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6xhab ich gern gelesen
geschrieben 2020 von Christine Todsen.
Veröffentlicht: 30.09.2020. Rubrik: Menschliches


Das Schatzkästchen der Großmutter

Hannah war traurig. Ihre geliebte Großmutter war gestorben, und jetzt musste sie deren Haushalt auflösen.

Die junge Frau war der Großmutter dankbar dafür, dass diese – als sie erfahren hatte, dass sie nicht mehr lange leben würde – die Haushaltsauflösung bereits mit ihr besprochen hatte. Unter anderem hatte sie gesagt: „Dabei wirst du auch den Keller ausräumen müssen. Mach das gleich am Anfang, dann hast du’s hinter dir! Und geh nicht allein in den Keller, nimm deine Freundin Alina und ihren Bruder Leon mit!“ Das war der Enkelin sehr recht, denn in dem dunklen Altbaukeller hatte sie sich stets gegruselt.

Mit ihren beiden Begleitern stieg Hannah die Treppe hinab. Der düstere, nur von einer einzigen flackernden Deckenlampe erhellte Keller erschien ihr noch grauslicher, als sie ihn ohnehin schon in Erinnerung hatte. Alina ging es genauso. Nur Leon, der drei Jahre älter war als die beiden Freundinnen, verspürte keine Angst vor dem Ort.

Alte Schränke standen an den Wänden, rochen modrig und sahen für Hannah so aus, als würden ihnen im nächsten Augenblick Gespenster entschlüpfen. Zum Glück hatte Leon sich bereiterklärt, zunächst allein die Schränke zu inspizieren. Während Hannah und Alina schaudernd am Fuß der Treppe warteten, öffnete er die Türen und leuchtete mit seiner Taschenlampe hinein.

Schon bei der zweiten Tür rief er überrascht: „Nanu!“ Von den beiden jungen Frauen mit einer Mischung aus Grusel und aufgeregter Neugier beobachtet, griff er in den Schrank und förderte einen verschlossenen kleinen Kasten mit der eingravierten Aufschrift „Schatzkästchen“ sowie einen Briefbogen zutage. Beides überreichte er Hannah.

Das Blatt trug die Schrift ihrer Großmutter:

Liebe Hannah, dieses Kästchen mitsamt Inhalt ist für Dich, aber zuerst musst Du den Schlüssel finden. Er liegt in meiner Bücherwand hinter einem Buch, dessen Titel fünf Buchstaben hat. Es sind die Anfangsbuchstaben der folgenden Namen. Wie hieß bzw. heißt… 1.) das Lieblings-Kuscheltier Deiner Kindheit? – 2.) Deine Patentante? – 3.) Deine beste Freundin in der Grundschule? – 4.) der Geburtsort Deines Vaters? – 5.) Dein Lieblings-Reiseland?

Obwohl Hannah nicht laut gelesen hatte, spürten Alina und Leon, dass der Brief verwirrend war. „Sollen wir morgen noch mal wiederkommen? Möchtest du jetzt allein sein?“, fragte Alina. Dankbar nickte Hannah.

Als die beiden gegangen waren, kehrte sie in die Wohnung der Großmutter zurück. Das Kästchen in ihrer Hand war ganz leicht. Wenn man es bewegte, hörte man nichts. Schmuck schien es nicht zu enthalten. Vielleicht einen Geldschein? Mit den Fragen im Brief hatte die Großmutter wohl sicherstellen wollen, dass niemand außer Hannah den Schlüssel fand. Aber warum hatte sie das Kästchen im Keller versteckt?

Nun beantwortete Hannah die Fragen, um den Buchtitel herauszufinden. „Hasi – Elke – Inga – Dortmund – Italien – HEIDI!“

Tatsächlich lag in der Bücherwand hinter dem Kinderbuchklassiker ein kleiner Schlüssel. Er passte. Als Hannah ihn im Schloss des Kästchens umgedreht hatte und den Deckel hochhob, sah sie, dass der Inhalt aus einem einzigen weiteren Briefbogen in der Schrift der Großmutter bestand. Enttäuscht und verständnislos nahm sie ihn zur Hand, doch ihr Gesichtsausdruck wandelte sich, während sie las:

Liebe Hannah, Du hast in diesem Schatzkästchen wahrscheinlich einen Schatz anderer Art erwartet. Daher will ich Dir erklären, warum ich es im Keller versteckt habe und Dich bat, mit Alina und Leon in den Keller zu gehen. Vermutlich hat Leon das Kästchen gefunden, weil er als einziger von Euch keine Angst vor dem Keller hat. Aber dafür hat er Angst vor etwas anderem. Ich weiß, dass er Dich liebt und nicht wagt, es Dir zu gestehen, weil Du ihm so unnahbar erscheinst. Gib ihm eine Chance! Ich könnte mir keinen besseren Mann für Dich vorstellen. Liebe ist der größte Schatz! Deine Oma

Fast auf den Tag genau ein Jahr später traten Hannah und Leon ans Grab der Großmutter auf dem kleinen Friedhof neben der Kirche. „Danke, Oma!“, flüsterte Hannah lächelnd und legte ihren Brautstrauß auf das Grab.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Weißehex am 30.09.2020:

Eine süße Geschichte. Mit einem solchen Ende habe ich nicht gerechnet.




geschrieben von Christine Todsen am 30.09.2020:

Danke, Weißehex! Ursprünglich hatte ich die Geschichte für den Kurzgeschichten-Wettbewerb eines Verlags zum Thema „Schatz“ geschrieben. Leider ohne Erfolg, wie ich heute erfuhr. Gut, dass sie HIER gefällt :-)

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