Veröffentlicht: 27.06.2025. Rubrik: Satirisches
Ursula als Schlossführerin
Wie an jedem Arbeitstag besprach sich Ursula mit ihrer Chefin und den Kolleginnen, welche Besuchergruppen an dem Tag durch das Schloss zu führen seien. In den vergangenen Jahren hatte sie eine zunehmende Aversion gegen uninteressierte Gäste einer Pauschalreise und gegen pubertierende Jugendliche entwickelt, weil die am wenigsten Interesse an den Ausführungen hatten. Dieses mangelnde Interesse glichen die beiden Gruppen durch fehlende Disziplin aus, dachte Ursula mit Grauen.
„Ursula, Sie übernehmen heute den Schulausflug. Das sind lauter 15- und 16-Jährige. Die kommen aber erst am Nachmittag. Am Vormittag treffen die Teilnehmer der Busreise aus der Nähe von Darmstadt ein.“
Oh nein, stöhnte sie innerlich. Nicht das! Sie war es leid, aber sie war auf den Job angewiesen. Wenigstens war sie sich darüber klar, dass sie nur noch zwei Jahre bis zur Rente durchhalten musste, dann konnten ihr die ganzen Deppen den Buckel runterrutschen. Aber sie überlegte sich schon, was sie machen würde. Jedenfalls wollte sie nicht die ganzen Standardtexte zu den Räumen und Exponaten abspulen. Bestimmte Ideen hatte sie schon.
Kurz vor 10 Uhr trafen die Teilnehmer der Busreise ein. Oh Gott, wieder ein Ausflug des Jurassic Park, sinnierte sie mit Blick auf das geschätzte Durchschnittsalter von über 70.
„Willkommen auf Schloss Waderstein! Ich begrüße Sie im Namen der Schlossverwaltung recht herzlich. Wir beginnen mit der Führung direkt in der Eingangshalle. Sie sehen gleich gegenüber der Eingangstür das Gemälde von Kunibert dem Kurzen, der im Jahr 1428 den Grundstein für das Schloss im damals vorherrschenden romanischen Stil legte.“ „Entschuldigung“, meinte ein älterer Herr, „damals wurde doch schon im gotischen Stil gebaut!“ Wieder so ein Besserwisser, wahrscheinlich pensionierter Lehrer oder Jurist, dachte Ursula. Jetzt wollte ich mal einen Test machen, schon geht es schief. „Ja natürlich, Sie haben Recht! Der Vorgängerbau war noch im romanischen Stil geplant. Der Bauherr Kunibert II., genannt der Kurze, bestand auf dieser Umsetzung im gotischen Stil.“
In diesem Stil ging es weiter durch etliche Wohnzimmer, Esszimmer, Empfangsräume, Schlafzimmer, Kinderzimmer - - - Immer wieder meldete sich der pensionierte Beamte und wusste es natürlich besser. Innerlich kochte Ursula, durfte aber nicht explodieren. Diese Geduld hatte sie sich in ihrer langen Zeit als Gästeführerin antrainiert. Gerade jetzt war es wieder so weit. „Ich habe aber in einer Beschreibung gelesen, dass dieses Möbelstück schon 1678 gefertigt wurde und nicht wie von Ihnen erwähnt 1679!“
Ursula war kurz vor einem Blutsturz. Möge dieser Kerl von Pest, Krätze und Cholera gleichzeitig befallen werden!
„Mein Herr, gerade die von Ihnen genannte Beschreibung ist leider fehlerhaft. Der Autor hat bei uns für seine falsche Angabe um Entschuldigung gebeten.“
So ging es noch eine halbe Stunde. Endlich war auch diese Führung zu Ende; Ursula stöhnte innerlich auf. „Vielen Dank für die interessante Führung!“, hörte sie von vielen Teilnehmern, die ihr auch einige Eurostücke zusteckten. Nur der Ruhestandsbeamte nicht: „Sie hätten wesentlich besser vorbereitet sein müssen!“
Ursula seufzte auf und dachte, heute Abend schaue ich mir zur Entspannung die Rambo-Trilogie an, und stellte sich vor, dass dabei lauter pensionierte Beamte gemeuchelt werden.
In der Mittagspause hatte Ursula Zeit und Gelegenheit, sich zu entspannen. In den Kolleginnen Anne, Eva und Karin hatte sie verständnisvolle Zuhörerinnen, denn die mussten sich ebenfalls die ganzen unqualifizierten Kommentare von quengelnden Besuchern anhören.
Um 14 Uhr kam der Bus mit den Schülern. Nachdem sie endlich ausgestiegen und sich mit ihren Lehrern versammelt hatten, begann Ursula zunächst damit, ihre Begrüßung abzuspulen, die sie gefühlt schon 347.000-mal aufgesagt hatte. Mit gelangweilten Mienen folgten die Teenager durch die Räume. Jetzt, dachte Ursula, schlägt meine große Stunde. Schluss mit den ewig gleichen Texten und Erläuterungen! Diese blöden Jungen merken das sowieso nicht. Also: Auf zur alternativen Schlossführung!
„Im sogenannten Schwedenzimmer wird daran erinnert, dass im Dreißigjährigen Krieg der damalige Schlossherr Kunibert IX. von den Truppen Gustav Adolfs gefangen genommen wurde. Der schwedische General war aber so entgegenkommend, dass Kunibert als Ergebnis einer Übereinkunft einen Liter Schwedentrunk zu sich nehmen musste, um das Dorf Waderstein vor Plünderung und Brandschatzung zu bewahren. Der arme Kunibert schaffte den ganzen Liter und rettete somit das Dorf, trug aber eine schwere Diarrhoe davon, von der er sich zeitlebens nicht mehr ganz erholte.“
Gerade bei jungen Menschen zeigt sich das Phänomen des exzessiven Fotografierens mit dem Smartphone, wurde sich Ursula bei der Betrachtung der Gruppe Jugendlichen bewusst. Glücklicherweise nützen sich die Möbel und das andere Inventar in den Räumen nicht dadurch ab, schnaufte sie bei sich.
„Finn-Elias, hör´ jetzt bitte auf, so über den Boden zu schlurfen!“, machte sich ein Lehrer bemerkbar. Murrend folgte der Junge. „Leif-Emilio, passe auf, dass du nicht die Möbel berührst!“ So oder so ähnlich machten sich die Begleiter der Klasse immer wieder bemerkbar. Sie konnten aber nicht verhindern, dass Amalia-Beatrice in einem unbewachten Moment ihren ausgelutschten Kaugummi unter einen Louis-XV.-Tisch klebte.
„Wir betreten nun das Star-Wars-Gemach. Es wurde so benannt, weil sich auf Einladung von Erbprinz Kunibert, Sohn von Kunibert XXII., der Hollywood-Produzent und Regisseur George Lucas für einige Tage im Schloss aufhielt. Kuniberts Schwester Adelgunde-Wilhelmine trug zu dieser Zeit ihre langen Haare in zwei seitlichen Zopfknödeln. Das inspirierte George Lucas zum Aussehen von Prinzessin Leia in Star Wars. Es geht noch weiter! Eines abends pfiff der Wind so durch den Kamin, dass dieses Geräusch das Vorbild für das Atmen von Darth Vader lieferte.“
Mehr oder weniger verständnislose Blicke waren die Antwort der meisten Jugendlichen.
Voller Entsetzen beobachtete ein Lehrer beim Gang in den nächsten Raum, dass ein Steinchen unter einem Schuh von Lars-Frederic einen langen, tiefen Kratzer im Parkett verursachte. Aber vielleicht ist es besser, wenn ich nichts sage, überlegte der Lehrer. Dann gibt es auch keine Schadensersatzforderungen.
„Nun kommen wir in das Parade-Zimmer, das ganz im Stil der Fünfzigerjahre eingerichtet ist. Veranlasst wurde dies durch Kunibert XXII., der ein großer Verehrer von Elvis Presley war. Unter Aufbietung beträchtlicher finanzieller Mittel gelang es ihm, nicht nur originale Möbelstücke aus dem Nachlass des Sängers zu erwerben, sondern auch als besonderes Reliquiar – wenn Sie mir dieses Wort erlauben – einen vom großen Meister benutzten Zahnstocher, der in der auf dem Tisch stehenden Schachtel aufbewahrt wird. Ich brauche nicht zu betonen, dass diese Schachtel alarmgesichert ist.“
„In der Schlossküche vermutet man wohl kupferne Töpfe und Pfannen, offenes Feuer und von der Decke hängende Würste und Schinken. Das war hier auch so, bis Kunibert XXI. begann, seine Tüfteleien auf Küchengeräte auszudehnen. Er war begeisterter Bastler elektrischer Geräte. Deswegen sehen Sie zwischen all den antiken Geräten eine moderne Mikrowelle. Diese stellt allerdings nur symbolhaft das Ergebnis seiner Arbeit dar. In seiner letzten Schaffensperiode gelang ihm sogar die Realisierung eines Vorläufers moderner Mikrowellenöfen, dessen Original leider nicht erhalten ist.
Bedauerlicherweise war es sein letztes Projekt, weil er es nämlich bei einem Reparaturversuch versäumte, das Gerät zuvor vom Stromnetz zu trennen. Das endete begreiflicherweise tödlich. Allerdings war er durch dieses Missgeschick der erste Preisträger des Darwin-Awards, der für besonders dämliche, meist zum Tod führende Aktionen verliehen wird.
Zur Ironie der Geschichte gehört, dass seine Witwe Elvira-Luise alle Elektrogeräte aus dem Schloss verbannte, aber dann doch an einem Blitzschlag starb, als sie höchstselbst beim Grillen im Freien Metallgeschirr und -besteck benutzte.“
Zu guter Letzt bewegte sich die Karawane ins Freie – endlich, wie Ursula innerlich aufstöhnte.
„Der Schlossgarten wurde zurzeit des Barock auf Geheiß von Kunibert XI. angelegt. Vorbild war wie bei den meisten Gärten dieser Zeit das Schloss Versailles. Jetzt fragen Sie sich sicherlich, warum so wenig vom Barockgarten erhalten geblieben ist. Das ist dem Luftfahrtenthusiasten Kunibert XIX. geschuldet. Als er Ende des 19. Jahrhunderts von Flugversuchen in Deutschland hörte, ließ er weite Teile des Gartens abtragen, um ihn zum Flugplatz umzufunktionieren. Bevor jedoch die Arbeiten abgeschlossen waren, ist der Flugpionier Otto Lilienthal, der den Platz hätte nutzen sollen, tödlich abgestürzt. Das beendete auch das Interesse des Schlossherrn an Flugversuchen. So verpasste Schloss Waderstein seinen Platz in der Luftfahrtgeschichte. Chronischer Geldmangel der Schlossherren beendete damals wie heute die Wiederanlage des Gartens in alter Pracht.“
Nachdem sich die Jugendlichen mehr oder weniger gelangweilt gegenseitig anschauten, einige aber auch interessierte Fragen stellten, äußerte die sich innerlich allmählich entspannende Ursula: „Liebe Gäste! Damit sind wir am Ende der Führung angelangt. Ich darf Sie nun zum Museumsshop führen, wo Sie Kataloge, Tassen, T-Shirts, Elvis-Zahnstocher und anderes erwerben können. Ich wünsche Ihnen noch eine gute Reise und danke Ihnen im Namen der Schlossverwaltung für Ihren Besuch.“
Amen, fügte sie innerlich hinzu. Und zur Entspannung freute sie sich schon auf Rambo.

