Veröffentlicht: 22.05.2025. Rubrik: Fantastisches
Der Pharao
An einem Tag wie jedem anderen, geschah im Ägyptischen Museum etwas vollkommen Unerwartetes: Mit einem Knall und einem grellen Licht erschien Ramses II., der große Pharao des alten Ägypten, leibhaftig in der modernen Welt. Verwirrt und dennoch majestätisch, stand er inmitten der Museumsbesucher. Ob er oder die Besucher verwirrter waren, ist schwer zu sagen.
Mit erhabenem Gang schritt er durch die Hallen und verließ das Gebäude. Die Menschenmenge, die ihm folgte, wurde von Minute zu Minute größer, genau wie Zahl der Smartphones und Kameras, die auf ihn gerichtet waren.
Zunächst war Ramses von dem, was er erblickte überwältigt. Bei den Hochhäusern, die in seinen Augen Pyramiden für mächtige Herrscher sein mussten, faszinierte ihn die Höhe und dieses glänzend, transparente Material, das er noch nie gesehen hatte. In merkwürdigen Sänften, mit vier Rädern, rasten Menschen an ihm vorbei. Oder waren es Streitwagen? Vergeblich suchte er nach den Pferden oder Sklaven, die diese Fortbewegungsmittel bewegten. Er konnte aber auch keine Waffen entdecken. Wie von Geisterhand bewegten sie sich an ihm vorbei und hinterließen einen merkwürdigen – man könnte sagen stinkenden Geruch. Graue Rauchschwaden und seltsame Geräusche umgaben sie. „Hohepriester können es nicht sein“, dachte Ramses, “dafür sind es viel zu viele. Aber bei Isis, wer sonst darf solche Gefährte benutzen und vor allem: wie funktionieren diese wundersamen Sänften?“
Mit der Zeit empörte ihn die gaffende Schar von Menschen. Niemand fiel auf die Knie. Keiner huldigte ihm den Respekt, den er gewohnt war. Sie starrten ihn ungläubig an und sprachen mit einem Kästchen. Andere hielten diese undefinierbaren Teile in Luft, manche erzeugten kleine Blitze.
Er betrat etwas, was ihm wie ein Tempel erschien. Noch imposanter und noch prächtiger als sein eigenes zu Hause. Im Inneren entdeckte er eine durchsichtige Kabine, die wie von Gottes Hand in die Höhe schwebt. Eine Himmelsbarke? Staunend schaute er sich um und ging wieder nach draußen. Was für ein Lärm. Ein solches Gedränge hatte er noch nie erlebt. Ein junger Mann rempelt ihn an und rief: “Hey alter Mann, mach Platz!“ Ein anderer schrie: „Aus dem Weg, Du Penner.“ Bei allen Göttern und allem, was ihm heilig war: „Was ist ein Penner?“ Wusste denn niemand, mit wem sie es zu tun hatten? Ein solches Benehmen hätte in seiner Zeit ein klares Todesurteil nach sich gezogen.
Von Minute zu Minute wurde Ramses verstimmter und er kam zur Einsicht: „In dieser Welt ist kein Platz für einen Pharaonen.“ Schnellen Schritts machte er sich auf den Weg zurück in das Ägyptische Museum, legte sich in seinen Sarkophag und schloss ein letztes Mal und für immer seine Augen.

