geschrieben 1988 von Rautus Norvegicus (Rautus Norvegicus).
Veröffentlicht: 13.07.2025. Rubrik: Persönliches
Entscheidungsnöte
Ich starb in der Nacht zum 22 April 1984 an den Folgen eines Autounfalls. Ich weiß, jetzt werden euch die Ereignisse, die ich niederschreibe, nicht mehr sonderlich interessieren. Denn seit wann können Tote schreiben und damit aus dem Jenseits berichten? Ich bin eben wieder unter die Lebenden zurück gekehrt. Und die Gründe dafür werden euch einleuchten, wenn ihr meine Geschichte zu Ende lest!
„Komm mit, Rautus, sagte der Herr mit dem gewaltigen weißen Bart freundlich zu mir und fasste mich bei der Hand. „Nein, ich will nicht, als ich noch klein war, hat meine Mutter immer zu mir gesagt, dass ich nicht mit fremden Leuten gehen solle, egal, wie freundlich die auch scheinen mögen!“ Es war mir unangenehm, wie er meine Hand mit seiner
umschloss, deshalb wollte ich sie weg ziehen. Schließlich war ich schon 19 Jahre alt, stark und energiegeladen, kein kleines Kind mehr! Doch so verzweifelt ich meine Hand auch drehte und wand, ich konnte mich nicht aus seinem Griff lösen, obwohl der gar nicht sonderlich fest schien.
„Komm mit, mein Sohn“, sagte er nochmals und ich glaubte, eine Spur von Ungeduld in seiner Stimme zu vernehmen. „Du bist heute Nacht schließlich nicht der einzige Neuankömmling! Der Herr hat gesagt, dass du nur drei Wochen Zeit für deine Entscheidung haben sollst!“ Mit diesen Worten wandte er sich um und ging auf ein großes Tor zu, das mitten im Raum zu schweben schien. Vor lauter Angst, allein in der fremden Umgebung zurück gelassen zu werden, stolperte ich ihm
hinterher. Vor dem Tor blieb er stehen und klopfte drei Mal dagegen. „Wer ist da und begehrt Einlass?“ erscholl eine Ehrfurcht gebietende Stimme. „Uriel, mit Nummer 321 zur
Arbeitserprobung, mach schon auf, Gabriel, ich hab es eilig!“
Lautlos schwang das Tor auf und ich konnte in einen großen Saal blicken, der bis auf einen großen Schreibtisch, der in der
Mitte stand, leer war. Der Tisch bog sich förmlich unter der Last der Akten und Papiere, die auf ihm lagen. „Mach schon, Gabriel, gib mir die Empfangsbestätigung, ich muss weiter, heute ist viel los!“ Gabriel, der der Zwillingsbruder Uriels hätte sein können, reichte meinem Begleiter eine
vorbereitete Pergamentrolle. Uriel schaute mich noch einmal freundlich an und tippte sich zum Abschied mit der Rolle gegen die Schläfe: „Also, Rautus, du wirst dich schnell bei uns einleben. Ich wünsche dir alles Gute!“ Mit diesen Worten drehte er sich um und entfernte sich schnellen Schrittes.
Ich kam gar nicht dazu, mich von ihm zu verabschieden, denn Gabriel sagte in geschäftsmäßigem Ton zu mir: „Du weißt sicher, worum es geht. Du bist auf der Erde verunglückt und der Rat der vier Erzengel ist sich noch nicht einig darüber geworden, ob du in den Himmel oder in die Hölle gehörst. Er ist zu dem Ergebnis gekommen, dir das einzigartige Privileg zu gewähren, dich selber darüber entscheiden zu lassen. Du fängst mit der Arbeitserprobung im Himmel an. Wenn du noch Fragen hast, wende dich an die Himmlischen Heerscharen. Ein Cherubim wird dich in deine Arbeit einweisen!“ Ich konnte nur stumm nicken.
Der Cherubim, ein fest angestellter Engel des Himmels, stand plötzlich neben mir und stieß mich grinsend mit seinem linken Flügel an. „Hallo Rautus, dann komm mal mit, es gibt eine Menge zu tun. Wir müssen einige Millionen Wolken am Himmelszelt neu anordnen und da brauchen wir jede
helfende Hand. Eigene Flügel bekommst du aber erst noch einer dreiwöchigen Probezeit. Bis dahin kannst du kostenlos auf einem Taxi Engel mit fliegen, um deine Arbeit erledigen zu können!“
So war ich also im Himmel gelandet. Ich kann nur sagen, von dem Gerede, dass man dort eine ruhige Kugel schieben kann, ist nichts wahr! Fast pausenlos ist man damit beschäftigt, die Wolken völlig sinnlos hin und her zu schieben. Ich fand kaum Zeit, mal eine Rast zu machen und mit einer der gelockten Engelinnen zu flirten! So kam es auch, dass ich nach Ablauf von zwanzig arbeitsreichen Tagen total erschöpft war und bei Gabriel vorsprach. Ich bat ihn um meine vorzeitige Versetzung an einen anderen Arbeitsplatz; sagte, ich sei nach getaner Arbeit so fertig, dass ich nach Dienstschluss
gerade noch eine kleine Mahlzeit aus Manna zu mir nehmen könne. Dazu trank ich einen kleinen Kelch Ambrosia und dann schlief ich wie ein Toter bis zum nächsten Morgen.
„So einfach geht das aber eigentlich nicht, mein Lieber,“ Gabriel schüttelte den Kopf, „du hast Glück, dass für
morgen sowieso deine Versetzung in die Hölle geplant ist. Dort kannst du dich dann ausruhen.“ Am nächsten Tag war es dann endlich soweit. Ein Seraphim führte mich zu der Pforte, die aus dem Himmel heraus führte. Ein Seraphim ist ein gleich gestellter Mitarbeiter eines Cherubim, so viel
hatte ich in der Zeit, die ich im Himmel verbrachte, gelernt. An der Pforte gab er mir die Hand und ich sah bestürzt, dass seine Augen überschwemmt waren mit Tränen. „Viel Glück, Rautus, hier muss ich dich alleine lassen. Ich bin kein Schutzengel und darf den Himmel deshalb nicht verlassen.
Viel Glück,“ sagte er noch einmal und wandte schnell sein Tränen nasses Gesicht ab. Dann war er verschwunden. Als ich daraufhin die Pforte öffnete, glaubte ich, meinen Augen nicht trauen zu dürfen!
Ich blickte in ein riesiges Gewölbe, in dem Tausende und Abertausende Badewannen standen. In den Wannen brodelte schwarzes Wasser, in dem sich die Insassen der Hölle wohlig
räkelten. Sie rauchten polnische Zigaretten, kubanische Zigaretten, tranken Schnaps, aßen Pommes mit Gyros aus Schweinefleisch, erzählten sich zotige Witze! Jetzt werdet ihr bestimmt wissen wollen, warum ich nicht in der gemütlichen Hölle geblieben bin? Der Grund war ein riesiger, mit eiternden Wunden übersäter Teufel, der plötzlich mitten in der Hölle stand, seinen hinteren Schwanz wie eine Peitsche knallen ließ und rief: „So, meine süßen Teufelchen, für die nächsten fünfhundert Jahre alle wieder unter tauchen. Zigarettenpause vorbei!“
Bei diesen Worten loderten unter den mit russischem Erdgas
beheizten Wannen blaue Flammen auf und brachten das Wasser in ihnen zum Kochen. Deshalb wachte ich lieber im Krankenhaus wieder auf und erfreue mich an dem Leben auf der Erde, als einem Existieren in der Hölle.
Ende

