzen Jahren war es soweit. Matura, na ja, nicht ganz, Berufsreifeprüfung berufsbegleitend nachgeholt, eine B-Matura, geht ja alles heutzutage, zweiter, dritter, vierter Bildungsweg, etwas Biss, Disziplin und Konsequenz vorausgesetzt. Das Studium an der Pädagogischen Hochschule, Hauptfach Deutsch, lässt sich am besten mit einem Gedanken beschreiben, den ich kurz nach Antritt des Lehrerberufes an der Polytechnischen Schule hatte.
Die zweite Schulwoche war gerade gelaufen, ein wunderschöner Freitagmittag mitten im Altweibersommer. Die Schüler waren schon dabei, dem maroden und denkmalgeschützten Bunker in jugendlicher Wochenendeuphorie zu entfliehen. Ich hingegen saß noch am Pult, erschöpft, aber glücklich und trug irgendwelche Symbole, hier einige Plus, da einige Minus und großteils Wellen in irgendwelche Listen. Ich blickte mich im stickigen Klassenzimmer um, nur das Fenster neben mir am Pult stand offen. Die Zirkulation hielt sich schwer in Grenzen. Zum einen war es windstill, zum anderen waren die anderen Fenster alle zugespaxt, feuerpolizeiliche Anordnung, da vor einem Jahr während des Unterrichts die Angeln eines Fensters entschieden hatten, in den Ruhestand zu gehen. Und dabei hatten sie ihre Last nach Jahrzehnten einfach ins Klassenzimmer fallen lassen. Wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt. Die Schule wurde daraufhin auf Geheiß des Direktors sofort evakuiert. Sogar der Herr Seelos war dabei behilflich, und das will dann schon was heißen, wenn sich der faulste Schulwart Innsbrucks mal um etwas anderes kümmert als um sein Aquarium. Noch am selben Tag: Expertenauflauf. Eine handverlesene Auswahl aus Verantwortlichen der Feuerwehr, der Polizei und des Magistrats entschieden, dass ein weiterer sicherer Schulbetrieb nur gewährleistet werden könnte, wenn sämtliche Fenster im Gebäude mehrfach in die Rahmen geschraubt würden. Das dauerte dann einige Tage, bis es soweit war, so schnell ging das nicht, das Gebäude steht ja immerhin unter Denkmalschutz, weil es die einzige Schule Österreichs ist, die quadratische Klassenzimmer mit einem Maß von zehn mal zehn Metern hat. Und lediglich die Fenster an den Pulten wurden so instandgesetzt, dass man mit ihnen das tun konnte, was man eben mit Fenstern so macht, und das auch noch halbwegs sicher. Und eines im Konferenzzimmer.
Meine Blicke wanderten durch die Stickigkeit des Klassenzimmers, der Treibhauseffekt im Raum trieb diese nach oben in Richtung Decke. Ich meinte, Kondensat von Testosteron und Östrogen ausmachen zu können, das flüssiggewordene Resultat aus unkontrolliert wuchernder Hormonproduktion Halbwüchsiger. Was die so alles absondern innerhalb fünf aufeinanderfolgender Tage, das vermag man sich gar nicht so richtig vorzustellen. Ich ließ die ersten zwei Wochen meiner Berufung Revue passieren, dachte an das Studium an der Pädagogischen Hochschule und sinnierte über den Realitätsbezug der Seminare und Vorlesungen der letzten drei Jahre. Die Dozenten, einige wenige brillant, die Mehrzahl aber pragmatisiert geparkt und abgestellt, nicht mehr tragbar im Schulalltag. Die überforderte Vizerektorin, ein paar wenige Studienkollegen, die zu Freunden und für einige Zeit sogar zur Familie wurden. Andere Studenten, die mir egal waren, sind und bleiben werden. Portfolios. Seminararbeiten. Präsentationen. Bachelorarbeit. Wie ich mich selbst verschacherte, Nachhilfe gab, weit unter meinem Wert, für ein paar Euronen zusätzlich, um über die Runden zu kommen. Die Gedanken hangelten sich der Decke entlang mühsam weiter. Auf dem Weg dorthin stellten sich ihnen Fragen. In den Weg. War es das jetzt? Polytechnische Schule Innsbruck bis zur Pensionierung in was, 30, viel eher 35 Jahren? Bin ich auf dem richtigen Weg? Welche Art von Lehrer will ich denn sein? Und noch werden? Bin ich der Verantwortung gegenüber den Kids gewachsen? Werde ich die Berufung auch in zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren noch als solche sehen? Oder ende ich womöglich wie manch altgediente Kollegen, unfreundlich, mürrisch, frustriert, vom System durchgekaut und ausgespuckt? Unmöglich, das zu beantworten. Die Zukunft würde es zeigen. Den Fragen gut ausgewichen und zur Seite gedrängt wanderten meine Gedanken an der Decke und auf der Zeitleiste weiter nach hinten. Die Abendschule. Das Lkw-Fahren. Lüftungsrohre wickeln. Vertrieb. Buchhaltung. Boden wischen. Gleich einem flachen Stein, den man über das Wasser springen lässt, hüpften sie von einem Job zum anderen, gut fünfzehn Mal, bevor sie an der hinteren Wand des Klassenzimmers an einem Tag im November, fast zwei Dekaden zuvor, kleben blieben.
Zweiter Tag in der Stellungskommission in der altehrwürdigen Konradkaserne in Innsbruck. „Tauglich“, sprach ein Offizier, ein Vizeleutnant, akkurate Haltung, Brust raus- und Wirbelsäule durchgedrückt, das Urteil. „Aufgrund ihrer Einzelergebnisse in den verschiedenen Disziplinen empfehle ich Ihnen ausdrücklich das Jagdkommando in Wiener Neustadt, junger Mann!“ Panik überkam mich. Ich sah mich aus dem Heck einer C-130 Hercules springen, ein Überlebensmesser zwischen den Zähnen, head down durch ein Gewitter fliegend, um dann auf dem Boden jemanden lautlos zu töten. Aber was, wenn dabei meine Fallschirme versagten? Dem Offizier schlief dann leicht das Gesicht ein, als ich ihm selbstbewusst sagte, dass ich Zivildienst leisten würde. Ich sah in seinen Augen den Vorwurf der Feigheit und den Verrat am Vaterland.
Über das hinterste Fenster im Klassenraum setzten meine Gedanken ihre Reise fort, sie hatten Kehrt gemacht und waren schön langsam auf dem Rückweg. Die beiden Hauptgründe, aus denen man, schenkt man dem Volksmund Glauben, Lehrer wird, nämlich Juli und August, waren noch weit weg. Doch schon nach zwei Wochen im Schuldienst wusste ich: sollte man den Beruf wegen der Ferien ergreifen, man würde binnen vier, vielleicht fünf Jahren zugrunde gehen oder Alkoholiker werden und irgendwann am Alkohol zugrunde gehen. Die Gedanken schwollen ähnlich einer langsam, aber sicher an einem Riff brechenden Welle an. Schaumkronen bildeten sich, um mir eine Erkenntnis zuzuspülen, mit der ich drei Jahre Studium auf einen Punkt herunterbrechen konnte. Es klopfte an der offenstehenden Tür. Geschockt und irritiert flohen meine Gedanken in Windeseile über die zugespaxten Fenster zurück in meinen Kopf, in jenen entlegenen Winkel, in dem die Erinnerungen wohnen, die man manchmal, nur ab und zu mal, aber doch, wieder hervorholt. „Ja du noch hier?“, fragte der Direktor überrascht. „Nein, ich bin gerade in der Waschanlage, meine Karre runterwaschen“, hätte ich sagen sollen.
„Ja, ich hab noch einiges zu tun“, sagte ich stattdessen. Es gäbe keine dummen Fragen, hatte ich einem Schüler erst vor wenigen Stunden erklärt. Eine Lüge.
„Glaub mir, das kann gar nicht so wichtig sein“, erteilte mir der Schulleiter einen etwas väterlichen Rat. „Fahr nach Hause, und genieß das Wochenende.“ Dann verschwand er aus dem Türrahmen, an den sich die Nachmittagssonne lehnte. Während ich mein Zeug zusammenpackte, schwappte noch die Welle der Erkenntnis über mich. Jetzt habe ich drei Jahre lang an der Pädagogischen Hochschule studiert, und abgesehen von den summa summarum sieben Wochen Praxiszeit an verschiedenen Mittelschulen habe ich nichts, wirklich nichts gelernt, das ich jetzt im Beruf umsetzen könnte. Auf dem Weg nach draußen, vorbei am Aquarium, gingen mir wieder Fragen durch den Kopf.
Würde ich mich heute wieder so entscheiden? Zivildienst im Obdachlosenheim? Und dann all das kommen lassen, was eben so daherkam? Oder mich vielleicht doch zum Töten ausbilden lassen, mich von Helikoptern abseilen, in einer Spezialeinheit extrahieren, verdeckt operieren, aufklären? Dagegen erscheint meine Realität etwas einfacher, fast schon rural. Für mich geht es jetzt in erster Linie mal darum, das Handwerk des Unterrichtens zu erlernen. Und damit würde ich noch genug zu tun haben. Und bis zu den zwei Gründen, aus denen man Lehrer wird, würde noch viel Wasser den Inn runterfließen. Sehr viel Wasser.
Jetzt gerade rolle ich im Standgas über den schneegeräumten Parkplatz des Supermarkts. Immer etwas weiter weg vom Eingang, da gibt es dieses Parkplatzgedränge nur vor einem langen Wochenende oder den Weihnachtsfeiertagen. Wenn man das Gefühl hat, dass die Geschäfte die nächsten zehn Tage geschlossen haben müssen oder alle auf einmal Hamsterkäufe tätigen würden. Bloß keinen Meter zu viel zu Fuß zurücklegen. Lieber eng an eng parken, sich aus dem und dann wieder zurück ins Auto quetschen. Mit Ein- und Ausparken Wartezeiten ob des dichten Verkehrs und hektisch hin- und herlaufender Leute in Kauf nehmen, die Einkaufswägen vor sich herschiebend und nicht nach links und rechts blickend umherwuseln. Da ziehe ich es doch vor, mein Auto einige Meter weiter weg abzustellen und die paar Schritte mehr zu machen. Einmal, vor, keine Ahnung, sechs oder sieben Jahren hatte mich das aber was gekostet. Als ich nämlich den Einkaufswagen zu meinem weiter entfernt geparkten Auto schob, sprach mich ein junger Typ, so Anfang Zwanzig, auf Englisch, skandinavisch akzentuiert, an. Ob ich Heavy-Metal-Fan wäre, fragte er mich. "Sure", antwortete ich. Meine Metalphase lag schon etwas weiter zurück. Etwas viel weiter. Bei genauerer Betrachtung darf ich aber mit Fug und Recht behaupten, die Antwort war nicht gelogen, lediglich zeitverzögert ehrlich. Damals hatte ich leidenschaftlich Iron Maiden, Megadeath und manchmal auch Slayer gehört, Hauptsache Lärm. Metallica hatte ich nie gemocht. Im Laufe der Jahre wurde ich offener für andere Musikrichtungen, ließ Pop, Rap, Deutschen Indierock, kurz mal auch Schlager, dann Oldies und was weiß ich noch alles in mein Leben. Heute mag ich es eher ruhig und minimalistisch. Ein langes Fadeout für Heavy Metal. Zwischendurch darf es aber durchaus noch richtig was auf die Ohren geben. Irgendwie fand ich es fast schon schmeichelnd, dass der junge Mann in dieser voll authentischen Rockerkluft davon ausgegangen war, ich würde harten Gitarrenriffs und wuchtigen Beats anhängen. Weil ich eben doch cool aussehe. Ein bisschen normal vielleicht, aber tief im Herzen, da rock'n'rollts, das sieht man schon von weitem. Eine finnische Metalband wären sie, er und seine Leute, auf Tournee durch Europa, unbekannt, aber daran würden sie arbeiten, meinte er. Und sie würden es ordentlich krachen lassen, auf der Bühne und im Aufnahmestudio, beteuerte er. "Nice", sagte ich. Irgendwie fand ich das echt abgefahren. Junge Leute, touren durch Europa, Gigs auf kleinen Independentbühnen, leben das Leben von Rockmusikern, ohne großartig bekannt zu sein. Ob ich ihm eine CD abkaufen wollen würde, fragte er mich. "Sure, why not?", antwortete ich. "How much is it?", wollte ich wissen. Ten Euros würde sie kosten, sagte er selbstbewusst. Ich zückte einen Zehner aus meiner Gesäßtasche, er überreichte mir dafür eine richtig kunstvoll designte CD-Hülle, fantasievoll und düster, wie man das eben von Metalbands so kennt. Ich überlegte kurz, ob ich gleich checken sollte, ob auch ja eine CD drin ist, bei diesen jungen Rockern weiß man ja nie. „Das wäre jetzt schon sehr beleidigend und respektlos. Und vorverurteilend obendrein", meldete sich eine innere Stimme mit erhobenem Zeigefinger. Nachdem sich der Musiker bei mir bedankt hatte, wünschte ich ihm mit einer lässigen Geste und den Worten „Rock on!“ noch alles Gute. Ich stieg in meine Karre und warf den Motor an. Der CD-Player lechzte geradezu nach etwas harter Musik, am besten richtig laut. Als ich die Disk aus der Hülle gefingert hatte, fand sie wie selbstverständlich ihren Weg in den Schlitz. Ich fuhr los, zog mir in normaler Lautstärke, bloß nicht zu laut, bitte, etwas finnischen Metal rein und traf nach wenigen Minuten eine Entscheidung. Die Toten Hosen? Immer wieder mal. Bon Jovi? Guns’n’Roses? Oldies but Goldies. Iron Maiden? Die Könige unter den Gitarrewürgern. Apocalyptica? Auf jeden Fall. Aber dieses ganz harte Zeug, nein, das war's, ein für alle Mal.
Und jetzt visiere ich gerade an diesem kalten Jännernachmittag einem vom Eingang etwas weiter entfernten Parkplatz an. Ich parke, steige aus, drei Stofftüten in der Hand, ein 50-Cent-Stück in der Hosentasche, und schlendere Richtung Einkaufswagensammelplatz. Eine junge Frau, nein, das wäre zu viel gesagt, ein Mädchen, schwarze Haare, schwarze Schminke, schwarze Kleidung, dafür blasse Haut, dieser Emo-Style eben, spricht gerade mit einem Typen in meinem Alter. Sie schaut mich an, wirft mir in meinem Vorbeigehen ein "Wow, nice beard", skandinavisch akzentuiert, zu. Ich lächle kurz und gehe etwas schnelleren Schrittes weiter. Diesmal nicht, denke ich mir. Als ich den Supermarkt dann wieder verlasse, gehe ich kurz sicher, dass ich nicht abgepasst werde. Sie ist nicht zu sehen, ich eile Richtung Auto und da kommt sie auch schon daher gerannt, vom anderen Ende des Parkplatzes, wo sie offensichtlich gerade einem anderen Typen eine CD verkauft hat. Ich sollte auch rennen, macht aber irgendwie einen blöden Eindruck. Hätte ich näher am Eingang geparkt, wäre ich schon weg, aber so ... Aber halt mal, ich bin ein freier Mensch, mit einem freien Willen geboren, frei wie ein Steinadler über dem Halltal. Ich werde ihr einfach sagen, dass ich kein Heavy Metal mag, andere Musikrichtungen bevorzuge, zu alt bin für harte Musik und zu lärmempfindlich seit ich unterrichte obendrein. Nichts davon ist eine Lüge. Vielleicht geht es sich aber auch aus, dass ich weg bin, bevor sie sich vor mein Auto wirft. Eilig öffne ich den Kofferraum, stelle die Tüten unsanft zwischen die anderen Sachen, die man eben so im Wagenheck rumstehen hat, schließe die Heckklappe und haste zur Fahrertür. Den Einkaufswagen lasse ich neben meinem Auto stehen, die fünfzig Cent im Pfandschloss sehe ich als Investment, dafür würde ich mich in kein Verkaufsgespräch verwickeln lassen. Und ich muss dann keine zehn Euro für eine CD bezahlen, die ich gar nicht will. Nach dem Motto Sparen gleich Verdienen kann ich also mit dem stehengelassenen Einkaufswagen Neun Euro und fünfzig Cent verdienen. Schnell steige ich ein, drehe den Schlüssel rum. Vorglühen. Starten. Dann rutscht plötzlich etwas über meine Motorhaube. Es klopft an der Scheibe. Ich lasse das Fenster runter, während der Dieselmotor grummelt. Vielleicht irritiert es sie ja, wenn der Motor läuft. Aber nichts dergleichen. Ob ich Heavy-Metal-Fan sei, will sie wissen. "No, sorry. I just don't like Metal. I prefer Rap, Eminem, Snoop Dogg. I am too old for hard music. And since I work as a teacher, I am too sensitive for any loud noise anyway", hätte ich sagen sollen. "Sure", sage ich. Eine finnische Metalband seien sie, sie und ihre Leute, auf Tournee durch Europa, unbekannt, aber daran würden sie arbeiten, meint sie. Und sie würden es ordentlich krachen lassen, auf der Bühne und im Aufnahmestudio, beteuert sie. Haben diese finnischen Metalbands vielleicht einen Gesprächsleitfaden, mehr noch, eine Zielgruppe? Männer zwischen Anfang Dreißig und Ende Vierzig? Mit dem sie eine etwaige potenzielle mentale Krise ausnutzen? Bei dieser Klientel die Sehnsucht nach einem nicht gelebten Leben hervorrufen? Als Musiker, jung, frei und wild durch die Lande ziehen, Konzerte spielen, sich genussvoll Sex, Drugs and Rock'n'Roll hingeben, ekstatische Stagedives, gottgleiche Gitarrensoli, kein fester Wohnsitz, kein ordentlicher Beruf, keine Familie, keine Verpflichtungen, ja, keine gesicherte Existenz mit Überstunden, nichts dergleichen, einfach von Tag zu Tag in eben jenen hineinleben, ein Leben in der Gegenwart, keine Vorstellung von morgen, frei nach dem Motto Es gibt nur heute.
"Oh, well, see, I think that I am not so into that stuff", hätte ich sagen sollen. "Nice", sage ich zu ihr. Ob ich ihr eine CD abkaufen wolle, fragt sie mich. "I would love to do that, but unfortunately I do not have any cash here right now", hätte ich sagen sollen. "Sure, why not", antworte ich. Sie habe zwei Alben ihrer Band zur Auswahl, so ihr Angebot. Eines mit so richtig hartem Metal, das andere noch härter. Ein Album koste zehn Euro. "Oh, okay, I think I will take the one that is less hard", sage ich. Sie reicht mir eine CD, das Cover kunstvoll wie düster designt. Mangels eines Zehn-Euro-Scheins reiche ich ihr einen Zwanziger. Das tue ihr jetzt leid, sie habe kein Wechselgeld. "Oh, I am sorry for that, so we can not make the deal", hätte ich sagen sollen. "Hm, so now?", frage ich sie. Sie meint, ich könne doch beide Alben kaufen, zwei CDs für zwanzig Euro. "Hm, see, I think that I don't need two albums. And twenty euros seems a little bit too much money for me", hätte ich sagen sollen. "Yeah, sounds good to me", gehe ich auf ihren Vorschlag ein. Sie gibt mir noch eine andere CD, das Motiv auf der Hülle noch etwas düsterer als auf der ersten. Ich bedanke mich bei ihr, sie sich bei mir, und ich verlasse den Parkplatz.
Nun ja, zumindest habe ich junge Menschen in ihrem Vorhaben unterstützt, und das ist es ja wohl, was gute Lehrer unter anderem ausmacht, rechtfertige ich den Handel vor mir selbst. Noch fünf Monate bis zu den Ferien. Kein Jagdkommando weit und breit. Die CDs werde ich der Kollegin Steinacher schenken, die steht auf Metal. Passt schon.
(von Stevie Tagwerker)
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