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geschrieben 2019 von Der Denker.
Veröffentlicht: 06.01.2019. Rubrik: Nachdenkliches


Am Ufer des Flusses

Am Ufer des Flusses

Sie ist kalt.
Sie ist der turbulente Fluss im waldigen Gebirge.
Sie sprudelt, sie spritzt, ohne Rücksicht auf Hindernisse, ohne Rücksicht auf treibendes Geäst, ohne Rücksicht auf das Kanu, das sich ihren Wellen ergibt.
Standhafte Felsen wirbeln sie auf, schubsen sie umher, leisten ihr Widerstand.
Und doch kommt sie vorwärts, ohne Rücksicht, ohne Sicht auf die Welt hinter ihr, immer weiter vorwärts.
Sie ist der turbulente Fluss im waldigen Gebirge.
Und sie ist kalt.
Die, die nur nach vorne schaut, die nur nach vorne strömt.
Die, die unschuldig und doch verantwortlich ist. Verantwortlich, für die Geschichten, die auf ihr schwimmen, für das kalte Wasser, das sie mit sich bringt, für die Tiere, die sie mit sich reißt, für die Menschen, die sie in sich ertränkt.
Sie lässt sich gehen, getrieben von physikalischen Mächten, von der Schwerkraft, die sie bewegt, von der Sehnsucht nach Stillstand, nach der Ruhe im Tal.
Und doch, im Kampf mit den Felsen, dem steinigen Grund, den Engpässen, wird sie verändert, gar verformt.
Ihre springenden Wellen, ihr wirbelnder Körper verschmelzen zum Bild einer anmutigen Tänzerin. Sie tanzt wie eine Marionette, geführt von den Händen des Schicksals.
Und sie spricht. Sie flüstert, sie schreit in die Stille des Waldes hinein. Ihr Rauschen hallt in die Ferne, hallt auf die Spitze des Berges, unter die Dächer der Tannen, in die unterkühlten Ohren eines verirrten Wanderers.
Ihr Rauschen hallt, bis es sich auf das Dickicht legt wie ein seidenes Tuch, und dort verstummt.

Ein einzelner Mensch steht an ihrem Ufer, unwissend über die grausamen und wunderschönen Orte, zu denen sie führen mag, und doch beeindruckt von ihrer Gestalt, ihrer Unschuld und den verborgenen Gefahren, die ihr innewohnen.
Dieser Mensch sieht nicht die Bäume, die an ihm vorbeirasen, die peitschenden Wellen, die ihn im Kanu umher schubsen, oder den tiefen Wasserfall, der vor ihm liegt.
Dieser Mensch sieht den Fluss von außerhalb, unwissend, und doch beeindruckt.
Er ist ein fester Punkt in der Brandung. Er betrachtet den Fluss auf die Art, auf die ein Photograph sein Foto, ein Künstler sein Gemälde, oder ein Kriminalpolizist das pausierte Überwachungsvideo betrachtet.

Und doch weiß er, dass das Kanu zu seinen Füßen für ihn bestimmt ist.
Er war mit diesem Boot hierher getrieben, hatte sich am Ufer festgehalten um auszusteigen.
Warum hatte er das getan?
Um den Fluss aus einer anderen Perspektive zu betrachten?
Um ihm für einen kurzen Augenblick entfliehen zu können?
Er weiß, dass dieser Moment nicht mehr lange anhalten wird.
Genauer gesagt: Du weißt es.
Schon während du begreifst, dass du am Ufer der Zeit stehst, schiebst du das Kanu zurück ins Wasser, dorthin, wo du zu Beginn dieses Textes ausgestiegen warst.
Und während deine Augen über die letzten Zeilen streifen, steigst du langsam wieder ein und treibst davon.

"The purpose of art is to stop time" - Bob Dylan

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Titelbild: Free-Photos / pixabay.com (public domain)

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