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6xhab ich gern gelesen
geschrieben 2022 von Pizzakurier.
Veröffentlicht: 23.12.2022. Rubrik: Nachdenkliches


Es Fremdelt: Josh

Im Gemeindesaal herrscht eine aufgeheizte Stimmung vor. Vorne auf dem Podium steht Gemeindepräsident Sepp Emmenegger und informiert über die geplante Asylunterkunft. In stoischem Ton liest er von seinen Blättern ab begleitet von einer lieblosen Power-Point-Präsentation, die auf die Leinwand hinter ihm projiziert wird. Schwarze, nackte Zahlen, bunte Balken und Kuchendiagramme, Listen mit Stichworten wie: «Maximalbelegung», «Bewegungsradius», «Rayonverbot», «Gesuchsprüfungsverfahren» oder «Schutzstatus». Die Zwischenrufe aus dem Publikum ignoriert Emmenegger weitestgehend.

Der 15-jährige Josh Gwerder sitzt am Rand rechts im vorderen Drittel des Saals und verfolgt die Präsentation ebenso wie das Verhalten der Leute im Saal aufmerksam. In der Gesäßtasche seiner Jeans steckt zusammengefaltet die Rede, welche er erst vor wenigen Stunden in Sam’s Beisein eingeübt hat. «Das war stark», lobte sie nach dem dritten Durchgang, «You got it, man.»

Weiter vorne, in der dritten Reihe sitzt Joshs Vater auf der gegenüberliegenden Saalseite. Um ihn herum hat sich der gesamte Braune Mob von Mehsbrücken versammelt, als dessen Wortführer er hier zugegen ist.
Einer seiner Gefolgsleute, Josef Inderbitzin, der Dorfmetzger, macht schon seit Beginn der Veranstaltung durch jähes Hineinbrüllen auf sich aufmerksam. In Josh‘s Augen verkörpert Inderbitzin den Inbegriff eines Rassisten. Mit Zwischenrufen wie, «Und wer beschützt unsere Töchter vor den Arabern und Afrikanern, die Ihr hierher importieren wollt?» - «Wenn das erste Mädchen vergewaltigt worden ist, was sagt Ihr dann?», verschafft er seinem Unmut Luft.
Neben dem Metzger sitzt Alt-Mehsbrückener Hans Kennel. Mit gerötetem Gesicht und zu Fäusten geballten Händen hockt er kerzengerade da und schaut aus, als könne es sich bloß noch um Sekunden handeln, bis er die Bühne stürmt und Emmenegger eine langt. Gemeinsam mit Edi Weibel bilden sie das Triumvirat unverhohlener Fremdenfeindlichkeit. In einem Leserbrief, der letzte Woche im Boten abgedruckt worden ist, legte Weibel eine Liste an Forderungen vor, wie der Flutwelle an Wirtschaftsmigranten zu begegnen sei. Und das Eröffnen einer Asylunterkunft hier im beschaulichen Mehsbrücken gehörte mit Sicherheit nicht dazu. Stattdessen forderte Weibel Zäune entlang der Landesgrenze bewacht durch die Schweizer Armee, Aufnahmestopp weiterer sogenannter Flüchtlinge und Internierung in stillgelegten Zivilschutzbunkern tief unter der Erde oder auf entfernten Bergpässen.

Zwischendurch wirft Josh einen Blick nach hinten, wo Frau Schärrer, seine Lehrerin, vor der Garderobe steht. Mit sorgenvoller Mine verfolgt sie das Geschehen wie eine Außenstehende. Irgendwie ist sie das wohl auch. Vor einem Jahr zugezogen passt sie nicht recht in den hiesigen Lehrkörper, der von Lehrern über fünfzig mit Unterrichtsmethoden von vorgestern dominiert wird. Die meisten von ihnen anwesend und ebenfalls strikt gegen eine Asylunterkunft. Man sehe ja in den links-grün versifften Städten, was die unkontrollierte Massenmigration in den Schulen anrichte. Auf ein Schweizer Kind kämen zwei Ausländer, die kaum deutsch sprechen. Das gelte es, um jeden Preis zu verhindern.

Nicht selten fühlt sich Josh selbst als Außenseiter inmitten der konservativ-ländlich geprägten Einwohnerschaft Mehsbrückens. Bezeichnungen wie Gutmensch, Idealist, Naivling oder einfach «noch zu jung, um es besser zu wissen» muss er sich häufig anhören, wenn er seine Standpunkte Erwachsenen gegenüber vertritt.
Doch entmutigen lässt er sich davon nicht. Unlängst hat er erkannt, dass ihre Versuche, ihn der Lächerlichkeit preiszugeben, nur von ihrer Unfähigkeit zeugen, ihm argumentativ Paroli zu bieten. Sein Gerechtigkeitsempfinden hält dem problemlos stand. Woher dieses Gerechtigkeitsempfinden stammt, ist leicht zu beantworten, so ironisch das unter den gegebenen Umständen auch erscheinen mag. Von seinem Vater nämlich, der sich nicht selten, schon als Josh noch ein kleiner Hosenscheißer war, am Esstisch über die Ungerechtigkeiten in der Welt empörte. Die Inbrunst, mit welcher sein Vater stimmgewaltig politische und gesellschaftliche Fehlentwicklungen anprangerte, hinterließ bei Kleinjosh einen tiefen Eindruck.

Früh schon engagierte sich Josh für jene Themen, die ihm wichtig erschienen. So sammelte er in der Fastenzeit Spenden für humanitäre Hilfswerke und deren Projekte. Er riss während Wahl- und Abstimmungskämpfen die fremdenfeindlichen Plakate der Schweizerischen Volkspartei von Wänden und prangerte in Schulvorträgen, die in vielen Staaten der USA noch immer gängige Praxis der Todesstrafe an.
Obwohl sie dieselbe Sozialisation durchlebt haben, hat sich Joshs drei Jahre ältere Schwester Julia nie in dem Masse («nie in dem übertriebenen Masse», würde sie sagen) politisch engagiert («ist den Leuten auf den Sack gegangen», würde sie sagen).
Zur Debatte über die Asylunterkunft hat sie nichts beizutragen, da sie bereits ihr drittes Gastsemester in London verbringt. Julia und ihr kleiner Bruder haben über die Jahre hinweg eine leidenschaftliche Streitkultur entwickelt. Insgeheim beneidet er sie um ihre Schlagfertigkeit und ihren Charme.

Nicht nur verpasst Juli die ganze Aufregung um die Asylunterkunft, den Nervenzusammenbruch ihres Vaters hat sie auch nur aus zweiter Hand mitbekommen. Kein Wunder ist sie nicht in der Lage, nachzuempfinden, wie unerträglich die letzten Monate für Josh zuhause gewesen sind. Sie ist ja nie von ihrer Mutter dazu verdonnert worden, mit einem apathischen Vater bei geschlossenen Jalousien im Wohnzimmer zu sitzen, nur um zuzusehen, wie er ununterbrochen durch die Kanäle zappt, während er dabei reglos am Fernseher vorbei an die Wand starrt. Als befände man sich im selben Raum mit einem Schwarzen Loch, das alles um sich herum leer saugt und dabei bloß dumpfe, negativ aufgeladene Trägheit zurücklässt. Von all dem hat Juli keine Ahnung, was sie aber nicht davon abhielt, Josh dauernd Vorhaltungen zu machen. Er bringe seinem Vater zu wenig Empathie entgegen und sei gefühllos, warf ihm vor. Meint sie etwa, er hätte es nicht mit Empathie versucht? Doch das Reservoir an Verständnis war irgendwann schlicht ausgeschöpft. Sie hatte gut reden. Josh’s Nerven lagen irgendwann blank. Er spürte das Verlangen, seinen Vater zu packen, durchzuschütteln und anzuschreien. «Reiß Dich endlich mal zusammen!», hätte er ihm gern zugebrüllt. Und, hat er es getan? Nein! Vielleicht wäre es aber besser gewesen. Seine Schwester, die meinte natürlich, dass sie Expertin sei, weil sie auf Youtube zig Dokus geschaut und Fachartikel gelesen hat. Bravo! Sie wusste nun am besten, was in ihrem Vater vorging und wie man ihm zu helfen habe. Denn sie brachte die nötige Empathie auf, das Mitleid, welches Josh abhandengekommen war. Ja, sie triefte förmlich davon. Wie tapfer ihr Vater doch sei, in dem er sich von seinen inneren Dämonen nicht in die Knie zwingen lasse. Tapfer? Die spinnt doch. Wo war denn dieses Häufchen Elend, das ihr Vater war, bitteschön tapfer? Wenn er sich weigerte, das Bett zu verlassen, oder sich stundenlang im Bad einschloss, um unter der Dusche zu heulen wie ein geschlagener Hund?
Um nicht selber noch den Verstand zu verlieren, begann Josh damit, seinem Vater aus dem Weg zu gehen. Das war seiner Mutter dann aber auch nicht recht.
«Wir müssen ihm zeigen, dass wir zu ihm stehen und ihn lieben», sagte sie und bat Josh darum, sie jetzt nicht im Stich zu lassen.

Und dann ging es ihm auf einmal wieder besser. Die Depressionen, fast wie weggeblasen. Zumindest scheinbar. Und Papi Gery zurück, fest im Sattel, nahm die Zügel wieder in die eigenen Hände. Nun gut, so ehrlich muss man auch sein, Gery hat sich weder je als Patriarch aufgespielt, noch übermäßig elterliche Autorität eingefordert. Im Haus Gwerder hieß es höchstens mal: «Ruf an, wenn es später wird», oder «Räum bitte Dein Zimmer auf.» Das war es dann auch schon. Aber mit einem Mal reichte so etwas aus dem Mund von Papi Gery auch schon aus, um Josh schlagartig an die Decke gehen zu lassen. Es war einfach so, Josh ertrug seinen Vater nicht mehr, oder höchstens noch in ganz kleinen, milden Dosen. Und das war noch, bevor er sich zum Wortführer des Braunen Mobs von Mehsbrücken aufgeschwungen hat.

Während Josh seinem Vater vorhält, die eigenen Ideale über Bord geworfen zu haben und Fremdenangst zu schüren, bezichtigt Gery ihn wiederum der Intoleranz anderer Meinungen gegenüber.
«Alle, die nicht Deinen Standpunkt teilen, wirfst Du in einen Topf und bezeichnest sie als Rassisten», warf er ihm kürzlich erst vor, «Du verlangst Toleranz, aber meinst damit nur, Toleranz in Deinem Sinn und wer nicht Dein Verständnis davon teilt, nicht Deine Ansprüche erfüllt, dem gegenüber verhältst Du Dich intolerant».

Jetzt sitzen sie beide hier im Gemeindesaal, wo Josh mit dem Handy in der Hand das Geschehen für seine Website «mehsbruecken-for-refugees» dokumentiert.
Das iPhone hat er sich erst kürzlich zugelegt.
Juli‘s Schmähbotschaften auf Whatsapp liessen nicht lange auf sich warten:
«Ich wusste ja gar nicht, dass sich die Arbeitsbedingungen der Minenarbeiter im Kongo inzwischen zum Guten gewendet haben» oder «Schön zu wissen, dass wir den Koltanabbau jetzt plötzlich mit unserem Konsumverhalten unterstützen dürfen.»
Ja, auch er ist nicht perfekt. Hat er das etwa je behauptet? Auch er trägt Kleider, die in Billiglohnländern produziert worden sind, auch er hat ne Playstation zuhause. Aber nichtsdestotrotz hält er an seiner Überzeugung fest, dass es fundamental wichtig ist, die Ausbeutung anzuprangern. Die Häme ist er bereit, auf sich zu nehmen.

Emmenegger öffnet die Diskussion für Publikumsmeldungen und bittet nachdrücklich darum, Respekt und Anstand zu wahren. Überrascht bemerkt Josh, wie sich Lampenfieber in ihm ankündigt. Es kribbelt im Oberarm und eine Hitzewallung breitet sich vom Kopf über seinen ganzen Körper aus. Unentschlossen hadert er mit sich, ob er aufstehen oder noch zuwarten soll. Beifall wird er mit Sicherheit nicht ernten, dessen ist er sich bewusst. Er wirft einen Blick zu seinem Vater rüber, der ihn gleichfalls ansieht. Ernst und nachdenklich.

Schweiß rinnt Josh’s Rücken hinab und sammelt sich im Beckengürtel. Als er sich zurücklehnt, fühlt er die Nässe ganz deutlich. Josh tastet mit der freien Hand nach den Notizen. In Gedanken repetiert er die Eckpfeiler seiner kurzen Rede in der Befürchtung, die plötzliche Aufregung würde ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Josh ist eigentlich kein Lampenfieber-Typ. Für eine Weile im Mittelpunkt zu stehen, vor anderen etwas zu präsentieren, bereitet ihm normalerweise Freude. Mit tiefen, langen Atemzügen versucht er, sich selbst zu beruhigen. Inzwischen sind schon zwei Wortmeldungen vorüber.

Jakob Meili stellt Fragen nach den Hausregeln, über die Betreuung und Überwachung der Asylbewerber; wie weit sie sich von der Unterkunft wegbewegen dürfen, und ob die Möglichkeit bestehe, Ausgangssperren zu verhängen. Meili ist bemüht, sachlich zu klingen. Doch Josh durchschaut ihn. Emmenegger bestätigt die Möglichkeit von Rayonverboten und sogar Hausarrest. Aber wer sich an die Regeln halte, dürfe sich in der Gemeinde frei bewegen. «Wir sprechen ja von Flüchtlingen und nicht von Strafgefangenen», erklärt er, woraufhin ein unzufriedenes Raunen durch die Reihen geht.

Ist jetzt sein Momentum gekommen? Joshs Knie fühlen sich weich wie Pudding an, drohen, einzuknicken, sollte er den Versuch wagen, aufzustehen. An der Rede hat Josh lange gefeilt. Die einzelnen Worte abgewogen und die Argumente immer wieder auf den Prüfstand gestellt. Natürlich wird er die Mehrheitsverhältnisse hier drin nicht kippen und seine Worte werden keine Welle der Solidarität auslösen. Es gibt diese Momente, ja durchaus. Wenn alles stimmt, die Worte, die Gesten, der Zeitpunkt - dann kann durchaus mal etwas Bedeutsames passieren. Josh hat sich keine solch hohen Ziele gesetzt. Im besten Fall gelingt es ihm, den ein oder anderen in seinen Vorurteilen ein bisschen zu erschüttern. Es ist eher eine Sache des Prinzips. Nicht still sitzen zu bleiben, trotz Gegenwind für seine Meinung einzustehen und sie mit Überzeugung zu vertreten.

«Wer denkt hier denn eigentlich auch mal an uns», ruft derweil ein leicht ergrauter und asketisch schlanker Heinz Ambühl empört nach vorne. Mit «uns», führt er im Weiteren aus, meint er die Hausbesitzer, die ihr Vermögen in eine Liegenschaft in der angrenzenden Nachbarschaft des stillgelegten Fabrikgebäudes, der ehemaligen Maschinenfabrik Steger, wo die Asylbewerber einquartiert werden sollen, investiert haben und deren Land einen happigen Wertverlust verzeichnen werde. «Da steckt meine ganze Altersvorsorge drin!» Heinz Ambühl ist gertenschlank, nur Muskeln, Sehnen und Knochen, kein Gramm Fett am Körper. Jeden Tag sieht ihn Josh, wie er mit verbissener Mine den Hügelweg hinauf joggt.

Elke Jegglin hinterfragt derweil den aktuellen Zustand der Direkten Demokratie in der Schweiz? Immerhin sei das Volk in dieser Sache nicht gefragt worden. Immer mehr redet sie sich in Rage. «Ihr wollt uns doch hier für dumm verkaufen. In Tat und Wahrheit habt Ihr längst über unsere Köpfe hinweg entschieden!» Elke Jegglin leitet die Ludothek in Mehsbrücken und Josh hat am eigenen Leib erfahren, wie es ist, wenn man ihren göttlichen Zorn auf sich zieht, als er einmal ein Brettspiel unvollständig retourniert hat.

Sepp Emmenegger nimmt das Wort wieder an sich und ermahnt die versammelte Menge neuerlich darum, Anstand zu wahren.
«Niemand verkauft hier irgendwen für dumm.» Ein leichtes Zittern in seiner Stimme und Schweißperlen, die ihm über die Stirn rinnen, zeugen vom Druck, der auf ihm lastet.
«Ach ja, was sind denn unsere Optionen», unterbricht ihn jemand. «Das ganze Schauspiel hier ist eine Farce, nein, ein Skandal!», tönt es von anderswo her. Emmenegger schüttelt entnervt den Kopf.
Die massige Gestalt von Martin Gysin erhebt sich, «Jetzt haben wir das Wort, Sepp, nicht Du, also setz Dich wieder auf Deinen Hintern und halt den Mund! Wir wohnen hier und zahlen Steuern, so wie es schon unsere Eltern jahrzehntelang getan haben.» Gysin atmet schwer, «Wir wollen kein Asylantenheim, so einfach ist das! Was fällt Dir denn ein, Dich hier hin zu stellen und den grossen Moralapostel zu spielen! Ich sag Dir eins, es braucht nicht viel, dann tätschts hier mal so richtig!» Eigentlich ist Gysin ein umgänglicher, stets zum Scherzen aufgestellter Büezer, nie um einen flotten Spruch verlegen. Meistens trägt er karierte Baumwollhemden und Hosenträger – mal mit Kühen drauf, mal mit Schweizer Kreuzen, die sich über seinen von Jahr zu Jahr höher aufwölbenden Ranzen spannen. Von seinen Eltern hat er die Schreinerei übernommen, die er stets knapp am wirtschaftlichen Ruin vorbei navigiert. Gysin ist ewiger Junggeselle. Unter den Jugendlichen macht das Gerücht die Runde, an Wochenenden im Wysse Ross flirte er auf unziemliche Weise mit Schülerinnen, die dort in den Ausgang gehen.
Als Josh fünf Jahre alt war, beauftragten seine Eltern den dicken Schreiner, ihm einen Sportwagen-Bettrahmen zu zimmern. Mit röchelndem Atem montierte Gysin damals das Bett unter Joshs wachem Blick. Das fertige Resultat überstieg all seine Erwartungen und versetzte den fünf jährigen Buben in Staunen.
«Na los», sagte Gysin, dem die Arbeit sichtlich zugesetzt hatte, «Machen wir eine Spritzfahrt mit deinem neuen Schlitten.» Er setzte sich auf das Kopfteil des Betts, das dem Cockpit entsprach. Es knarzte gefährlich unter seinem Gewicht. Er zog den imaginären Sicherheitsgurt über seinen schon damals voluminösen Oberkörper und klopfte auf den freien Platz neben sich. Josh setzte sich mit der Befürchtung hin, das neue Bett werde gleich zusammenbrechen. Er roch den abgestandenen Zigarrenrauch, der sich in Gysins Hemd festgesetzt hatte.
«Du musst dich angurten», sagte Gysin, «Und jetzt steck den Schlüssel ein und nimm das Lenkrad in die Hand».
Nach anfänglichem Zögern befolgte Josh seine Anweisungen, spätestens nach der ersten scharfen Rechtskurve verlor der Junge alle Schüchternheit und ließ sich ganz auf die gemeinsam imaginierte Spritzfahrt ein. Gemeinsam rasten sie durch Mehsbrücken, auf die Autobahn und dann weiter bis nach Amerika. «Achtung, Linkskurve!», rief Gysin und beide warfen sich in die Seite. So zog sich das eine ganze Weile lang hin, das Bett hielt der Belastung überraschend problemlos stand, und am Schluss hatte der Handwerker Joshs Herz für sich gewonnen. Beim Abendessen erzählte Josh seinen Eltern, dass er selbst einmal Schreiner werde ... also falls es denn mit der Rennfahrerkarriere nicht klappt.

Jolanda Kramer, eine zierliche Frau, meint mit sanfter Stimme, dass sie es unfair fände, wie alle auf Sepp Emmenegger rumhacken. Und die Flüchtlinge, ja die sind doch auf eine sichere Unterkunft angewiesen. Da seien sie als Christen gefordert, wenn Menschen vor Krieg und Armut fliehen, wie sie betont.
«Oder einfach gehört haben, dass es hier was zu holen gibt. Nämlich Sozialhilfe, für umsonst», fährt ihr Jaqueline Weggen über den Mund, sie unterrichtete einst Josh in der ersten Klasse, «Mit diesem sentimentalen Blödsinn wollen die uns ruhig stellen», fährt sie fort, «Schau Dir doch mal die Bilder in der Tagesschau an. Junge Burschen, kräftig und gesund. Männer aus Marokko und Algerien. Keine syrischen Frauen und Babys. Die kommen hier her, weil sie wissen, dass ihnen die Justiz hier kein Härchen krümmt, wenn sie was Kriminelles anstellen.» Früher hat Jaqueline Weggen den Kindern immer Sternchen in die Schulhefte geklebt, hat mit ihnen herzige Kinderlieder gesungen und am Anfang sowie am Ende jeder Stunde ein Märchen vorgelesen. So ist das eben.

Die Wortmeldungen überschlagen sich. Emmenegger bleibt nichts anderes übrig, als einzugreifen. Nur mit Mühe schafft er es, Ruhe und Ordnung einigermaßen wiederherzustellen. Es folgen drei gemäßigte, vorsichtig-kritische Wortmeldungen und einige Fragen zur Gewährleistung der allgemeinen Sicherheit und zu den Kosten. Josh legt sein iPhone weg und will sich zu Wort melden, doch ein gebrechlicher, älterer Herr, den Josh nicht kennt, kommt ihm zuvor. Gestützt auf einen Rollator steht er zittrig da. Für eine sachliche Diskussion sei er hergekommen, doch was er hier die letzte Stunde über habe beobachten müssen, stimme ihn traurig. «Ich erkenne Euch nicht wieder. Das ist nicht mein Mehsbrücken», sagt er. Einige reagieren mit höhnischem Gelächter, andere schütteln still ihre Köpfe. Es wird getuschelt. Sepp Emmenegger dankt dem alten Mann, den er mit Ueli anspricht. Doch dieser hat noch mehr auf dem Herzen und holt weiter aus. Er verstehe die Ängste seiner Mitbürger und teile ja viele der Sorgen. Der Ton aber, in dem hier einige ihre Meinung kundtun, sei erschreckend. Es erinnere ihn an die neunziger Jahre, als die Flüchtlinge aus dem Balkan als Jugos angefeindet worden seien und an die Siebziger mit ihren Überfremdungsinitiativen gegen die Saisonniers aus dem südlichen Europa. Sein Monolog strapaziert die Geduld der Mehsbrückener und die Unruhe nimmt erneut zu. Als der Mann schließlich einen Vergleich zur Judenfeindlichkeit in der Zeit des Nationalsozialismus zieht, platzt einigen der Kragen und stören seine Rede mit Zwischenrufen. Der Redefluss des alten Mannes gerät ins Stocken. Immer wieder setzt er neu an.
«Wir brauchen keine Geschichtslektion», ruft jemand, «Predigen kannst Du in der Kirche», meint Gysin.
«Bitte», interveniert Emmenegger, «Lasst ihn doch ausreden.»

Das Schauspiel wirkt zunehmend abstoßend auf Josh. Ein Gefühl des Zorns verdrängt das Lampenfieber. Er will dem alten Mann zur Hilfe eilen und ihm Rückendeckung geben. Jäh aufgeflammte Energie strömt in einem kräftigen Schwall durch seinen Körper. Joshs Beine wippen unruhig auf und ab. Hier sitzen sie und fühlen sich in ihrem Wohlstand bedroht. Als der alte Mann endlich zum Ende kommt, springt Josh förmlich auf. Es ist Zeit, dass ihnen jemand den Spiegel vorhält. Es ist Zeit, dass jemand die Sache beim Namen nennt. Emmenegger sieht ihn und erteilt ihm das Wort.
«Der junge Herr Gewerder», sagt er.
Bla, bla, bla, denkt Josh. Die Köpfe drehen sich ihm zu, er spürt ihre Blicke. Einige lächeln überheblich, noch bevor er ein Wort sagt. Josh merkt, dass ihn sein innerer Schweinehund in falsche Sicherheit gewogen hat. Das Lampenfieber kehrt schlagartig zurück und wirbelt ihm durch den Kopf, bringt die Gedanken durcheinander. Er benetzt seine Lippen. Die Notizen hält er in der Hand, doch fällt es ihm schwer, den unruhig gewordenen Buchstaben vor seinem geistigen Auge Herr zu werden. Verschwommen tanzen sie umher und machen sich über ihn lustig. Jemand hustet. Er hört vereinzeltes Tuscheln in der Menge.
«Ja, hm, ich würde gerne auch was sagen», presst er schließlich zwischen den Lippen hervor.
«Lauter! Wir können nichts verstehen!», ruft jemand.
«Sie haben das Wort, Herr Gwerder», sagt Emmenegger nach einer Weile. Josh schaut wieder auf seine Notizen. Er holt Luft, räuspert sich. Wäre er bloß nicht aufgestanden. Jede Faser seines Körpers drängt ihn zur Flucht. «Renn, Josh, renn!».
Auf einmal ist er über Sam's Abwesenheit erleichtert. Was wird er ihr sagen? «Plötzliches Blackout», und sie wird ihn nach außen hin verständnisvoll bemitleiden und innerlich denken, was für ein Schwätzer.
«Herr Gwerder ... Josh?», fragt Emmenegger mit wachsender Ungeduld.
Ob sich sein Vater bereits in Grund und Boden schämt, oder freut er sich etwa darüber, wie sich Josh grade blamiert? Josh schaut ihn nicht mehr an, seine Augen stier auf die Notizen gerichtet; wartet darauf, dass sich sein Blick aufklart und seine Zunge löst. Gemurmel, Husten, knirschende Stühle, eine Tür schlägt zu, er spürt den Windhauch in seinem Nacken.
«Die nachfolgenden Sendungen verspäten sich auf unbestimmte Zeit», alle lachen über Gysins Spruch. Josh sieht den dicken Mann an. Einst sein Copilot, sein Kumpel. Gemeinsam sind sie mit einem imaginären Rennwagen über die Landstraßen gedonnert.
«Uii, und jetzt eine Linkskurve! Achtung, Vollbremsung! Schneller, schneller!», er hört ihn noch ganz deutlich ... und jetzt das. Was für ein Arschloch, denkt Josh, überhaupt alles Arschlöcher hier, Arschlöcher, wohin das Auge reicht.

counter6xhab ich gern gelesen

Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Onivido kurt am 23.12.2022:

Wenn ich 15 waere, koennte ich den Josh wahrscheinlich gut verstehen.




geschrieben von ehemaliges Mitglied am 29.12.2022:

Hey Pizzakurier, ich weiß jetzt gar nicht auf welchem Kanal (Arte, 3Sat oder den Dritten) immer eine Kurzfilmnacht gesendet wird. Deine Geschichte hätte es verdient. LG Jürgen




geschrieben von Pizzakurier am 06.01.2023:

Vielen Dank, Jürgen, freut mich sehr!

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