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geschrieben 2018 von Michaela (Michaela.__).
Veröffentlicht: 01.01.2020. Rubrik: Persönliches


Nine Eleven

Ich kann mich noch genau an diesen Dienstag erinnern, als wäre es gestern gewesen.
Ich, neun Jahre, saß in der Klasse, verzweifelt und unmotiviert, über einer Mathe-Aufgabe, die ich nicht verstand und die ich auch nach dem zehnten Mal rechnen und Fingerzählen aufgrund meiner Dyskalkulie nie bezwungen hätte.
Es war die letzte Stunde an diesem Tag, alle anderen waren schon fertig, quatschten und quasselten, und warteten darauf, endlich nach Hause gehen zu können. Nur mir standen die Tränen in den Augen. Ich kapierte diese Aufgabe nicht. Nachdem mich Frau Fellinger, meine Klassenlehrerin, eine zeitlang beobachtet hatte, kam sie auf mich zu, legte wie so oft ihre Hand auf meine Schulter und sagte: „Stimmts, Michi, es geht nicht, oder?“ Ich nickte beschämt, sie nahm sich einen Stuhl und nahm neben mir Platz. Vorher beendete sie noch die Stunde für meine Klassenkameraden mit den Worten: „Ihr wisst ja, dass Michi immer etwas länger braucht. Somit endet die Stunde heute früher. Ich wünsche euch einen schönen Nachmittag!“ Meine Mitschüler rannten freudig aus dem Raum, und ich blieb mit meiner Lehrerin zurück. Mit Engelsgeduld erklärte sie mir wie so oft die Textaufgaben, an denen ich gescheitert war. Ich war gerade vertieft in einer Aufgabe, sodass ich nicht merkte, dass es an der Klassentür geklopft hatte. Ich blickte erst auf, als Frau Fellinger meinte: „Ich muss kurz ins Sekretariat. Mach einfach weiter, Michi, ich komme gleich wieder!“ Ich nickte, konzentrierte mich aber sofort wieder auf die Aufgabe und sie verließ den Raum.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wiederkam. Ich hatte inzwischen fünf Aufgaben gemacht und hatte das Gefühl, sie auch richtig gelöst zu haben, und so wollte ich ihr diese stolz präsentieren. Ich sah auf meine rote Armbanduhr und war mir sicher, dass sie bestimmt 30 Minuten weg war. Ich packte meine Sachen und beschloss, ins Sekretariat zu gehen, als sich die Tür öffnete und Frau Fellinger den Raum betritt.

Aber sie war verändert. Ihre Haare waren zerrauft, sie war blass und in ihren Augen standen Tränen. „Liebe Michi. Ich kann leider jetzt und heute nicht mehr weitermachen, also ist auch für dich für heute die Schule zu Ende.“ Ich hatte zu und mit Frau Fellinger ein sehr gutes Verhältnis, von dem manche behaupteten, dass es weit über das Lehrer-Schüler-Verhältnis hinausging, und so kam es oft vor, dass sie mir Privates im Rahmen unserer Nachhilfestunden erzählte. Darum wusste ich, dass ich es fragen konnte. Sie hatte sich gesetzt, stütze ihr Gesicht in die Hände und ich ging auf sie zu und fragte vorsichtig: „Was ist passiert?“ Sie sah mich an, nun standen dickere Tränen in ihren Augen, ein Schluchzer durchfuhr sie, und nach einigen Minuten antwortete sie mir: „Ich hab dir ja vor einigen Tagen erzählt, dass mein Bruder in New York ist. Und genau dort ist heute …“ – sie schluchzte laut auf – „etwas ganz Schreckliches geschehen.“ Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und erzählte dann weiter: „Ich habe euch ja vor einigen Tagen von den zwei großen Türmen in New York, dem World-Trade-Center, erzählt. In diese sind heute Vormittag zwei Flugzeuge, vermutlich mit Absicht, reingeflogen. Beide Türme sind zusammengestürzt, viele Menschen sind verletzt und noch einige mehr tot. Von meinem Bruder fehlt jede Spur!“ Wieder schluchzte sie laut auf und ich konnte nicht anders, als sie zu umarmen. Auch wenn ich im Moment nur die Hälfte von dem begriff, was sie sagte, erschütterte es mich zutiefst.

Auf dem Heimweg ging mir nur Flugzeugabsturz und „in Gebäude reingeflogen“ durch den Kopf. Ordnen konnte ich es nach wie vor nicht.
Zuhause angekommen, riss ich die Wohnungstür auf und schrie sogleich: „Mama, Mama, es ist was ganz Schlimmes passiert!“ Meine Mutter stand in der Küche, kochte und verstand meine lauten und aufgebrachten Rufe nicht. „Was ist denn los, warum schreist du denn so?“, frage sie verständnislos, während sie sich die Hände an einem Geschirrtuch abtrocknete. Anscheinend hatte sie es noch nicht gehört, so erzählte ich ihr in wenigen Worten, was mir Frau Fellinger gesagt hatte. Meine Mutter schüttelte nur ungläubig den Kopf, natürlich glaubte sie mir so etwas nicht, und tat es mit den Worten „Da hast du etwas falsch verstanden“ ab.
Das Essen war fertig, eigentlich mein Lieblingsgericht, aber ich konnte mich nicht konzentrieren.
Das, was ich von Frau Fellinger gehört hatte, ging mir nicht mehr aus dem Kopf.

Am Abend konnte ich Stück für Stück begreifen, was an diesem Tag wirklich in New York geschehen war. Die Nachrichten zeigten Bilder, die sich für immer in meinen Kopf gebrannt hatten. Brennende, einstürzende Türme, schreiende Menschen, die verletzt waren, tote Menschen, die zugedeckt und abtransportiert wurden. Ich saß schockiert vor dem Fernseher und konnte es nicht verstehen. Schnell war von einem Terroranschlag die Rede. Ich verstand es damals ebenfalls nicht, was das zu bedeuten hatte, aber meine Mutter erklärte es mir kurz. Die Tränen standen mir in den Augen, während ich auch an Frau Fellingers Bruder dachte, der da wohl mittendrin und verschollen war.

Das mit dem Bruder klärte sich am nächsten Morgen bereits und zum Glück auf. Erleichtert erzählte sie uns, dass er in einem Meeting außerhalb New Yorks war und er sich nicht melden konnte, da das Netz zusammengebrochen war. Ihm ging es soweit gut, stand aber, wie Tausend andere Menschen in NY und auf der ganzen Welt, unter Schock und konnte noch nicht realisieren, was geschehen war.

Nach und nach erfuhr man, dass es tatsächlich ein Terroanschlag war, für den die Al-Qaida verantwortlich gemacht wurde.

Vier Tage später, am 14.09. hielt die Stadt Wels eine Schweigeminute und in der Kirche gegenüber unserer Schule wurde ein Gedenkgottesdienst abgehalten, den auch wir, die Schülerinnen und Schüler, besuchen konnten. Ich war natürlich auch dabei.

Das, unser, Leben ging weiter, aber diese Bilder hatten sich für immer eingebrannt, die ich wohl kaum je wieder wegkriegen werde.

Heute jährt sich das Unglück zum 17. Mal, und genau heute hatte ich einen Flashback – ich sah mich in der Klasse sitzen, Frau Fellinger gegenüber mir, und war an den Tag vor 17 Jahren zurückkatapultiert.
Nein, ich werde es nie vergessen, und möge sich so etwas nie wieder ereignen.

ENDE

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