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6xhab ich gern gelesen
geschrieben 2022 von Christine Todsen.
Veröffentlicht: 16.08.2022. Rubrik: Grusel und Horror


Auf der Brücke

Lydia genoss den langen Urlaub in dem Gebirgsdorf. Sie ging viel spazieren, wobei sie jedoch stets darauf achtete, ungefährliche Wege zu wählen, die weder zu steil noch zu abgelegen waren.

Als sie gerade die Brücke über die Eisenbahnschienen betreten hatte, hörte sie einen gellenden Schrei und sah aus den Augenwinkeln einen Körper von einem Felsen hinunter auf die Schienen fallen, genau vor einen herannahenden Zug. Dieser stoppte nicht, sondern fuhr im gleichen Tempo weiter. Als er unter der Brücke hindurchgefahren war, wagte Lydia kaum, dorthin zu schauen, wo der Körper aufgeschlagen sein musste. Doch sie musste mit ihrem Handy den Notruf wählen und der Polizei alles berichten. Deshalb nahm sie sich zusammen, schaute auf die Schienen … und erblickte statt des erwarteten Schreckensbildes nur ein weißes, säuberlich zusammengelegtes Tuch!

Verwirrt rief Lydia die Polizei an und stammelte: „Ich bin hier auf der Brücke…“

Sofort sagte der Beamte mit beruhigender Stimme: „Haben Sie jemanden springen sehen? Und lag nachher ein Leichentuch auf den Schienen? Da brauchen Sie keine Angst zu haben. Das ist eine Halluzination. Die hat fast jeder hier schon gehabt. Gucken Sie noch mal hin, inzwischen müsste das Tuch schon wieder weg sein.“

Lydia tat, worum der Polizist sie gebeten hatte, und bestätigte fassungslos: „Stimmt!“ Dann fragte sie ihn: „Woher kommt denn diese Halluzination?“

Seufzend erwiderte er: „Das ist eine lange Geschichte. Aber jeder hier in der Gegend kennt sie. Sie sind wohl hier im Urlaub? Fragen Sie mal in Ihrem Hotel, oder wo Sie sonst wohnen. Danke für Ihren Anruf, schönen Tag noch!“

*

„Sie Arme!“ Frau Huber, Lydias Pensionswirtin, war voller Mitleid. „Ich hätte Sie vor der Brücke warnen sollen. Auch ich habe diese Erscheinung schon mindestens dreimal gehabt, aber wenn man sich dran gewöhnt hat, denkt man nicht mehr dran…“

„Und was hat es damit auf sich?“, fragte Lydia gespannt. Sie hatte sich jetzt soweit beruhigt, dass sie die Sache eher als spannende Gruselgeschichte denn als Bedrohung empfand.

„Vor ungefähr zwanzig Jahren“, erzählte Frau Huber, „machte ein Pärchen aus irgendeiner Großstadt hier Urlaub. Ich kannte nur ihre Vornamen: Sandy und Paul. Eines Tages meldete Paul mit entsetzter Stimme, dass Sandy verschwunden war. Sie hätten Streit gehabt, und er befürchtete, sie könne sich von einem Felsen auf die Schienen geworfen haben und von einem Zug überrollt worden sein. Die Polizei suchte nach sterblichen Überresten, fand aber nichts. Später verschwand auch Paul und hinterließ einen Abschiedsbrief, worin er gestand, Sandy vom Felsen gestoßen zu haben. Dies bereue er inzwischen und werde sich, um seine Schuld zu sühnen, jetzt selber vor einen Zug werfen.“

Lydia brauchte einige Minuten, um dies alles zu verarbeiten. Dann fragte sie: „Und? Sind die beiden tatsächlich tot? Oder haben sie nur ein Märchen erfunden, um irgendwo unter anderem Namen ein neues Leben anzufangen? Und vor allem: Wie erklärt dies die Halluzinationen auf der Brücke?“

„Tja, jetzt wird’s kompliziert“, seufzte die Pensionswirtin. „Auch von Paul fand man keine sterblichen Überreste. Etwa ein Jahr nach seinem Verschwinden begannen die Erscheinungen. Wir konnten sie uns nicht erklären und fragten schließlich einen Para… wie heißt das noch…“

„Einen Parapsychologen?“

„Richtig. Dieser vermutete etwas, stellte Nachforschungen an und fand schließlich heraus, dass Paul und Sandy ihren Tod vorgetäuscht und sich ins Ausland abgesetzt hatten. Dort jedoch wurden sie einige Monate später bei einem Unfall tatsächlich getötet. Nun meinte der Experte, ihre Seelen fänden keine Ruhe und müssten die angebliche Todesart immer wieder durchlaufen.“

„Gruselig!“ Lydia war geschockt. „Gibt es denn keine Möglichkeit, dies zu beenden?“

„Wir haben schon einiges versucht, zum Beispiel indem wir für ihre Seelen beteten. Aber wenn diese nichts vom Beten halten, kann man ihnen damit offenbar auch nicht helfen.“

„Man müsste sie zumindest dazu bringen, mit ihrem Problem keine Unschuldigen zu belasten. Um es grob zu sagen: Wenn die beiden keine Ruhe finden, ist mir das egal, aber sie dürfen keine Halluzinationen bei anderen mehr hervorrufen. Wie wäre es, wenn man oben auf dem Felsen, von wo aus sie angeblich herunterfielen, ein hohes Gitter errichten würde?“

Frau Huber staunte. „Das fände ich großartig! Der Bürgermeister ist mein Schwager, ich werde ihn sofort anrufen!“

*

Kurze Zeit später war Lydia die Heldin des Dorfes. Nachdem das von ihr vorgeschlagene Gitter angebracht worden war, hatten die Halluzinationen aufgehört. Man feierte Lydia und räumte ihr das Recht ein, lebenslang kostenlos im Dorf Urlaub zu machen.

Am Tag vor ihrer Abreise erfuhr sie, dass das Gitter nicht nur die übersinnlichen Erscheinungen beendet, sondern auch einen realen Unfall verhindert hatte. „Ich bin ausgerutscht“, berichtete jemand, „und wäre in die Tiefe gestürzt, wenn das Gitter nicht dort gestanden hätte! Seltsam, dass die Betrügereien dieses Pärchens über tausend Umwege doch noch etwas Gutes bewirkt haben!“

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Weißehex am 19.08.2022:
Kommentar gern gelesen.
Eine wunderschöne Geschichte mit Gruselelementen. Und am Schluss wird alles gut - solche Geschichten mag ich sehr gerne.

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