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geschrieben 2016 von Stefan Kemper-Kohlhase (Altmarkwolf).
Veröffentlicht: 17.04.2020. Rubrik: Menschliches


Rübezahls Wanderung zum „Hockenden Weib“ Liegt die Heimat auch in weiter Ferne

Seit vielen hundert Jahren, seit der Zeit, als es im schönen, alten Riesengebirge noch viel mehr Tiere als Menschen gab, lebt dort der Berggeist Rübezahl. Er war seit alter Zeit gefürchtet von Wegelagerern, Betrügern und Menschenschindern, die er auf seine Weise bestrafte, aber geachtet von den Anständigen, Rechtschaffenen und Frommen, denen er in der Not half so gut er konnte. Der Herr der Berge, Tannenwälder und Schluchten war nämlich ein Freund der Menschen. Er zog in Gestalt eines alten Mannes mit langem, weißen Bart, einem groben Schäfermantel, einem knorrigen Hirtenstock und einem breiten, brauen Filzhut durch das Land und sah nach dem Rechten. Seine Familie waren die Schlesier in den Bergen und am Fuße des schönen, alten Riesengebirges. Oft stieg er auch hinauf auf die „Aule Gake“, die Schneekoppe, den höchsten Gipfel des Riesengebirges. Dann blickte er weit ins Land und horchte auf Freud und Leid der Menschen.
Der Berggeist Rübezahl war auch am Heiligabend 1944 auf der Schneekoppe. Er hörte das Glockengeläut der Kirchen, und sah, wie die Mütter mit ihren Kindern und den Großeltern von der Christvesper nach Hause kamen. Und Rübezahl fühlte die schwermütige Stimmung im Lande. Ja, es war ein trauriges Weihnachtsfest im Kriegswinter 1944. Rübezahl vernahm viele Herzensseufzer. Ein ganz Lauter kam aus dem Haus einer Frau, die alle nur „Zottlhaase“ nannten. Zottlhaase? Ja, so wurde sie genannt. Sie lebte mit ihren 7 Söhnen in dem kleinen Gehöft neben der Kirche Wang in Krummhübel am Fuße der Schneekoppe. Eigentlich war sie auf den Namen Charlotte Frieda Auguste getauft worden, aber ihre Eltern, Alfred und Ida Haase, hatten sie immer nur im schlesischen Dialekt „Lottl“ gerufen. Und als sie schreiben gelernt hatte, sah das große L bei ihr immer wie ein großes Z aus. Und so wurde aus Charlotte Haase der Zottlhaase. Diesen Rufnamen behielt sie auch nach der Heirat. Ihre Söhne nannten sie aber immer nur „Muttl“ , so wie es alle Schlesierkinder mit ihren Müttern taten. Wilhelm, Gerhard, Ludwig, Paul, Herbert, Heinrich und Gottfried liebten ihre Muttl. Und so ging allen im Hause die Arbeit leicht von der Hand, denn arbeiten konnten die Jungs vom Zottlhaasen wie die Bienen. So hatten sie auch das Haus für das Weihnachtsfest hergerichtet. Aber alle vermissten am Heiligabend den Vattl . Lange hatte man nichts mehr von ihm gehört. Daher der Herzensseufzer der Muttl.
Als der Berggeist Rübezahl an die Tür klopfte, um nach ihr zu sehen, hatte sie gerade die Jungs ins Bett gebracht. „Hast noch aan Schniete für ann aalen Wanderer?“ fragte der Rübezahl die Muttl leise. Sie wusste genau, wer da vor ihr stand und sagte: „Kummock nei in die gute Stube. Wir ham och a Sträfla Sträselkucha für dich.“ Oh ja! Der Streuselkuchen der Muttl war bekannt, ebenso ihre Blaubeerklöße und ihre Weißwurst. Auch wenn die Familie in diesem Jahr nicht viel auf dem Tisch hatte wegen der schlechten Zeit, wusste die Muttl, wie man den Rübezahl zu Weihnachten empfängt. Man heißt ihn willkommen und teilt das Wenige, das man hat mit dem Gast. Morgen wird es schon irgendwie weitergehen.
Aber gegen Ende des Krieges war die Front immer näher gerückt, die Lebensmittel waren knapp geworden und alle hatten Angst vor dem Zorn der Alliierten. Die Muttl klagte dem Rübezahl ihr Leid. Wer würde sie beschützen? Diesmal würde die Heimat verloren gehen, da war sich die Muttl sicher. Und bald würde auch sie mit ihren Kindern weggehen. Im Teutoburger Wald sollte es schön sein, hatte sie gehört. Viele Kinder aus Schlesien waren schon zu Verwandten geschickt worden, doch willkommen waren sie nicht. Das hatte Muttls Schwester aus Wernigerode im Harz geschrieben. Was würde aus der Heimat und aus ihnen werden? Würden sie den „Vattl“ je wiedersehen? Rübezahl hatte ihr aufmerksam zugehört. Er kannte die Sorgen und Ängste seiner Schlesier. Das war der Krieg. Als die Muttl alles gesagt hatte, was ihr das Herz schwer gemacht hatte, ergriff Rübezahl das Wort: „Sag Muttl, hast noch an Stonsdorfer?“ Sicher! Die Flasche mit dem schlesischen Kräuterlikör, der nach Wald schmeckte, stand hinter der Dose mit den letzten Pfefferkuchen. Rübezahl und die Muttl stießen an. „Auf das Leben!“ sagte der Rübezahl. Und nachdem der Stonsdorfer getrunken war, sagte der Rübezahl wie mit Engelszunge – und erstaunlicherweise in bestem Hochdeutsch, wie der Herr Pastor – „Unser Herrgott hat überall seine Engel. Haltet am Glauben fest, helft euren Mitmenschen, wo ihr könnt, und vergesst nie Heimat und Familie. Auch wenn die schöne Heimat verloren gehen wird, so hoffen wir doch auf Gottes ewige Himmelreich, in dem Gerechtigkeit herrschen wird. Das ist unsere ewige Heimat. Die kann uns niemand nehmen. Dort wird es keine Tränen, keinen Schmerz und nichts Böses mehr geben. Schicket euch in die Zeit. Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet. Ich werde hierbleiben im Riesengebirge als ein Freund der Menschen. Ich werde auf mein Schlesien aufpassen. Geht mit meinem Segen.“ Die Muttl kannte den Vers wohl, den der Rübezahl zitiert hatte, es war ihr Konfirmationsspruch aus dem Brief des Apostels Paulus an die Römer. Schicket euch in die Zeit. Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet. Fröhlich in Hoffnung? Fröhlich? - Ja, der gute Berggeist hatte im Grunde recht. Nur nicht hoffnungslos machen lassen. Ohne Hoffnung hat man schon verloren. Dann stimmten sie fast gleichzeitig noch einen Liedvers aus dem Gesangbuch an:
Schönster Herr Jesu, Herrscher aller Enden, Gottes und Marien Sohn:
Dich will ich lieben, Dich will ich ehren, Du meiner Seele Freud und Kron.
Der Muttl wurde es leichter ums Herz und Rübezahl verabschiedete sich.
Einige Zeit später war die Muttl mit ihren Söhnen aufgebrochen. Es ging nach Westen in ein neues Leben. Aber die Bilder der Heimat wirkten mit geheimer Zauberkraft weiter. Viele Erinnerungsstücke konnten sie nicht mitnehmen. Nur das Fotoalbum, die Taschenuhr des Urgroßvaters, das Stammbuch der Familie mit der Ahnentafel und die alte Lutherbibel mit dem Bild der Kirche Wang. Diese Erinnerungsstücke retteten sie hinüber. Auf der Flucht erlebten Muttl und ihre Söhne sehr viele unschöne Dinge. Die geschlagenen Wunden sollten ein Leben lang schmerzen. Muttl und ihre Söhne erzählten niemals von der Flucht. Sie waren fest davon überzeugt, dass sie nie wieder nach Schlesien zurückkehren würden. Entwurzelt und heimatlos, aber nie ohne Hoffnung und ehrlos.
Nach Kriegsende wurden viele tausend heimatvertriebene Polen aus dem Osten nach Schlesien deportiert. In das Gehöft der Muttl zog wie durch Zufall eine Mutter mit 7 Söhnen. Es war eine Galizierin mit Namen Małgorzata Olszewska. Sie war aus einem kleinen Dorf bei Lemberg und vermisste zeit ihres Lebens die galizische Heimat. Auch sie war entwurzelt und heimatlos, und nie ohne Hoffnung und ehrlos.
Der Berggeist Rübezahl, der im Riesengebirge geblieben war, hatte zwar zunächst etwas Probleme mit dem Polnischen, aber er blieb der Berggeist des Riesengebirges und sah im Land nach dem Rechten. Er war weiterhin gefürchtet von Wegelagerern, Betrügern und Menschenschindern, die er auf seine Weise bestrafte. Und er war auch weiterhin geachtet von den Anständigen, Rechtschaffenen und Frommen, denen er in der Not half.
So gingen viele Jahre ins Land. Der Berggeist Rübezahl blieb der, der er immer gewesen war. Er konnte aber seine deutschen Schlesier und ganz besonders die Muttel nicht vergessen. Er fragte sich so manches Mal, was wohl aus ihr und all den anderen Schlesiern geworden war. Müsste er nicht auf die Suche nach ihnen gehen? Es war doch seine Familie.
Dann passierte im Herbst 1989 das Wunder der Maueröffnung. Zahlreiche Schlesier besuchten zu Rübezahls großer Freude die alte Heimat. Sie wurden von vielen Polen als Freunde willkommen geheißen, hatte man doch dasselbe Schicksal mit Vertreibung und Neuanfang erlebt.
Am Heiligabend 1989 war der Berggeist Rübezahl wieder auf der Schneekoppe, sah weit über das nun wieder freie Land und horchte auf Freud und Leid der Menschen. Da hörte er von einem jungen Mann, der Weihnachten in der Baude auf der Schneekoppe verbringen wollte, ganz deutlich das Wort „Zottlhaase“. Er redete wohl mit sich selbst. Aber anscheinend wusste der junge Bursche etwas über den Verbleib der Muttl. Oh ja! Seine Großmutter, die in der Nähe des Brockens im Harz wohnte, hatte von einer Frau mit sieben Söhnen gehört, die auf der Flucht durch den Harz gekommen war. Zerzaust und halbverhungert. Diese Frau hatte den Rufnamen Zottlhaase und kam aus Schlesien. Deshalb hatte der junge Mann sein Kuscheltier auch Zottlhaase genannt. Das kleine Kaninchen baumelte an seinem Rucksack.
Schon am nächsten Abend machte sich der Berggeist Rübezahl auf zum Brocken. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen seine Flügel auszubreiten und in den Harz zu fliegen, wie ein Engel, aber das war nicht Rübezahls Art. Er war der Berggeist Rübezahl und nicht irgendein übereifriger Engel. Engel? Ja! Rübezahl gehörte schon seit vielen hundert Jahren zu den Engeln. Er war schon da gewesen, als die ersten Mönche ins Riesengebirge gekommen waren. Mit den Mönchen war der Erzengel Michael gekommen. Aber Rübezahl brauchte keine Angst vor ihm zu haben. Er hatte ihn als Freund willkommen geheißen und das Knie vor ihm gebeugt. Er hatte sich Michael angeschlossen und sich einige Zeit später im Breslauer Dom taufen lassen. Die Friedenskirche in Schweidnitz, die Kirche Wang in Krummhübel und die vielen anderen Kirchen Schlesiens hatte Rübezahl im Laufe der Zeit oft besucht. Not lehrt Beten! Geteiltes Leid ist halbes Leid. Und geteilte Freude ist doppelte Freude. Und wer gläubig ist, wird die Hoffnung nie verlieren. Dass der bekannte Berggeist Rübezahl in Wirklichkeit ein Engel war, brauchten die Schlesier aber nicht zu wissen. Er war Rübezahl, vor dem sich Wegelagerer, Betrüger und Menschenschinder fürchteten. Er war Rübezahl, von dem sich Anständige, Rechtschaffene und Fromme in der Not Hilfe erwarten konnten. Und so setzte er sich auf den Rücken von Meister Isegrim, einem befreundeten Grauwolf, und ritt in der Nacht Richtung Westen. Es ging durch das Erzgebirge, den Thüringer Wald und schließlich nach Norden in den Harz. Hier verabschiedete sich das Reittier und lief heim ins Riesengebirge. Rübezahl aber stieg hinauf auf den Brocken, den höchsten Gipfel des Harzes, sah weit über das Land und horchte auf Freud und Leid der Menschen. Er hörte einen tiefen Herzensseufzer aus dem Ort Wernigerode. Und am schlesischen Zungenschlag erkannte Rübezahl, dass es sich um Gottfried, den jüngsten Sohn der Muttl handeln musste. So fuhr Rübezahl mit der Brockenbahn hinab ins Städtchen Wernigerode und fand auch bald Gottfrieds Haus. Gottfried erkannte sofort, wer da vor ihm stand. Diese Gabe hatte er von der Muttl geerbt. Und mit dem bisschen schlesisch, das er noch konnte, sagte er, wie einst seine Mutter: „Kummock nei in die gute Stube. Wir ham a Sträfla Sträselkucha und a wink Kaffe für dich.“
Während sie so vesperten erzählte Gottfried die traurige Geschichte seiner Tante. Sie hatte am Tag zuvor einen Zusammenbruch erlitten, als sie erfahren hatte, dass ihr Mann bei der Staatssicherheit gewesen war und viele anständige Menschen ans Messer geliefert hatte. Wie konnte man sich nur gegen alles Stellen, was gut und wichtig war im Leben. Gegen die Familie, gegen die Nachbarn, gegen die Freunde und gegen die Heimat. Ach! Gottfried seufzte nochmal. Die arme Tante. Und dann erzählte er dem guten Berggeist Rübezahl ihre Geschichte von der Flucht. Sie waren zunächst alle zusammen auf verschlungenen Pfaden zur Schwester hier nach Wernigerode gekommen. Aber hier konnten sie nicht bleiben. Die Schwester und ihr Mann konnten nicht 8 zusätzliche Mäuler stopfen. So ging es nach einiger Zeit weiter nach Westen. Sie strandeten schließlich in Ibbenbüren im Teutoburger Wald. Dorthin war auch der Vattl aus der Gefangenschaft gekommen. Er fand zwar gleich Arbeit an der Glashütte, aber die Gefangenschaft hatte aus ihm einen gebrochenen und verbitterten Mann gemacht. Er konnte nicht ohne seine schlesische Heimat sein. Er war bereits 1950 gestorben und die Muttl hatte sehr um ihn getrauert. Gerhard, der älteste Bruder, war bei der Muttl geblieben. Er hatte nie geheiratet, weil er die Muttl nicht allein lassen wollte. Wilhelm, der Zweitälteste, wurde zum Onkel nach Stendal geschickt und wurde Bauer in der Altmark. Ludwig, den Drittälteste, zog es ins Ruhrgebiet. Er wurde Dreher in einem großen Stahlwerk in Bottrop. Paul, der Viertälteste, war nach Amerika ausgewandert. Er lebte wie ein Einsiedler in der Einsamkeit der Rocky Mountains. Herbert, der fünfte Bruder, heiratete eine Rußlanddeutsche und lebte jetzt mit ihr in Kasachstan. Heinrich, der Zweitjüngste, war Zollbeamter in Görlitz, und der einzige in der Familie, der noch in Schlesien wohnte. Gottfried, das Nesthäkchen der Familie, war Pastor geworden in Wernigerode im Harz. Sein Lebenslauf war höchst unerfreulich. Nur weil er bei einem Geburtstag das Rübezahllied gesungen hatte, machten ihm die Behörden das Leben schwer. Und der Harz war nicht das Riesengebirge. Und die knorrigen Harzer waren nicht die kauzigen Schlesier. So hatte Gottfried nach einigen Jahren enttäuscht aufgegeben, sich ins Privatleben zurückgezogen und für die Tante gesorgt. Den Glauben hatte er nicht verloren und er weigerte sich auch standhaft sich hoffnungslos machen zu lassen. Dazu trug auch seine zweite Ehefrau Serafina aus Kuba bei. Ihre gemeinsame Tochter Charlotte, die der Muttl wie aus dem Gesicht geschnitten war, war die Freude ihres Lebens. Und da sie eine schöne Zottelmähne hatte, wurde auch sie Zottlhaase genannt. Eine Sache konnte er dem Berggeist Rübezahl doch noch mit einer Träne im Auge berichten. Die Muttl und die Brüder hatten immer zusammengehalten und die schlesische Heimat hatten sie immer in Ehren gehalten. „Nu? Und wo is die Muttl?“ fragte Rübezahl zum Abschied. Gottfried, der auch seine himmlischen Verbindungen hatte, antwortete: „Auf der Alm im Teutoburger Wald hockt ein Weib. Du musst vorbei an Teufelsklippen und Hexenküche im schönen Tecklenburger Land. Mehr darf ich dir nicht sagen. Befehl von unserem Chef im Himmel. Du verstehst?“
Alm? Hockendes Weib? Teufelsklippen? Hexenküche? Davon wusste der Berggeist Rübezahl nichts. Aber der Teutoburger Wald und das Tecklenburger Land ließen sich wohl finden. Und so begab er sich auf die lange Wanderschaft in den Teutoburger Wald. Er wanderte vorbei an den Externsteinen und dem Hermannsdenkmal bei Detmold. Und wenn er dem Hermannsweg folgen würde, würde er sicher auch irgendwann zu den Teufelsklippen, der Hexenküche und dem hockenden Weib kommen. Und tatsächlich traf er auf dem Hermannsweg einen Wanderer, der mit den Begriffen etwas anfangen konnten. Es handelte sich um Sagen aus dem Tecklenburger Land. Der Wanderer erzählte dem Rübezahl all die Geschichten, während sie auf dem Hermannsweg nach Westen wanderten. Bei der Geschichte vom hockenden Weib spitzte Rübezahl ganz besonders die Ohren. Es war die Geschichte einer Frau, die mit ihren Kindern am Fuße des Teutoburger Waldes unweit von Ibbenbüren wohnte. Eines Morgens kam eine große Flut und drohte alles zu verschlingen. Da flüchtete die Mutter mit ihren Kindern den Berg hinauf. Doch schon war das Wasser herangekommen und bedrohte ihr Leben erneut. Da hockte sich die Mutter hin und nahm die Kinder auf ihre Schultern. Sie betete: „Herr im Himmel, wenn ich auch ertrinken muss, lass meine Kinder leben!“ Während sie das sagte erstarrte sie zu Stein. So entstand die Felsformation, die man heute „Das hockende Weib“ nannte. Die Kinder der Mutter aber wurden gerettet.“ Dahin musste der Rübezahl. Es war nicht mehr weit. In Tecklenburg verabschiedete sich der Wanderer und sagte: „Nimmock an Gruss mit! Ich weiß, wer du bist!“ Als er angekommen war, kletterte der Berggeist Rübezahl auf das hockende Weib und sah weit ins Münsterland und horchte auf Freud und Leid der Menschen. Ob es hier wohl Schlesier gab? Und ob! Ein ganzer Wortschwall kam ihm da aus nächster Nähe entgegen. In der Almhütte neben dem hockenden Weib war eine Geburtstagsgesellschaft. Von dort hörte Rübezahl viele schlesische Wortfetzen. Und von dort hörte er auch die lange vermisste Stimme der Muttl. Sie feierte ihren Geburtstag in der Almhütte und ihre ganze Familie war gekommen. Es war eine stattliche, bunte Truppe, und sie waren gerade dabei mit großer Inbrunst Muttls Streuselkuchen zu essen und Kaffee zu trinken. Gottfried, der Rübezahl gleich gesehen hatte, rief: „Rübezahl, kummock nei in die Stube. Wir ham och a Sträfla Sträselkucha, Kaffee und an Stonsdorfer für dich.“ Die Muttl schaute und staunte. Ja, er war es wirklich, der Berggeist Rübezahl aus dem Riesengebirge. Er war den weiten Weg aus dem Riesengebirge gekommen und hatte sie gefunden. Er setzte sich zu der Gesellschaft und sie vesperte den ganzen Nachmittag lang. Der Berggeist Rübezahl erzählte von der Galizierin Małgorzata Olszewska, die jetzt im Gehöft neben der Kirche Wang wohnte, und vom Leben im schönen, alten Riesengebirge. Und Muttl erzählte von ihrer Ankunft im Tecklenburger Land, von der schlechten Unterbringung bei einem Bauern, von Hunger und Prügel für die Söhne wegen ihres Dialekts, von Benachteiligung beim Amt und der Sehnsucht nach der schlesischen Heimat. Sie erzählte auch von den Kirchengemeinden, wo die Pastoren und Priester nie einen Unterschied zwischen den Einheimischen und den Heimatvertriebenen gemacht hatten. Das hatte Muttl ihnen immer hoch angerechnet. Und mit der Zeit gehörte man dazu. Die Heimatvertriebenen wurden zu Ibbenbürenern. Die Muttl aber hatte ihren schlesischen Dialekt nie abgelegt. Und jetzt im Alter gab es nicht mehr viele, die mit ihr „pauern“ konnten. Aber die Familie hielt zusammen. Das war ihre Freude. Manchmal hatte sie sich gefragt, wo denn ihre Heimat sei. Im Riesengebirge oder hier im Tecklenburger Land, wo sie so viele Jahre ihres Lebens verbracht hatte? Es war doch derselbe Himmel. Es waren dieselben Holzpantinen, dieselben Blaubeeren, dieselben Kuhfladen, derselbe Geruch von Heu wie in Schlesien. Aber…? Der Berggeist Rübezahl zeigte in die Runde. Und wieder redete er wie mit Engelszunge – und wieder in bestem Hochdeutsch, sodass alle es verstehen konnten – „Sieh, dort drüben ist das hockende Weib. Die Mutter hat alles gegeben für ihre Familie. Das hast du auch gemacht, wie so viele andere Heimatvertriebe. Väter und Mütter. Sie haben die Last getragen. Und hier sind wir nun alle versammelt, um deinen Geburtstag zu feiern. Deine Familie. Deine Heimat. Mit Geld nicht zu bezahlen. Also: Schicket euch in die Zeit. Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet. – Lasst uns dafür danken und darauf einen Stonsdorfer trinken!“ „Auf das Leben!“ riefen alle und tranken den Stonsdorfer. Und dann sangen sie das Rübezahllied .
1. Hohe Tannen weisen die Sterne
An der Iser in schäumender Flut.
Liegt die Heimat auch in weiter Ferne,
Doch du, Rübezahl, hütest sie gut.

2. Hast dich uns auch zu eigen gegeben,
Der die Sagen und Märchen erspinnt,
Und im tiefsten Waldesfrieden,
Die Gestalt eines Riesen annimmt.

3. Komm zu uns an das lodernde Feuer,
An die Berge bei stürmischer Nacht.
Schütz die Zelte, die Heimat, die teure,
Komm und halte bei uns treu die Wacht.

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