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geschrieben von Federteufel.
Veröffentlicht: 06.03.2024. Rubrik: Unsortiert


Herr Kabolka und die richtige Zeit zu speisen

Die hohe, freundliche Stimme kam mir bekannt vor. Ich drehte mich um. Herr Kabolka rannte mit heraushängender Zunge auf mich zu und sprang an mir hoch, jaulte und winselte, als habe ihn wochenlang niemand beschmust. Jetzt war auch sein Herrchen da, ein freundlicher Mensch aus dem 'Queeren Haus', eine Einrichtung der Stadt für allerlei außergewöhnliche Typen und diverse Künstler. Ich kannte ihn vom Sehen; ein Paarmal waren wir uns auf der Straße begegnet, wenn er, von Herrn Kabolka gezogen, spazieren ging.
Der Zug lief ein – mit einer halben Stunde Verspätung. Wir setzten uns in ein leeres Schwerbehindertenabteil.
„Wohin geht´s denn?“, fragte er.
„Nach W . . . g. Und wie sieht´s bei Ihnen aus?“
„Ich fahre nach H . . . n. zu einem wichtigen Termin.“
„Woher wussten Sie, dass der Zug eine halbe Stunde Verspätung hat? Sie sind doch erst kurz bevor der Zug einlief auf den Bahnhof gekommen. Oder täusche ich mich da?“
„Meine Verspätungs-App hat funktioniert“, antwortete er.
„Und wenn der Zug überhaupt nicht gekommen wäre? Ist bei dieser Bahngesellschaft keine Seltenheit.“
„Dann hätte ich den nächsten Zug genommen.“
„. . . und den Termin verpasst.“
Er lachte. „Wie kommen Sie denn darauf?“
Ich musterte ihn. Was mir im Vorbeigehen auf der Straße als struppiger Wildwuchs vorgekommen war, erwies sich bei näherer Betrachtung als sauber gestutzter Wochenbart. Seine Kleidung war leger, aber gepflegt.
Wieder lachte er laut und knarrig. „Ertappt! Wieder einer, der die Leute aus dem Queeren Haus für Vögel hält, die der Herr im Himmel ernährt. Da liegen Sie bei mir aber ziemlich daneben, mein Lieber. Ich bin Feinmechaniker und kann von meiner Kunst inzwischen gut leben.“
„Darf ich fragen, um welche Kunst es sich handelt?“
„Ja. Ich stelle künstlerisch gestaltete Sonnenuhren im Taschenformat her.“ Er griff in seine Reisetasche, zog ein mit Verzierungen versehenes Kästchen hervor und klappte es auf. Zum Vorschein kam eine winzige Sonnenuhr mit einer ebenso winzigen Kompass.
„Und davon können Sie leben?“, rief ich verblüfft, „wo doch die Welt von aller Arten mechanischer Uhren nur so wimmelt?“
„Anfangs war es schwer. Aber sein einiger Zeit kann ich mich über Mangel an Aufträgen nicht beklagen.“
„Wer kauft denn so etwas?“
„Die Kinder der Sonne“, antwortete er.

Der Zug hielt. Leute stiegen aus und ein. Ich blickte zur Bahnsteiguhr. Der große Zeiger schnellte gerade auf die volle Stunde.
„Sie blickten vorhin auf die Bahnsteiguhr“, fuhr mein Gegenüber fort, als der Zug wieder rollte, „was erwarteten Sie?“
Ich blickte ihn verständnislos an. „Ich verstehe Ihre Frage nicht.“
„Warum blickten Sie zur Uhr?“
„Na, warum wohl! Ich wollte die Zeit wissen.“
„Welche?“
„Die Mitteleuropäische Sommerzeit.“
„Und, sind Sie mit der Auskunft zufrieden?“
Also doch, dachte ich. Ein Hallodri, der sich mit dem Outfit eines Normalbürgers tarnt. Welcher normale Mensch nennt denn seinen Hund auch Herr Kabolka. Um ihn nicht zu verärgern, sagte ich: „Ich denke doch.“
Herr Kabolka, der schon seit etlichen Minuten auf meinen Knien lag und schlief, stöhnte kurz auf.
„Die einzige Bahnhofsuhr, die in Deutschland die wahre Zeit anzeigt“, erklärte der Mann, „ist die auf dem Bahnhof in Görlitz. Alle anderen Uhren lügen, um es mal krass auszudrücken. Ich kann nicht verstehen, warum sich die meisten Leute von Lügenautomaten tyrannisieren lassen. Da blickt einer zur Uhr und greint, dass ihm die Zeit davonläuft. Was er oder sie noch alles erledigen wollte, und dass es dafür schon zu spät ist, und so weiter und so fort. Ja wie bescheuert ist das denn? Zu spät ist es nie. Wichtig ist, dass man tut, was man sich vorgenommen hat. Wann ist doch egal. Aber davon ganz abgesehen. Der Gute hatte gar keinen Grund zur Klage. Er hat nur der falschen Uhr vertraut.“
Ich überlegte, ob ich mich diesem Schwachsinn noch weiter aussetzen sollte. Aber irgendwie faszinierte mich der Kerl mit seiner seltsamen Logik.
„Wie meinen Sie das denn nun wieder?“, fragte ich.
„Auch das ist so eine Sache“, antwortete er, „bei der man sich über die Gutgläubigkeit der Leute nur wundern kann. Sie denken, das, was sie sehen, sei die Wirklichkeit. Ganz falsch. Das Wirkliche ist für unsere Augen unsichtbar. Sehen Sie, wenn die Görlitzer Bahnhofsuhr 12 Uhr Mittag zeigt, dann steht dort die Sonne genau im Süden. Aber, sagen wir in Hannover, tritt der Mittagsstand der Sonne erst etwa eine halbe Stunde später ein, weil Hannover erheblich weiter westlich liegt. Nun werden aber seit über hundertfünfzig Jahren alle Uhren in Deutschland nach der Görlitzer Zeit gestellt. Hinzu kommt noch die Umstellung auf die Sommerzeit.“
Er ah mich lächelnd an. „Verstehen Sie?“
„Nicht im Geringsten“, gestand ich.
„Die Bahnsteiguhr eben zeigte zwölf Uhr Mittag an. Das war die Görlitzer Zeit, nicht die wahre Zeit jenes Ortes, die so genannte Sonnenzeit. Zwölf Uhr Mittag Ortszeit ist es dort erst gut anderthalb Stunden später.“
„Sie meinen!“, stammelte ich, „wenn dieser Mensch, hä?, auf eine Sonnenuhr geschaut hätte, hätte er festgestellt, das es keineswegs schon zehn Uhr ist, sondern erst halb neun Ortszeit, und er hätte sich noch die Zeit nehmen können, in Ruhe einige Dinge zu erledigen.“
„Genau das meine ich.“
„Aber wie soll das denn gehen? Wer hat denn schon eine Sonnenuhr an der Wand! Und wenn, wer kann heutzutage nach der Sonnenuhr leben?“
Allmählich dämmerte es mir. Der Kerl wollte mir eine seiner Mini-Sonnenuhren andrehen.
„Wenige!“, rief er fröhlich, „zu wenige! Aber es werden täglich mehr. Immer mehr Zeitgenossen gönnen sich den Luxus, an arbeitsfreien Tagen mit Hilfe meiner Produkte nach der Sonne zu leben. Der Mensch ist ein Kind der Sonne, nicht der Automaten.“
Der Zug hielt. Der Hund sprang von meinen Knien und bellte kräftig, wobei er sein Herrchen eifrig wedelnd ansah.
„Hören Sie? Herr Kabolka möchte speisen“, sagte Herrchen und schüttete Hundefutter in einen Napf. „Seine innere Uhr sagt ihm, dass es zwölf Uhr Mittag Ortszeit ist, egal, wo wer sich gerade befindet.“
Bevor ich das Abteil verließ, sagte der seltsame Sonnenuhrmacher: „Wollen Sie nicht auch eines dieser hübschen Zeitmesser erwerben? Sie werden es bestimmt nicht bereuen. Es ist herrlich, wenigstens ein paarmal im Jahr nach der Sonne zu leben und nicht nach dem Willen eines britischen Vermessungsbeamten.“

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Jens Richter am 08.03.2024:

Hallo Federteufel,
in Deiner Geschichte hast Du das Phänomen Zeitverschiebung sehr anschaulich beschrieben und in eine witzige Geschichte verpackt.
Deine Geschichte ist gut dazu geeignet, um das Thema Zeitzonen im Unterricht zu vermitteln.
Sehr gern gelesen!
Liebe Grüße von Jens

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