Veröffentlicht: 15.12.2025. Rubrik: Nachdenkliches
Lichtblick
Thomas fühlte sich zum Kotzen. Er war 15 Jahre alt und irgendwie lief zurzeit ziemlich viel schief – heute schon den ganzen Tag. Morgens hatte er eine 5 in Englisch rausbekommen. Dafür hatte er sich zu Hause wieder lange Vorträge anhören müssen, dass er zu wenig für die Schule täte und zu viel Zeit am Smartphone verbrächte. Seine Eltern sahen nicht ein, dass sie ihm alles Mögliche bezahlen sollten, während er immer nur so faul wäre. Immer, wenn er schlechte Noten mit nach Hause brachte, hing danach der Haussegen schief. Und dann war ihm auch noch eine Tasse aus der Hand geglitten und mitten auf sein Smartphone gefallen. Das Display war völlig zertrümmert, er konnte kaum noch etwas lesen. Nun war es nicht gerade das neueste Smartphone. Eigentlich wäre es ein guter Anlass gewesen, ein neues zu kaufen. Nur womit? Er selbst hatte kaum Geld und seine Eltern brauchte er jetzt gar nicht erst zu fragen. Es war der 16. Dezember, bald war Weihnachten. Aber danach war ihm gerade gar nicht zumute. Eine 5 in Englisch, sein Smartphone war unbrauchbar, er hatte fast kein Geld, dafür Ärger mit seinen Eltern.
Er saß an seinem Schreibtisch, sollte für die nächste Klassenarbeit lernen, konnte sich aber überhaupt nicht konzentrieren. Immer wieder dachte er an die vielen Vorhaltungen seiner Eltern, über die er sich ärgerte. Er versuchte, seine Gedanken auf etwas anderes zu lenken, doch stattdessen steigerte er sich immer mehr in seinen Ärger hinein. Er sah zum Fenster hinaus, wie die Sonne langsam unterging. In der Ferne sah er bei ein paar Gebäuden ein größeres Licht leuchten. Es war nicht die Sonne. Aber was war es dann? Auf jeden Fall war es nicht einfach nur eine Lampe, dazu war es viel zu groß. Das Licht zog ihn in seinen Bann. Irgendwie musste er an die Geschichte von den Heiligen drei Königen denken und dem Stern, dem sie folgten. Nun hielt er es selbst für völlig abwegig, bei diesem Licht, was auch immer es war, ein kleines Kind oder sonst etwas zu finden. Aber es faszinierte ihn. Was konnte es nur sein? Und dann, so absurd es ihm selbst erschien, wollte er es herausfinden. Er zog sich an, verließ das Haus und ging zu Fuß in Richtung dieser seltsamen Erscheinung. Er malte sich überhaupt nicht aus, was er dort finden konnte. Es war die pure Neugier, was genau dieses Licht war. Der Spaziergang in der kalten Dezemberluft tat ihm gut. Für einen Moment vergaß er seine Sorgen und seinen Ärger um das Smartphone. Es wurde langsam dunkel und er sah, dass ihm ein Mann entgegenkam, der einen Rollstuhl schob. Er schenkte dem keine große Beachtung, lief nur hastig dem Licht entgegen. Der Mann mit dem Rollstuhl lief an ihm vorbei. In dem Rollstuhl saß ein Junge, vielleicht so alt wie er. Da hörte er auf einmal eine Stimme: „Hallo Thomas“. Thomas drehte sich um. Der Junge in dem Rollstuhl war es, der ihn gerufen hatte. Thomas ging auf ihn zu. Er sah ihn an und überlegte sich, woher er ihn kannte.
„Ich bin‘s, Fabian. Du warst in meiner Paraklasse in der Grundschule.“
Jetzt erinnerte sich Thomas wieder. Sie hatten sich auf dem Schulhof oft gesehen, manchmal auch miteinander gespielt.
„Warum sitzt du im Rollstuhl?“
„Wir hatten einen Autounfall. Seitdem sitz ich im Rollstuhl.“
„Scheiße!“
„Ich habe mich daran gewöhnt.“
Thomas konnte nicht glauben, was er hörte. Wie konnte man sich an so etwas gewöhnen? Doch Fabian saß in seinem Rollstuhl und blickte ganz entspannt.
„Wann war das?“
„Vor drei Jahren.“
„Vor drei Jahren“,
wiederholte Thomas nur. Er änderte die Laufrichtung und begleitete Fabian und seinem Betreuer.
„Und deine Eltern, saßen die auch im Auto?“
„Nein, ich bin bei meinem Freund mitgefahren. Der wurde auch verletzt, aber nicht so schwer.“
„Kannst du das Laufen nicht wieder trainieren?“
„Nein, geht nicht. Gelähmt ist gelähmt.“
„Oh Mann!“
„Ich bin so froh, dass ich das überlebt habe. War ganz knapp.“
Fassungslos sah Thomas seinen früheren Mitschüler an. Er konnte nie wieder laufen und sagte noch, dass er froh war.
Eine Weile lief er neben ihm her. Sie unterhielten sich über vergangene Zeiten und was sie alles erlebt hatten. Er konnte sich an ein Sportfest in der Grundschule erinnern, da war Fabian einer der besten Fußballer in seiner Klasse.
„Wo gehst du eigentlich hin?“, wollte Fabian irgendwann wissen.
„Ich? Äh – ich habe da irgendwo so ein großes, komisches Licht gesehen, aber jetzt ist es weg.“
„Wahrscheinlich hat sich irgendwo die Sonne gespiegelt“, sagte nun auf einmal Fabians Begleiter.
Thomas war wieder zu Hause. Doch die Begegnung mit Fabian ließ ihn nicht los. Die ganze Zeit war er fröhlich in seinem Rollstuhl gesessen, obwohl er für sein ganzes Leben querschnittsgelähmt war. Thomas stellte sich vor, er säße selbst im Rollstuhl. Allein den Gedanken daran fand er unerträglich. Er war so froh, dass er noch alle seine Körperteile bewegen konnte. Sein Smartphone war immer noch kaputt, er hatte immer noch eine 5 in Englisch, seine Eltern waren immer noch sauer auf ihn. Aber all diese Sorgen erschienen ihm auf einmal nur noch wie Kleinigkeiten.
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