Veröffentlicht: 29.08.2025. Rubrik: Unsortiert
Dominosteine
Die Umrisse des Zimmers verschwammen. Die Geräusche der lebenserhaltenden Geräte, die ein verhaltenes, rhythmisches Geräusch verbreiteten, wurden leiser. Selbst die stützende Funktion der Bettunterlage unter ihm nahm ab. Der Physiker Lorenz Berger hatte das Gefühl, sich auf einer sanft zurückrollenden Welle in Richtung Meer zu befinden. Er fühlte sich in diesem Zustand seiner unterschwelligen Wahrnehmung zufolge wie in einer Art Halle, in der sein Blick aufgrund des schwachen Lichts keinen Anhaltspunkt hatte. Es handelte sich nicht um einen geschlossenen Raum - Dach und Wände fehlten. Er sah auf eine große Fläche, auf der er eine unendliche Zahl von aufgereihten Dominosteinen bemerkte. Schwarz glänzende Versatzstücke, wohlgeordnet und von hellen Linien durchzogen, standen in exakter Formation aufrecht nebeneinander, als würden sie auf ein Zeichen warten. Und dann fiel der erste Stein.
In Lorenz' Gedächtnis erschien das Antlitz eines Jungen, der mit einem Schraubendreher in der Hand auf ein sorgfältig zerlegtes Radio blickte - das Resultat seiner frühen Neugier. Das Geräusch der Steine wurde schneller und synchronisierte sich mit seinem Herzschlag. Weitere Steine fielen, sie neigten sich in einem gleichmäßigen Rhythmus. Dann sah er sich als jungen Erwachsenen in einem Hörsaal, hinter seiner Stirn war die angestrengte Konzentration zu erahnen; sein ehrgeiziger Vortrag, gestützt auf ausformulierte Daten, floss in Richtung Publikum. Er genoss es: die Aura der Rednerbühne, das dezente Lichtspiel und die Anerkennung durch den Beifall nach seinem ersten öffentlichen Auftritt. Dann fielen die Steine schneller, und die Abstände zwischen ihnen waren kaum zu erkennen. Der junge Wissenschaftler fand sich in einem Durcheinander aus Glanz und Anstrengung wieder. Er kämpfte sich durch schlaflose Nächte, an verschiedenen Orten, immer in Räumen voller Zuhörer. Und es entstand ein langsamerer Rhythmus, als ob die Steinreihe eine Atempause einlegte. Dann bemerkte er in der Reihe einen Stein, der heller war als alle anderen - dieser blieb stehen, als wolle er nicht umfallen. Lorenz kam näher. Und er blickte auf die See: Der Cookinseln-Archipel in einem blauen Meer, das wie eine Unendlichkeit wirkt. Sie stand dort am Ufer: Eine junge, einheimische Frau barfuß im Sand, ihre Haare schimmerten im Sonnenlicht und ihre Augen leuchteten. Der Name Anahera kam ihm bekannt vor. Und er vernahm ihr Lachen deutlich, das im sanften Wind klang wie leises Aneinanderschlagen von Muschelschalen. In dieser Umgebung hatte die Zeit einen anderen Verlauf.
Die junge Frau hielt ihm ihre Hand hin, und ihm wurde klar: Dies war kein Traum, es war konkret eine Erinnerung an eine glückliche Zeit. Doch dann bemerkte er den Brief, den er hielt: ein leichtes, für ihn aber schweres Stück Papier. Ein helles Blatt, der Inhalt wie aus schwerem Stein: Ein verlockenden Aufruf, in die alte Heimat zurückzukehren, zu wissenschaftlicher Anerkennung und Ruhm - den Ruf auf eine Bühne, die wie für ihn gemacht war. Seine Finger schlossen sich, zunächst zögerlich, und dann entschlossen, um das beigelegte Flugticket. Und dann fiel auch dieser Stein. Die nachfolgende Reihe zog ihn mit sich fort – in ein Leben voller Anerkennung, Forschung, Vorträge und Applaus im strahlenden Licht der Öffentlichkeit. Und auch das Private spielte eine Rolle: Die Ehe mit einer Kollegin begann voller Verlangen, entwickelte sich später jedoch zur Routine und Kälte. Die Ausstrahlung dieser Verbindung löste sich auf wie ein Dunstschleier, und das Licht blendete nur noch.
Und immer weiter fielen die Steine, immer schneller, bis er sie kaum noch auseinanderhalten konnte. Er bäumte sich auf, wollte die fallende Reihe anhalten, und sah das, was eigentlich unmöglich war: Der Weg teilte sich, und es eröffneten sich zwei Optionen, die zu zwei verschiedenen Lebenswegen führten. Auf dem einen: Sein berufliches Leben; voller Glanz und Bedeutung, aber auch mit Belastungen verbunden. Die andere Möglichkeit: ein leuchtend farbenfroher Weg. Dort lagen die Steine lockerer und weiter auseinander, als ob sie kein Gewicht hätten, sondern Spielzeug sorgloser Menschen wären. Lorenz vernahm unbeschwertes Lachen und empathische Stimmen. Er trat einen Schritt näher an die Reihe heran. Dort sah er sie, Anahera, mit einladend ausgestreckten Armen – eingebettet in eine zeitlose Aura. Und er folgte ihrer Einladung, seiner Sehnsucht.
Jetzt verschwammen die Bilder. Hat er sich in einem Sterbenstraum der Täuschung hingegeben? Handelte es sich um ein letztes Aufbäumen seiner Wahrnehmungen? Oder war es die Wahrheit, die ihn weiterzog? Die Dominosteine verwischten nach und nach, sie zerfielen. Er nahm einen tiefen Atemzug. Die Geräusche der Geräte neben seinem Bett verstummten. Jede scharfe Kontur verschwand. Er ging barfuß auf das Meer zu.

