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3xhab ich gern gelesen
geschrieben 2019 von Christine Todsen.
Veröffentlicht: 25.02.2019. Rubrik: Märchenhaftes


Leonie

Als Leonie drei Jahre alt war, starben ihre Eltern bei einem Autounfall. Leonie, ihr einziges Kind, wurde von ihrer 45-jährigen Tante Gerda aufgenommen, der unverheirateten Schwester ihres Vaters. Andere Verwandte gab es nicht mehr. Tante Gerda war zwar streng, aber auch liebevoll, und da Leonie sich später nicht mehr an ihre Eltern erinnern konnte und nur das Leben bei Gerda kannte, verlebte sie im Großen und Ganzen eine glückliche Kindheit und Jugend.

Als Gerda im Alter von 65 Jahren plötzlich und unerwartet einem Herzinfarkt erlag, war das für Leonie ein schwerer Schicksalsschlag.

In Gerdas Testament war Leonie zur Alleinerbin bestimmt worden. Besonders hoch war der Wert des Nachlasses allerdings nicht.

Als sie bei der Haushaltsauflösung eine Schublade ausräumte, stutzte sie plötzlich. Ein Briefumschlag trug die Aufschrift: An Leonie, erst nach meinem Tode zu öffnen!

Mit klopfendem Herzen schlitzte sie den Umschlag auf. Er enthielt fünf 200-Euro-Scheine und einen Brief. Beim Lesen des Briefes musste sie immer wieder Pausen einlegen und starrte am Schluss erschüttert und verwirrt zu Boden. Er lautete:

Liebe Leonie,

hiermit verrate ich Dir ein Geheimnis, das ich zu Lebzeiten nicht über die Lippen brachte. Mit achtzehn habe ich eine Tochter bekommen und sie zur Adoption freigegeben. Ihr Erzeuger hatte mich verlassen, und ich wollte kein uneheliches Kind haben. Später tat mir das sehr leid. Ich war froh, dass ich dann für Dich sorgen durfte und meinen Fehler damit etwas wiedergutmachen konnte. Nun meine Bitte an Dich. Ich weiß nicht, wie Lora (so nannte ich sie) heute heißt und wo sie lebt. Könntest Du versuchen, sie zu finden? Sie wurde am 1. März 1971 im hiesigen Städtischen Krankenhaus geboren. Falls Du sie ausfindig machen kannst, dann gib ihr bitte die beiliegenden tausend Euro und sag ihr, dass ich es sehr bereue, sie weggegeben zu haben, und ihr alles erdenklich Gute wünsche. Solltest Du sie nach einem halben Jahr immer noch nicht gefunden haben, darfst Du das Geld behalten.

Deine Tante Gerda

Nur langsam konnte Leonie ihre Gedanken und Gefühle ordnen. Von der Tragik in Tante Gerdas Leben hatte sie nicht das Geringste geahnt. Und nun sollte sie also diese Lora ausfindig machen und ihr das Geld geben. Tausend Euro…

In ihrer Seele rumorte es. „Kein Mensch“, flüsterte ein Teufelchen ihr zu, „weiß etwas von diesem Geld. Steck es ein, du bist die Alleinerbin!“

„Nein“, ließ sich ein Engelchen vernehmen, „der liebe Gott sieht alles, und unrecht Gut gedeihet nicht!“

Seufzend beschloss Leonie schließlich: „Ich werde versuchen, sie zu finden, hoffe aber, dass das nach einem halben Jahr immer noch nicht geklappt hat und ich das Geld behalten darf!“ Missmutig setzte sie sich an den Computer, um zu googeln. Ich bin wohl die einzige Userin der Welt, die hofft, etwas nicht zu finden, dachte sie.

Doch schon bald entdeckte sie eine Lora Brinkmann, die nur vierzig Kilometer entfernt wohnte und unzweifelhaft die Gesuchte (oder, aus Leonies Sicht, „Nicht-Gesuchte“) war. Sie war 1971 geboren, tummelte sich mit zahlreichen Einträgen und Fotos im Internet und glich Tante Gerda aufs Haar. Auch ihre Postadresse fand sich online.

Leonie verabschiedete sich in Gedanken bereits von den 1000 Euro, als sie neue Hoffnung schöpfte. Lora, die offenbar zu denjenigen gehörte, die im Netz ihr Privatestes ausplaudern, hatte in einem Adoptionsforum geschrieben: „Mit meiner Ursprungsfamilie möchte ich nichts mehr zu tun haben!!!“

Hm, dachte Leonie, dann möchte sie hoffentlich auch nicht deren Geld…?

Schließlich schrieb sie ihrer biologischen Cousine:

Sehr geehrte Frau Brinkmann,

im Internet las ich, dass Sie (geboren am 01.03.1971 und danach zur Adoption freigegeben) mit Ihrer Ursprungsfamilie nichts mehr zu tun haben wollen. Trotzdem möchte ich Ihnen hiermit mitteilen, dass Ihre leibliche Mutter, Frau Gerda Wagner, kürzlich im Alter von 65 Jahren verstorben ist. Sie hat mir, ihrer Nichte, einen Brief hinterlassen, in dem sie ihre tiefe Reue darüber ausdrückt, Sie nicht behalten zu haben, und Ihnen alles erdenklich Gute wünscht. Außerdem bat sie mich, Ihnen 1.000,-- Euro zu überweisen. Falls Sie das Geld annehmen möchten, teilen Sie mir bitte Ihre Bankverbindung mit.

Mit freundlichen Grüßen
Leonie Wagner

Schon zwei Tage später kam eine Antwort.

Sehr geehrte Frau Wagner,

mit meiner biologischen Ursprungsfamilie wünsche ich in der Tat keinen Kontakt. Den Betrag in Höhe von 1.000,-- Euro wollen Sie auf mein untengenanntes Konto überweisen.

Lora Brinkmann

Leonie war tief enttäuscht. Nicht nur wegen des Geldes, das sie gern behalten hätte, sondern auch wegen des kalten Tones. Nun ja, dachte sie, vielleicht wäre ich in ihrer Situation genauso. Ich werde ihr das Geld überweisen und dann einen Schlussstrich ziehen.

Es war ein kalter Winterabend, als Leonie kurz vor Schalterschluss zur Bank ging, um das Geld einzuzahlen und die Überweisung zu tätigen. Als sie das Gebäude wieder verließ, spürte sie einerseits Gewissensruhe, andererseits aber auch Wut über den Verlust der tausend Euro. Grimmig schaute sie zum Himmel hinauf, an dem schon die ersten Sterne funkelten. „Tante Gerda, falls du da oben irgendwo bist, dann hast du hoffentlich gesehen, dass ich alles so gemacht habe, wie du es wolltest.“

Einige Minuten später sah Leonie vor sich auf dem Bürgersteig etwas glänzen. Beim Näherkommen sah sie, dass es zwei nagelneue Ein-Euro-Münzen waren. Weit und breit war niemand zu sehen, der sie verloren haben konnte. Sie bückte sich, um die Geldstücke aufzuheben, und dabei kam ihr plötzlich ein altes Märchen in den Sinn. „Zwei Sterntaler!“, lächelte sie.

Ihr Blick fiel auf eine Losverkaufsstelle auf der anderen Straßenseite, die gerade schließen wollte. Von einem inneren Drang getrieben, rannte sie hin und erstand mit den beiden Sterntalern ein Los.

Sie gewann siebentausend Euro.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Weißehex am 12.03.2019:

Ein sehr schönes Märchen! Und bis zum Schluss war ich gespannt, wie es ausgehen würde.

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